Das große Amri-Handy-SIM-Karten-Rätsel

Sattelzug, mit dem Anis Amri den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt verübt haben soll. Bild: Emilio Esbardo / CC BY-SA 4.0

Obwohl das Bundeskriminalamt dem Untersuchungsausschuss des Bundestags nach wie vor viele Fragen nicht beantworten kann, hält es dogmatisch an seiner Täterversion vom Breitscheidplatz fest

Handytelefone, die am Tatort zurückgelassen wurden, ohne SIM-Karte oder mit einer SIM-Karte, die nicht benutzt wurde. - Ein Täterhandy, das außen im Tat-LKW steckte. - Fotos auf einem Handy, die nach dem Anschlag gemacht wurden und deren Herkunft nicht klar ist. - SIM-Karten, deren Nutzer man nicht kennt. - Ein Mobiltelefon des angeblichen Attentäters, das nach seinem Tod nicht gefunden worden sein soll (Amris Handys und SIM-Karten).

Ein abenteuerlicher Ermittlungsbefund zum Tatgeschehen vom Berliner Breitscheidplatz. Vor allem: Er passt nicht mit der simplen Theorie vom Alleintäter zusammen, der sich obendrein zu der Tat bekannt haben soll. Ein solcher müsste nichts verschleiern. Das obskure Handy-SIM-Karten-Wirrwarr legt eher das Gegenteil nahe: Steckt hinter dem Attentat ein größeres Szenario, mehr Tatbeteiligte und eine komplexe Tat-Inszenierung, die nicht entdeckt werden sollte?

Der Fall ist nicht abgeschlossen. Das BKA ist gezwungen, immer neue Nachermittlungen vorzunehmen. Noch im Oktober 2020 zum Beispiel zu den ungeklärten Fragen der diversen Telekommunikationsmittel des oder der Täter. Die Ergebnisse, die zwei BKA-Ermittler jetzt dem Untersuchungsausschuss des Bundestags präsentierten, waren einerseits dürftig, andererseits aber passen sie eher zu einer Mehr-Täter-Theorie als zu der vom Einzeltäter Amri.

Das Knäuel und der Knochen

Nähern wir uns dem Knäuel: Im und am Tat-LKW wurden zwei Mobiltelefone des angeblichen Täters Anis Amri gefunden. In der Fahrerkabine lag sein rotes Klapphandy der Marke Samsung, das Amri schon jahrelang benutzte und mit dem er zum Beispiel auch mit seiner Familie in Tunesien telefonierte. Das Gerät war älteren Jahrgangs und nicht internetfähig. Nennen wir es im Interesse der besseren Unterscheidbarkeit, so wie es auch die BKA-Techniker tun: "Knochen". Dieser Samsung-"Knochen" war zerbrochen und mit Glasmehl besät. Das Gerät muss beim Unfall also im Fahrzeug gewesen sein.

Das Besondere: In dem "Knochen" steckte keine SIM-Karte, man konnte nicht mit ihm telefonieren. Er hatte damit keinen praktischen Nutzen, möglicherweise aber einen anderen Nutzen, weil er auf seinen Besitzer Amri hinweist.

Die reguläre SIM-Karte, die in dem "Knochen" benutzt wurde, hatte die Rufnummer mit den Endziffern -5528. Mit dieser Rufnummer wurde letztmalig am 18. Dezember 2016 um 20:30 Uhr, also am Vorabend des Anschlags, telefoniert. Zu diesem Zeitpunkt war Amri wahrscheinlich mit Bilel Ben Ammar zusammen. Ab 21 Uhr am 18. Dezember hielten sie sich in einem Restaurant in Berlin-Wedding auf, wo sie noch andere Kontaktpersonen trafen.

Festgestellt wurde, dass die SIM-Karte mit der -5528er Rufnummer am Tattag, dem 19.Dezember, zwischen 16:46 Uhr und dem Anschlag um 20:02 Uhr aus dem "Knochen" herausgenommen wurde. Dass sie der Täter erst nach den Kollisionen auf dem Breitscheidplatz im LKW-Cockpit und vor Verlassen des Fahrzeugs noch schnell und umständlich herausgefingert hat, ist unwahrscheinlich und das verraten auch keine entsprechenden Spuren am Gerät.

Warum nahm Amri die SIM-Karte aus seinem Telefon? Und wo verblieb sie? Denn gefunden wurde sie nicht.

Sie muss in Berlin geblieben sein, als Amri die Stadt verließ. Festgestellt wurde nämlich, dass die -5528er Rufnummer zwei Tage später, am 21. Dezember 2016, um 17:30 Uhr im Bereich des Berliner Ku'damms eine "Netzaktivität" entfaltete. Wo genau sich die SIM-Karte befand, konnte nicht geortet werden. Der angebliche Besitzer Amri war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg von Amsterdam nach Brüssel.

Dass die -5528er Rufnummer Amri zugeordnet wurde, erfuhr das BKA übrigens vom Bundesnachrichtendienst (BND), der es wiederum von einem ausländischen Nachrichtendienst wusste. Von welchem, erfährt man nicht.

Das zweite Mobiltelefon, ein internetfähiges Smartphone der Marke HTC, steckte in einem Loch der Frontkarosserie des LKW. Es gehörte ebenfalls Amri. Allein der Fundort des Geräts gibt den Ermittlern bis heute Rätsel auf. Sie sind sicher, dass es nicht durch den Aufprall dorthin gefallen sein kann. Es muss jemand an der Stelle abgelegt haben. Nur wer?

Die Ermittler schließen den Fahrer, für sie Amri, aus. Sie mutmaßen, dass das HTC-Handy ebenfalls im Fahrerhaus lag und herausgefallen ist, als der tote polnische Speditionsfahrer Lukasz Urban aus der Kabine geborgen wurde. Dann hätte jemand das Handy in jenem Karosserieloch abgelegt. Eine gewagte Hypothese. Auf dem Breitscheidplatz lagen mehrere Handys von Opfern und Verletzten, die niemand irgendwo abgelegt hat.

Bleibt die Möglichkeit, dass ein Tatbeteiligter das Handy dort plazierte, wo es noch in der Nacht auf den 20. Dezember 2016 gefunden wurde. Der LKW stand bis etwa 11 Uhr am nächsten Vormittag auf dem Breitscheidplatz, ehe er abtransportiert wurde.

Das HTC-Handy

In dem HTC-Handy steckte eine SIM-Karte des Providers Telefonica mit der Rufnummer und den Endziffern -936. Die SIM-Karte, eine Prepaidkarte, war am 15. Dezember 2016 gekauft und installiert worden, zusammen mit einem Datenvolumen von 5 Gigabyte (GB). Danach wurde die Rufnummer der SIM-Karte nicht mehr benutzt.

Dem HTC-Handy kommt für die Ermittler bei der Anfahrt des LKW zum Tatort Breitscheidplatz eine besondere Bedeutung zu. Mit ihm soll der Fahrer, angeblich Amri, mit einer Person des IS (Islamischen Staates) kommuniziert haben. Darunter waren drei Sprachnachrichten, die sich laut BKA noch physisch auf dem Gerät befinden und abspielbar sind.

Die Kommunikation lief über den Messengerdienst Telegram. Der Telegram-Account war am 18. Dezember 2016 um 16:58 Uhr aktiviert worden. Kurz danach wurde der entsprechende Telegram-PIN-Code per SMS an die Rufnummer -5528 von Amris Klapphandy-Knochen geschickt. Dadurch soll Amri Zugriff auf den Telegram-Account gehabt haben.

Unklar war bisher, über welchen Weg am 19. Dezember die Gesprächsverbindung zwischen dem HTC-Nutzer und dem IS-Mann hergestellt wurde. Die eingelegte SIM-Karte mit der Rufnummer -936 wurde dazu nicht verwendet. Das BKA erklärte jetzt, die beiden Personen hätten nicht über WLAN-Netze oder einen spezifischen Hotspot, beispielsweise des LKW, kommuniziert, sondern über eine eigene Internetverbindung. Über welchen Weg genau, sei aber nicht mehr feststellbar.

Auch, ob dafür die 5 GB-Flat verbraucht wurde, können die BKA-Techniker nicht sagen, weil das Gerät bei der Untersuchung zerstört wurde.

An jenem 19. Dezember 2016 war zunächst um 19:14 Uhr sämtliche Kommunikation auf dem HTC-Handy gelöscht worden, ehe um 19:16 Uhr der Kontakt zu jenem IS-Mann neu hergestellt wurde. Das war eine Viertelstunde, bevor der LKW gekapert wurde. Warum?

Anhand der Google-Cloud-Geodaten konnten die Ermittler rückwirkend feststellen, dass das HTC-Handy zwischen 19:30 Uhr und 20:00 Uhr denselben Weg bis zum Breitscheidplatz zurücklegte wie der LKW. Ein Beweis, dass das Gerät ausschließlich im LKW lag und nicht unter Umständen in einem Fahrzeug vor oder hinter dem LKW benutzt wurde, ist das allerdings nicht.

Mit dem HTC-Handy bewegte sich auch die eingelegte SIM-Karte der Firma Telefonica auf jener LKW-Strecke durch Berlin mit. Doch darüber sollen, so die BKA-Ermittler jetzt gegenüber dem Untersuchungsausschuss überraschend, keinerlei Daten vorliegen, also weder Verbindungsdaten noch Bewegungs- und Standortdaten.

Auch die Verkehrsdaten will das BKA beim Betreiber Telefonica damals sofort angefordert haben. Warum sie nicht vorliegen, kann die zentrale Ermittlungsinstanz nicht erklären. Nach vier Jahren sei nicht mehr rekonstruierbar, wo die Daten geblieben sind. Das sei zwar "misslich", aber ein "Einzelfall".