Homeoffice: Ausbeutung geht auch von zu Hause

Geht's auch vom Küchentisch aus? - Bild: Mohamed Hassan auf Pixabay (Public Domain)

Unglaublich, was Corona alles schafft: Jetzt reißt die Pandemie auch die letzten Vorbehalte gegen Heimarbeit ein

Christine Müller (Name von der Redaktion geändert) hockt auf ihrem Esstischstuhl, starrt auf den Monitor. Es ist 9 Uhr, Arbeitsbeginn. Per gesichertem VPN-Zugang zu ihrer Firma findet sie die Infos für ihre Jobs heute - und eine zarte Erinnerung daran, was von den letzten Tagen noch übrig geblieben ist. Die Zeiterfassung startet, die 39-Jährige sortiert auf dem kleinen Küchentisch ihre Unterlagen. Hinter ihr kracht es auf einmal, und ihre vierjährige Tochter brüllt: "Mami, aua!" Ein Marmeladenglas ist Katja herunter gefallen. Es ist aber nur der Schreck, keine Scherben, nur Erdbeergelee auf den Fliesen. Mami macht das schnell weg und tröstet kurz Katja. "Wann spielen wir?", fragt das Mädchen. "Später, Mami muss erst noch ein bisschen was arbeiten."

Zwei Stunden danach: Der Chef hat angerufen, Frau Müller muss Gas geben, es kam noch ein neuer Auftrag rein. Zwei Kollegen haben sich krank gemeldet, was den Personalmangel verschärft. Hektische Telefonate mit anderen Homeoffice-Mitstreitern, eine Zoom-Video-Sitzung auch noch. Katja quengelt, wann denn endlich gespielt wird. Jetzt kommt auch noch Jan, er kommt mit den Hausaufgaben nicht klar, die er gerade online bekommen hat. "Kann Papi dir nicht helfen?", fragt Christine Müller den Achtjährigen. "Nö, der hat mich zu dir geschickt, er kann gerade nicht." "Ich auch nicht, tut mir leid. In einer Stunde, okay?" Jan trottet davon, überlegt sich, ob er die Zeit mit der Playstation überbrückt.

Mami plagen derweil ihre Rückenschmerzen wieder mehr. Stuhl und Tisch sind nun einmal für Arbeiten am Computer nicht gemacht. Die Firma finanziert ihr keinen Schreibtisch und keinen ergonomisch richtig eingerichteten Arbeitsplatz. Geschweige denn eine Wohnung, in der das alles ordentlich Platz hätte.

Sie steht auf und will sich einen Kaffee holen. Dabei sieht sie nicht den Rest des Erdbeergelees, wie sie ihn auch beim Saubermachen zuvor nicht gesehen hat. Also tritt sie auf die glibberige Masse - und rutscht aus. Der Aufprall auf den kalten Steinfliesen ist hart. Und laut, auch weil sie vor Überraschung schreit. Jan hört davon nichts, er spielt Playstation mit Kopfhörer. Ehemann Gerd hat gerade einen "Call" mit seinen Leuten, hat auch die Ohren voll. Nur Katja eilt sofort herbei: "Mami, was ist?" Müller will sagen: "Ist nichts, alles gut." Aber das stimmt nicht. Irgendwas an ihrer rechten Hüfte schmerzt extrem. Später stellt sich heraus: Beckenbruch. Für mehrere Wochen wird nun Gerd mit seinen Kindern ganz alleine Homeoffice, Homeschooling und Home-education erledigen müssen.

Die Großen machen es schon

Abgesehen vom Unfall - obgleich, auch das nicht unwahrscheinlich - geht es mittlerweile in immer mehr Haushalten wie bei den Müllers zu. Das liegt zum einen am staatlichen Druck auf die Unternehmen, mehr Homeoffice zu ermöglichen, um die Zahl der Ansteckungen durch das Coronavirus zu verringern. Zumal beim ersten Lockdown im April 27 Prozent der Beschäftigten zu Hause arbeiteten, der Wert dann aber im November auf 14 Prozent zurück ging. Inzwischen gehen die Werte wieder hoch. Ende des Jahres sollen etwa zehn Millionen Menschen zu Hause gearbeitet haben, das entspricht einem Anteil von 25 Prozent. "Gezielte Maßnahmen sollen dazu beitragen, das Infektionsrisiko am Arbeitsplatz weiter zu reduzieren, ohne dass die wirtschaftliche Aktivität eingestellt oder beschränkt werden muss.", heißt es in der neuen "Corona-Arbeitsschutzverordnung" der Bundesregierung.

Das ist der Clou: Mit mehr Homeoffice das Geschäft weiter aufrecht erhalten und gleichzeitig die Volksseuche eindämmen. In dieser Gesellschaft gelten halt der Schutz des Profits und der Schutz der für diesen Profit erforderlichen allgemeinen Arbeitsfähigkeit, sprich "Volksgesundheit", gleich viel.

Zum anderen haben vor allem größere Betriebe erkannt, welche Vorteile mit dem Auslagern von im wesentlichen administrativen Tätigkeiten verbunden sind. Zum Beispiel, dass man teure Büro-Arbeitsplätze einsparen kann. "Corona" bringt da einige Manager auf die Idee, manche Jobs dauerhaft auszulagern und in günstigere, weil kleinere Verwaltungsgebäude umzuziehen. Eine Umfrage Mitte Januar unter zehn an der Börse notierten DAX-Konzernen ergab, dass alle bereits einen Großteil ihrer Mitarbeiter ins Home-Office geschickt haben - von Siemens über BASF, Adidas bis Allianz und Deutsche Telekom.

Im Mittelstand und bei kleineren Betrieben herrscht allerdings noch Nachholbedarf: "Großkonzerne mit einem größeren Budget und höherer Planungssicherheit haben es meist einfacher als kleinere mittelständische Firmen oder Familienbetriebe", sagt Oliver Stettes, Arbeitsmarktforscher am Institut der deutschen Wirtschaft. Für diese Unternehmen sei es schwieriger, die Arbeit digital zu organisieren

Keine Kontrolle, keine Leistung? Und was das kostet!

Zwei große Sorgen hemmen dabei manche Betriebe: Dass die Leistung nicht stimmt und sich die Mitarbeiter der Kontrolle entziehen. Eine weitere Bremse ist der technische und finanzielle Aufwand, Homeoffice umfassend zu organisieren.

Reiner Hoffmann möchte der Kapitalseite den ersten Teil der Befürchtung nehmen: "Die Beschäftigten sind zufriedener, produktiver und seltener krank", so der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gegenüber der Süddeutschen Zeitung (SZ). Das begeistert natürlich jeden Arbeitgeber - wenn es stimmt. Denn das ist allen klar, Kapital- wie Arbeitnehmerseite: Die geforderte Leistung muss auf jeden Fall erbracht werden. Oder deutlicher formuliert: Selbstverständlich muss auch im Homeoffice am Ende ein Profit auf Kosten der Beschäftigten herausspringen. Man nennt das altmodisch Ausbeutung.

Entsprechend hart geraten daher die Bestimmungen. Unter den anderen Umständen hat der Arbeitgeber selbstverständlich exakt den gleichen Anspruch auf von ihm vorgegebene Leistung wie im Betrieb. Die dem DGB nahestehende Hans-Böckler-Stiftung gibt zu bedenken, dass flexible Arbeitszeiten häufig zu Lasten der Beschäftigten gehen - und betont: "Bei der Gestaltung von flexiblen Arbeitszeiten, insbesondere im Homeoffice, kommt es auf klare Regeln an: zeitliche Obergrenzen, Zeiterfassung, realistische Vorgaben für das Arbeitspensum, genug Personal und Vertretungsregeln."

Gewerkschaften: Regeln müssen her, dann geht das in Ordnung

Umgekehrt bedeutet das: Im Homeoffice drohen Arbeitszeiten ohne Ende und ausufernde Arbeitsmengen. Da kennt der DGB seine Pappenheimer von der Gegenseite. Die nutzen jedes Schlupfloch aus, um aus ihren Arbeitern und Angestellten noch mehr heraus zu pressen. Also plädiert er in bewährter Manier für Betriebsvereinbarungen, die die Ausbeutung irgendwie im Zaum halten. Das sollen die Betriebsräte einfordern - wie überhaupt die Einrichtung von Homeoffices: "Es kann nicht sein, dass die Arbeitgeber allein darüber entscheiden." Daher sei es richtig, dass Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorgeschlagen habe, "die Mitbestimmung der Betriebsräte zu stärken", so DGB-Chef Hoffmann.

Und wo es keine Betriebsräte gibt? "Deshalb brauchen wir weitere gesetzliche Leitplanken fürs Home-Office. Sonst machen die Kapitalisten, was sie wollen, erklärte Hoffmann der SZ.

Die Gewerkschaften werden sich ihnen jedenfalls nicht in den Weg stellen. So wichtig ist es dem DGB dann wohl doch nicht.

Bei seinem Plädoyer für mehr Homeofice hat Reiner Hoffmann seine Klientel im Blick. Umfragen zufolge würde jeder zweite deutsche Beschäftigte gern von zu Hause aus arbeiten. Und bei rund 40 Prozent aller Berufe sei dies auch möglich, behauptet das Deutsche Institut für Wirtschaft. Das Münchner Ifo-Institut spricht sogar von 56 Prozent. Da erscheint Homeoffice sowohl wünschenswert als auch realistisch für viele.

Warum? Die Antwort hängt eng mit der notorischen Zwangslage von abhängig Beschäftigten im Kapitalismus zusammen: Homeoffice erleichtert in einigen Fällen das Erbringen der geforderten Leistung und die Organisation der alltäglichen Notwendigkeiten. Man kann sich das Arbeitspensum besser einteilen, auch mal eine Abend- oder Nachtschicht einlegen. Das wird zwar nicht gesondert vergütet. Aber so kann man den Stress besser mit Einkaufen, Erziehen, Waschen, Putzen und Kochen vereinbaren. Und neuerdings schützt das Büro zu Hause auch noch vor einer Ansteckung mit einem tödlichen Virus.

Kitas und Schulen zu, aber Homeoffice

Womit wir wieder bei Christine Müller und ihrer Familie sind. Sie spart sich den Weg zur Arbeit, ihr Mann Gerd ebenfalls. Die gewonnene Zeit wird aber unterschiedlich genutzt, wie eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) ergeben hat: "Mütter, die im Homeoffice arbeiten, kommen in der Woche auf drei Stunden mehr Betreuungszeit für die Kinder als Mütter, die nicht zu Hause arbeiten können. Bei Vätern sieht es anders aus: Sie machen im Homeoffice mehr Überstunden, nehmen sich aber nicht mehr Zeit für die Kinder."

Das ist bei den Müllers nicht anders. Die notwendige Umsorgung und Erziehung der Kinder braucht nun einmal Zeit - die Mutter und Vater nur sehr bedingt haben. Sie müssen beide arbeiten, um genügend Einkommen für die Familie zu erzielen. Der Alleinverdiener, von dessen Gehalt alle gut leben können, hat sich fast vollständig aus Deutschland verabschiedet. Kindertagesstätten und Schulen werden so zu Aufbewahrungsstationen für die lieben Kleinen, weil tagsüber sich niemand um sie kümmern kann. Wenn diese Einrichtungen wie nun im Lockdown geschlossen bleiben, stellt Homeoffice die zweifelhafte Lösung dar.

Was unter der neuen Situation keinesfalls leiden darf? Nein, nicht die Kinder, nicht die doppelt und dreifach belasteten Eltern. Sondern die vom Arbeitgeber geforderte Leistung, was sonst. Nur für die gibt es Geld.

Geht's nicht auch in der Küche?

Geld für einen ordentlich hergerichteten Arbeitsplatz inklusive ergonomischem Stuhl und Dienst-Laptop ist allerdings nicht selbstverständlich. Selbst größere Unternehmen schauen erst einmal, ob ihre Leute nicht auch mit Küchentisch, Küchenstuhl und Privatcomputer klarkommen. Die Arbeitsstättenverordnung schreibt zwar auch für Home-Office professionelle Verhältnisse vor. Aber wo kein Kläger... Einige Betriebe gehen dem Problem aus dem Weg und nennen es nicht Homeoffice, sondern "mobiles Arbeiten". Da gilt die Verordnung nämlich nicht.

Dafür betreiben die Firmen viel Aufwand für den Schutz ihrer sensiblen Daten, wenn die jetzt so oft auf Wanderschaft gehen. Selbstverständlich muss außerdem genau kontrolliert werden, dass der Beschäftigte stets brav am Rechner sitzt und erreichbar ist. Die Hans-Böckler-Stiftung stellt bei vielen Chefs ein wachsendes Bedürfnis fest, "ihre Mitarbeiter zu kontrollieren. Machen sie sich im Homeoffice vielleicht einen lauen Lenz? Die Hersteller von Überwachungssoftware verzeichnen derzeit hohe Zuwachsraten." Doch eine elektronische Überwachung von Beschäftigten sei nur in eng definierten Fällen erlaubt.

Nicht jeder Homeoffice-Unfall gilt rechtlich als Arbeitsunfall

Im Normalfall genügt die Zeiterfassung und die Zielvereinbarung über das Arbeitskontingent, was abzuliefern ist. Deshalb geriet Christine Müller am Vormittag ins Schleudern. Es kam einfach eine Menge auf einmal, und dann noch dazu die Kinderbetreuung. Das verschüttete Erdbeergelee auf dem Boden passte da natürlich so gar nicht rein. Also schnell aufwischen und wieder an die Arbeit! Dabei übersah die gestresste Mami halt noch einen Rest. Und der wurde ihr zum Verhängnis.

Schlimm genug der Beckenbruch und ab ins Krankenhaus. Aber ein Arbeitnehmer ist ja während der Arbeit über die Berufsgenossenschaft bestens versichert? Im Prinzip schon, doch im Homeoffice ist ja der private mit dem beruflichen Bereich eng verbunden. Ein Arbeitsunfall liegt mithin nur vor, wenn er sich in Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit ereignet. Einen Kaffee holen gehört nicht dazu.

Wege zur Nahrungsaufnahme im Homeoffice sind nicht unfallversichert. Das stellte bereits ein älteres Urteil des Bundessozialgerichts klar. Die der privaten Wohnung innewohnenden Risiken hat demnach nicht der Arbeitgeber, sondern der Versicherte selbst zu verantworten.

Was eben besser für den Profit ist

Was ist nun besser? Ein Arbeitsplatz in der Firma oder einer zu Hause? Der Unternehmer beantwortet die Frage kühl: Kommt halt drauf an, wo das Beste aus seinem Mitarbeiter rauszuholen ist. Und wenn es dann auch nichts oder nur ein wenig kostet, Homeoffice einzurichten, dafür man auf der anderen Seite Büros einsparen kann - warum nicht?

Der Beschäftigte hingegen kann die Frage gar nicht abschließend beantworten: Er kann ja überhaupt nicht frei entscheiden, was ihm lieber ist. Da ist er schon auf den guten Willen und das Angebot seines Arbeitgebers angewiesen. Die neue Corona-Arbeitsschutzverordnung verpflichtet nun zwar die Unternehmen, ihren Mitarbeitern Home-Office anzubieten. Allerdings nur, "soweit keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen". Da lässt sich sicher etwas finden, wenn das nicht in das Konzept des Arbeitgebers passt. Und der Staat hat dafür ganz ausdrücklich Verständnis. Denn der ungehinderte Betrieb geht vor.

Umgekehrt müssen sich Beschäftigte genau überlegen, was sie dazu sagen, wenn denn ein solches "Angebot" kommt. Zwar kann ein Unternehmer nach aktuellem Stand der Rechtsprechung niemanden ins Homeoffice zwingen. Aber wer bei einem Rechtsstreit über diese Frage am längeren Hebel sitzt, ist kein Rätsel. Im Zweifel gilt dann das "Vertrauensverhältnis" als gestört - und das Arbeitsverhältnis kann somit aufgelöst werden.

Nicht nur zur Corona-Zeit

Die Familie Müller wird das jedoch im Moment nicht allzu sehr interessieren.Sie muss sehen, wie sie zurechtkommt. Mutter Christine liegt im Krankenhaus. Vater Gerd hat weiter als Arbeitnehmer von zu Hause aus Leistung zu bringen und muss gleichzeitig Erzieher, Hilfslehrer, Versorger und Entertainer für die beiden Kinder spielen. So sieht die "Freiheit" in der Marktwirtschaft aus: Der Alltag ist gefüllt mit der Notwendigkeit, an das nötige Geld zu kommen - und mit den Notwendigkeiten, sein Leben darauf hin zu organisieren. Das gilt natürlich nicht nur für Familien mit Kindern, sondern für alle, die abhängig beschäftigt sind. Und das nicht nur zur Corona-Zeit.