Verpasste Chancen für die Levante

Solche Bilder gingen um die Welt: Massenprotest im April 2011 in Sanaa / Jemen. Lizenz: CC BY-SA 3.0

Vor zehn Jahren führte die Selbstverbrennung eines tunesischen Gemüsehändlers zu den Aufständen in der arabischen Welt. Westliche Interessenpolitik änderte dort nichts zum Guten.

Zehn Jahre nach den Aufständen in der arabischen Welt macht der Westen Korruption und Vetternwirtschaft autoritärer Herrscher für die schlechten Lebensbedingungen verantwortlich. Aus Sicht der Region ist es vor allem die neokoloniale westliche Interessenpolitik, die wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilität für die arabische Bevölkerung verhindert. Während der Westen - an der Seite Israels und der arabischen Golfmonarchien - auf Konfrontation gegen regionale Konzepte setzt, bieten China und Russland Kooperation an.

Verzweiflungstat als Auslöser

Als sich im Dezember 2010 in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi selbst angezündet hatte, richteten sich Kameras aus aller Welt auf das Land. Politiker in Europa und den USA sowie deren Verbündete am Golf machten sich zu wortgewaltigen Unterstützern einer beginnenden Protestbewegung, die das Leben in der arabischen Welt veränderte.

Drei Wochen später war Mohamed Bouazizi gestorben und seine Familie hatte ihren Ernährer verloren. Sein Tod am 4. Januar 2011 löste landesweite Proteste aus. Nachhaltiger Druck von langjährigen Verbündeten in Europa, den USA und am Golf erzwangen den Rücktritt des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali, der 27 Jahre lang das Land regiert hatte. Der Gemüsehändler in Sidi Bouzid war an Problemen mit der örtlichen Polizeibehörde und der Verwaltung so sehr verzweifelt, dass er keinen anderen Ausweg sah, als sich das Leben zu nehmen.

Nichts hat sich seither für die rund 436 Millionen Menschen in der arabischen Welt zum Guten geändert. Tatsächlich ist vieles schlechter geworden. Kriege im Jemen und in Libyen, Besatzung und Sanktionen in Syrien, Wirtschaftskrisen fast überall, Rüstungswettlauf am arabischen Golf, der unter erheblichem Druck von den USA in den letzten 20 Jahren im Rahmen des "Krieges gegen den Terror" in eine Frontstellung zum Iran gebracht wurde.

Mehr als die Hälfte aller Geflohenen

Die weltweit wichtigsten Meerengen der Region - die Straße von Hormuz, Bab al Mandab und der Suezkanal - gehören zu den am meisten militarisierten Gebieten der Welt. Ende 2019 stammten 55 Prozent der insgesamt 79,5 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht waren, aus den arabischen Ländern - darunter allein 5,6 Millionen Palästinenser. Darüber hinaus hatte die arabische Region mehr als 36 Prozent der weltweit Geflüchteten aufgenommen - 28,6 Millionen Menschen.

Heute nehmen sich Menschen im Libanon und in Syrien das Leben, weil Wirtschaftskrise und Sanktionen ihnen und ihren Familien eine menschenwürdige Existenz unmöglich machen. Doch anders als 2010 in Tunesien, sind heute keine Kameras auf die Verzweiflung und die Sorgen dieser Menschen gerichtet. Keine Politiker halten große Reden, keine Bilder, keine Reportagen vermitteln das Leid. Außer einseitigen Analysen und Darstellungen, die nur die eigene Sichtweise bestätigen, geben hiesige Medien keinen Aufschluss darüber, warum der große Aufbruch in den arabischen Staaten scheiterte. Die Region werde absichtlich an ihrer Entwicklung gehindert, schreibt der libanesische Ökonom Ali Kadri, der an der Nationalen Universität von Singapur (NUS) lehrt.

Das Recht auf Entwicklung von Westasien - der arabischen Welt - werde durch die Akkumulation, durch Zerstörung, die Produktion von Abfall und Militarismus konterkariert. Krieg und die strategische Kontrolle über das Öl sind für Kadri Produktionsbedingungen, die den arabischen Ländern von der stärksten Macht der Region - Israel - aufgezwungen werden. In seinem Buch "The Cordon Sanitaire" (auf Deutsch sinngemäß "Der Grenzposten", Palgrave Macmillan, 2018) heißt es, die arabische Welt habe in den letzten vier Jahrzehnten intensive Kriege durchlebt. Deshalb werde die Wirtschaft von der Rüstungsindustrie und der "strategischen Kontrolle des Öls" bestimmt. Israel als vorherrschende und expansive Macht in der arabischen Region füttere die Kriegsindustrie und integriere die Region in einen militaristischen Akkumulationsprozess. Der "Cordon Sanitaire" werde dabei wesentlich durch die reichen Staaten in Ostasien und in der arabischen Region gebildet, schreibt Kadri: "Reiche Staaten in beiden Regionen sind eng mit dem US-Imperialismus verbündet. Besonders die entwickelten asiatischen Länder dienen als Teil eines "Cordon Sanitaire, der das Vorrücken Chinas begrenzt".

Die Guten und die anderen

Das politische Vakuum, das durch Rücktritte oder Ermordung langjähriger Präsidenten nach 2011 entstanden war, wurde in Tunesien und Ägypten zunächst durch die sunnitische Muslimbruderschaft gefüllt, die wegen ihrer dogmatisch-religiösen Ausrichtung und ihrer Geschichte bewaffneter Aufstände in den meisten arabischen Ländern verboten ist. Während die Muslimbruderschaft sich in Tunesien halten konnte, wurde in Ägypten die Regierung der ägyptischen Muslimbrüder unter Mohamed Mursi vom heutigen Präsidenten und Feldmarschall Abdel Fatah El-Sisi von der Macht geputscht.

Die Lage in Tunesien heute ist weitgehend stabil, weil sich dort militärisch die USA - als größter Waffenlieferant - und wirtschaftlich die europäischen Interessen von Frankreich, Italien und Deutschland durchsetzen konnten. Die Bundesregierung sieht in Tunesien das "bedeutendste Zielland der Transformationspartnerschaft (...) mit der arabischen Welt zur Unterstützung von Demokratisierungs- und Reformprozessen."

Deutsche Interessen in der Region

Zwischen Berlin und Tunis findet ein "regelmäßiger politischer Dialog auf Staatssekretärsebene" statt. Die sechs politischen Parteienstiftungen aus Deutschland arbeiten in Tunesien, wo sie vor allem im Sinne der deutschen Außenpolitik Demokratisierungs-, Reform- und Transformationsprojekte fördern. Deutschland ist der drittgrößte Handelspartner und ausländische Investor in Tunesien. 260 deutsche Unternehmen haben in dem Land demnach mehr als 350 Millionen Euro investiert und 60.000 Arbeitsplätze für Tunesier geschaffen.

Ägypten wird trotz scharfer Kritik an der Machtübernahme durch den Militär Al-Sisi und eine schlechte menschenrechtliche Bilanz weiterhin von den USA, Europa und Saudi-Arabien unterstützt. Die Bedeutung Ägyptens für die Absicherung Israels, nicht nur durch den Friedensvertrag von 1979, zeigt sich seitens der USA in der jährlichen Militärhilfe von 1,3 Milliarden US-Dollar aus Gründen der "nationalen Sicherheit". Für Europa gelten die Länder im Süden und Osten des Mittelmeerraums, also auch Ägypten, als "Südliche Nachbarschaftsregion", die politisch, wirtschaftlich und militärisch besondere Aufmerksamkeit, Mittel und Zuwendung verlangt. In einem mehr als 300 Seiten starken "Euro-Mittelmeer-Abkommen" haben die Europäischen Mitgliedsstaaten und Ägypten 2016 eine umfangreiche Zusammenarbeit beschlossen.

Die Unterstützung der Regierung Al-Sisi durch das Saudische Königreich steht dieser engen Zusammenarbeit nicht entgegen. Für die Bundesregierung gilt Saudi-Arabien immer noch als "Stabilitätsanker" und ist von "großer strategischer Bedeutung" in der Region, wie es Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (beide CDU) laut Frankfurter Rundschau im Juli 2011 formulierten.

Fortwährender Krieg

Anders verlief die Entwicklung des so genannten "Arabischen Frühlings" in Libyen und im Jemen. In Libyen liefern sich seit den französischen Angriffen am 19. März 2011, der folgenden Nato-Intervention und Ermordung Muammar al-Ghaddafis bis heute die unterschiedlichsten Milizen Machtkämpfe um die Kontrolle von Ölressourcen und Häfen. Regional waren zunächst die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar involviert, mittlerweile spielt die Türkei eine zentrale Rolle bei der Verteidigung der von der UNO anerkannten Übergangsregierung in Tripolis. Russland wiederum ist auf der Seite von General Khalifa Haftar militärisch involviert. Deutschland bemüht sich um Vermittlung und organisierte im Frühjahr 2020 eine "Friedenskonferenz". Doch der Krieg geht weiter.

Im Jemen erstarkte nach 2011 zunächst die Houthi-Bewegung, die Jahrzehntelang politisch und sozial unterdrückt worden war Eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung setzte den damals amtierenden Präsidenten Ali Abdullah Saleh unter Druck, der 2012 die Macht an seinen Stellvertreter Abed Rabbo Mansur Hadi übergab. Das Land kam dennoch nicht zur Ruhe. Der Süden und Osten entlang der Küste zum Golf von Aden wurde zunächst von einer Gruppe "Al Qaida auf der arabischen Halbinsel" kontrolliert. Laut der Enthüllungsplattform Wikileaks sollen die USA dort bereits 2009 mit Zustimmung des damaligen Präsidenten Saleh mindestens zwei Luftangriffe auf Al Qaida-Stellungen geflogen haben.

2015 griff eine von Saudi-Arabien geführte Allianz die Houthi-Bewegung an und unterstützte Mansur Hadi, der in Riad im politischen Exil lebte. Fünf Jahre dauert der Krieg im "Armenhaus" der arabischen Welt heute an. Bewaffnete Dschihadisten, die von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt werden, liefern sich einen Machtkampf mit der vom saudischen Königshaus unterstützten und von der UNO anerkannten Regierung des Abed Rabbo Mansur Hadi. Saudi-Arabien kämpft gegen die Houthi Bewegung. Unterstützung erhielt die Monarchie nun zusätzlich durch den scheidenden US-Außenminister Mike Pompeo. Er will die Bewegung der Houthis, die sich auch Ansarallah nennt, als "ausländische Terrororganisation" listen.

UN-Organisationen könnten nicht mehr arbeiten

Damit verbunden wäre auch, dass internationale und UN-Organisationen in den Gebieten, die von den Houthis kontrolliert und von Saudi-Arabien angegriffen werden, nicht mehr arbeiten könnten. Jordanien, die Türkei und Irak wurden im Krieg gegen Syrien zum militärischen Aufmarschgebiet ausländischer Kämpfer und erhielten Waffenlieferungen. Insbesondere der Irak und Jordanien, wie auch der Libanon werden bis heute durch den Krieg und die Auswirkungen der einseitigen US-Sanktionen gegen Syrien, das "Caesar-Gesetz" wirtschaftlich stranguliert.

Syrien, das sich mit Hilfe der libanesischen Hisbollah, Russlands und des Iran gegen die vom Ausland bewaffneten und finanzierten Dschihadisten zur Wehr setzte, wird durch die einseitigen EU- und US-Sanktionen am Wiederaufbau gehindert. Die natürlichen Ressourcen des Landes - Wasser, Weizen, Baumwolle, Öl und Gas - liegen nördlich und östlich des Euphrat und werden von einer kurdisch geführten Selbstverwaltung mit Unterstützung der US-Streitkräfte kontrolliert und dem Rest des Landes vorenthalten.

Nach Angaben des scheidenden US-Sonderbeauftragten für Syrien James Jeffrey soll das so bleiben, bis eine politische Lösung in Syrien und der seit zehn Jahren verfolgte "Regime Change" erreicht sind.

Stoff zum Nachdenken

Trotz Kriegen und Konflikten ist die Bevölkerungszahl in der arabischen Welt weiter gestiegen. 2010 lebten in der Region rund 300 Millionen Menschen. Ende 2019 ist ihre Zahl auf 436 Millionen gestiegen, wie es im UN-Entwicklungsbericht für die arabische Welt zu lesen ist.

Die UNDP führt das auf eine geringere Kindersterblichkeit, bessere medizinische Versorgung, verlängerte Lebenserwartung und eine steigende Geburtenrate zurück. 80 Prozent der gesamten arabischen Bevölkerung leben demnach in nur acht Ländern: Ägypten, Algerien, Sudan, Irak, Marokko, Saudi Arabien, Jemen und Syrien. Ein Viertel dieser Menschen ist jung, zwischen zehn und 24 Jahren. Gleichwohl ist die soziale Schere zwischen den Ländern enorm. Während die Lebensbedingungen in den Golfstaaten - vor allem Bahrain, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten - als besonders gut eingestuft werden, leben die Menschen im Sudan und in Somalia zumeist weit unter der Armutsgrenze (2 US-Dollar/Tag).

Die hohe Arbeitslosigkeit trotz oft guter beruflicher Ausbildung der jungen Generation führt zu starken Wanderungsbewegungen innerhalb der Länder. Wer kann, wandert aus. Über die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten für die Jugend wurde in den UNDP-Berichten seit den Nullerjahren berichtet. Und obwohl auf den Arabischen Gipfeln und zahlreichen Sondertreffen dieses Problem mehr als einmal benannt worden war, wurde nichts unternommen.

Nicht nur die autoritären Königshäuser und "Langzeitherrscher" taten nichts, auch die westlichen Partner in Europa und den USA waren - bis auf wenige zumeist private Schulen und Universitäten - mehr an der militärischen Zusammenarbeit mit ihren Bündnispartnern interessiert als an der wirtschaftlichen Entwicklung und Stabilisierung der Region. Sichere Einkunftsquelle bieten derweil die Kriege der Region den arbeitslosen Männern, die sich bis heute als Soldaten oder Söldner verdingen. Der langjährige Nahostkorrespondent Ulrich Tilgner beschreibt in seinem Buch "Krieg im Orient - Das Scheitern des Westens", dass schon während des Afghanistan-Krieges in den 1990er Jahren - gegen die Sowjetunion - junge Araber von Saudi-Arabien in einem CIA-Programm über Pakistan in den Krieg geschleust wurden. Kriegswirtschaft statt wirtschaftliche Entwicklung, wie Ali Kadri beschreibt.

Kooperation statt Konfrontation

Anders hätte es kommen können, wenn der Irak und Syrien nicht zerstört worden wären. Die an der Europäischen Wirtschaftsunion orientierte Fünf-Meeres-Vision - mit dem die Länder zwischen dem Mittelmeer, dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, zwischen dem Roten Meer und dem Persischen Golf durch Handel, Technologietransfer, Infrastrukturmaßnahmen zusammengeführt werden sollten, wurde verhindert. Europa war das Vorbild, das es nach zwei großen Kriegen im 20. Jahrhundert geschafft hatte, sich durch Handel und Austausch zu versöhnen.

Schon 1999 hatte Baschar al-Assad über die Idee einer "Nahost-Union" gesprochen, bei der Syrien sich als Drehscheibe für den Transport von Öl und Gas, von Waren aller Art, von Menschen und Ideen anbot. Nach dem Motto "Wandel durch Handel" sollten die Menschen vom Arabischen Golf bis nach Europa verbunden werden. Ein Wirtschaftsblock sollte entstehen, der international nicht hätte ignoriert und nicht ohne weiteres militärisch hätte angegriffen werden können, erläuterte der damals stellvertretende Außenminister Faisal Mekdad 2010 im Gespräch mit der Autorin in Damaskus.

Die Region sei empfindlich und nur die Zusammenarbeit könne Frieden voranbringen, so Mekdad: "Wir brauchen uns gegenseitig." Syrien, das damals nach Einschätzung der Welthandelsorganisation auf dem Weg war, die fünftstärkste Ökonomie der Region zu werden, schien eine gute Zukunft vor sich zu haben.

Eine prosperierende "Nahost-Union" hätte allen Beteiligten genutzt und die politischen Karten in der Levante grundsätzlich neu gemischt. Wer hätte dieses Ziel nicht teilen wollen?

Über die Unruhen und Konflikte in der arabischen Welt zu sprechen bedeutet auch, über die Fehler und verpassten Chancen zu sprechen, an denen das Vorgehen Europas, der USA und ihrer Verbündeten in der Region, einschließlich Israel erheblichen Anteil haben. Während der Westen weiter an der Konfrontationsschraube dreht, Militarisierung anheizt und den souveränen Staaten in der Region vorschreiben will, wie sie sich verhalten sollen, orientieren sich Russland und China am Gedanken der Kooperation und des Völkerrechts. Dabei haben sie die UN-Charta auf ihrer Seite, die mit den Worten beginnt: "Die Völker der Vereinten Nationen - fest entschlossen (...) als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, (…) um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern."