Deplatforming und eine Charta der digitalen Redefreiheit

Ist Meinungsfreiheit in Sozialen Netzwerken eine Illusion? (Teil 1)

Als am 6. Januar 2021 ein Mob das US-Kapitol stürmte, brachten die Umstürzler ihre Handys mit. Das nominelle Ziel war es, die offizielle Bestätigung der Wahl des nächsten US-Präsidenten zu verhindern, doch bald wurde klar: Vorrangig war ein Großteil der Randalierer daran interessiert, ein sozial-mediales Ereignis zu kreieren. Anders sind die strafrechtlich selbstkompromittierenden Selfies der Eindringlinge in den Büros der Abgeordneten, im Sitzungssaal oder sogar beim Plündern des Gebäudes nicht zu erklären.

Auch die clowneske Aufmachung einiger der Täter deutet auf eine bewusste Selbstinszenierung hin. Als Antithese zu Gil-Scott Herons Liedtext war der kümmerliche Coup-Versuch der Anhänger eines Reality-TV-Stars in erster Linie ein Show-Ereignis.

Es verfehlte seine Wirkung nicht, wenn auch vermutlich anders als erhofft. Die Antwort der großen sozialen Netzwerke war prompt: Sie sperrten die Accounts des nun ehemaligen US-Präsidenten, dem sie Anstiftung zum Umsturz unterstellten, entfernten Tausende von Accounts vermeintlicher Sympathisanten aus der QAnon-Szene, und schließlich wurde sogar das Netzwerk Parler zuerst aus den iPhone- und Android-App-Stores entfernt, dann Server von Amazon gekündigt.

Diese Schritte waren darauf ausgelegt, weitere Angriffe zu erschweren, aber sie trafen die Maga-Bewegung an einem neuralgischen Punkt: Ihrer Fähigkeit, durch das Teilen von echten oder gefakten News eine gemeinsame Realität bzw. ein gemeinsames Weltbild zu schaffen. Bisher konnte sie sich noch nicht auf einem alternativen Netzwerk wie Gab oder 8kun organisieren.

Als Reaktion darauf protestierten konservative Politiker, Medien und Aktivisten gegen eine vermeintliche Einschränkung der Redefreiheit. Auch viele linksgerichtete Kommentatoren hielten den Schritt der großen Tech-Unternehmen für mehr als fragwürdig. Die Diskussion über die Anwendbarkeit des eigentlich staatlich orientierten Konzepts der Meinungs-, Informations- und Redefreiheit auf die privaten Unternehmen Facebook, Apple, Google, Twitter und Amazon krankt dabei an einer fehlenden Differenzierung.

Denn nicht jede Maßnahme zur Unterdrückung bestimmter Inhalte oder Anbieter ist gleich. Ein Blick auf verschiedene Szenarien des Deplatformings und verwandter Blocks illustriert dies:

Shadowban, Block und Löschung: Eskalation der Knebelung

1. Totschweigen in den sozialen Medien

Facebook, Youtube, Instagram und Twitter unterdrücken inzwischen regelmäßig anstößige Inhalte. Dabei sind die entsprechenden Posts noch vorhanden, werden aber in Suchen oder in den Vorschlägen nicht mehr angezeigt. Beispiele sind Videos von Impfgegnern oder rechtsradikale Inhalte. Oft, aber nicht immer, werden diese Maßnahmen mit dem Verstoß gegen Nutzungsrichtlinien begründet.

2. Verbannen aus den sozialen Medien

Gerade im Fall von Aufrufen zu Gewalt und Hass durch rechtsradikale Accounts haben sich Facebook und andere soziale Netzwerke schon vor den Causae Trump und QAnon zur Löschung diverser Accounts entschlossen. Alex Jones’ Blog Infowars und zahlreiche polarisierende User des Netzwerks können hier als Beispiel dienen. Auch hier liegen meist Verstöße gegen Nutzungsrichtlinien zugrunde.

3. Stilllegen webbasierter Finanzierungsquellen

Im Falle von Infowars oder Impfgegnern setzen die Plattform-Betreiber immer wieder auch auf das Stilllegen der Finanzierungsquellen. Im Online-Ökosystem sind Spenden oder Merchandising-Käufe über Bezahldienste wie Patreon oder Paypal ein beliebtes Mittel, einzelne Produzenten zu finanzieren. Werden diese Kanäle (die bisweilen in der Hand der Social Media Plattform sind) von den Anbietern gesperrt, schadet das dem Produzenten empfindlich.

Alternativ können die Anbieter von Online-Werbung (auch hier sind die Social Media Unternehmen selbst beteiligt) einzelne Seiten aus dem Anzeigengeschäft ausschließen, und so eine weitere Finanzierungsquelle trockenlegen. In der Vergangenheit waren rechtsradikale Blogs wie Breitbart oder die von Impfgegnern betroffen – oftmals auf Druck der Anzeigenkunden hin.

4. Entzug von Webspace

Selbst wenn ein Produzent umstrittener Inhalte eine eigene Plattform, einen eigenen Blog oder eine eigene Website verwendet, um einem Bann in den sozialen Medien zu entgehen, greift er dafür oft auf Webspace der großen Cloud-Anbieter zurück. Diese könnten den Vertrag mit ihm kündigen und die betreffenden Inhalte digital "heimatlos" machen – wie etwa bei Parler oder dem Netzwerk gab.ai.

Es steht jedem Teilnehmer des Internets offen, einen eigenen Webserver zu installieren, auf dem die Inhalte gehostet werden. In den meisten Fällen dürfte dies das technische Know-How und die zeitlichen Ressourcen für Pflege und Wartung aber übersteigen – und es erschwert die kostenlose Bereitstellung des Dienstes.

5. Entzug von DNS-Verweisen

Der DNS ist eine Art Adressbuch des Internets, der eine URL in die IP-Adresse des jeweilige Anbieters übersetzt. DNS-Provider sind private Unternehmen, denen es freisteht, Kunden zu akzeptieren oder zu kündigen. So kündigte der Anbieter Godaddy 2019 der rechtsradikalen Seite altright.com. Findet sich kein anderer DNS-Provider, sind die betroffenen Seiten nur noch über ihre IP-Adresse zu erreichen. Ein mühsamer Weg, der den Traffic empfindlich senken dürfte.

6. Blockierung im Netz

Das schärfste Mittel, eine Seite oder einen Produzenten von Inhalten mundtot zu machen, sind Sperren auf der Netzebene. Zugriffe auf bestimmte Inhalte oder Seiten werden dabei vom Internetanbieter komplett geblockt. So blockierten ISP (Internet Service Provider) in Australien und Neuseeland das Netzwerk 8chan, weil sich dieses weigerte, das Video des Attentäters von Christchurch zu löschen. Zugriff auf 8chan war in diesen Ländern nur noch über Umwege möglich.

Dieser Schritt wiederum wurde kritisiert. Nicht nur die Verhältnismäßigkeit einer kompletten Sperrung der Plattformen wurde in Frage gestellt, sondern auch das Recht der ISP, Inhalte zu zensieren, solange keine richterliche Anordnung vorliegt: In Deutschland sperrte Vodafone letztes Jahr allein auf Betreiben der GEMA einen ausländischen Anbieter urheberrechtlich geschützten Materials.

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