Angriffspläne der Türkei auf Nordostsyrien und Shengal im Nordirak?

"Ezidische Stammesälteste und Glaubensvertreter in Şengal, die zum Zusammenhalt gegen die drohende Invasion der Türkei aufrufen". Bild: ANF/Arama Sonuçları

Kurdischen Medienberichten zufolge bereitet die Türkei einen neuen Angriff auf Gebiete in Nordostsyrien und das ezidische Siedlungsgebiet Shengal im Nordirak vor

Am heutigen Dienstag besucht der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar die Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in Berlin. In dem Arbeitsgespräch will die Verteidigungsministerin im Gasstreit zwischen Griechenland und der Türkei im östlichen Mittelmeer vermitteln. Kurdische Organisationen und NGOs blicken angesichts neuer Interventionsdrohungen sorgenvoll in Richtung Nordsyrien und die Shengal-Region im Nordirak.

Es stellt sich die Frage, warum sich die beiden Verteidigungsminister zum Gasstreit austauschen wollen, wo dies doch ein außenpolitisches und kein verteidigungspolitisches Thema ist. Könnte es nicht auch sein, dass sich Verteidigungsminister Akar absichern will für die geplanten Interventionen, bzw. diplomatischen Irritationen vorbeugen will?

Die Türkei sei ein "wichtiger und geschätzter Partner innerhalb der Nato", man wolle Positionen zu gemeinsamen Themen austauschen, gab Kramp-Karrenbauer bekannt. Diese Worte hörte man auch vom Außenminister Heiko Maas nach seinem letzten Besuch in Ankara am 18. Januar.

Die Bundesregierung hält im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern und den USA, wo die Kritik an der türkischen Regierung lauter wird, stoisch an diesem Mantra fest. Deswegen werden Themen wie Menschenrechtsverletzungen, Einschränkungen der Pressefreiheit, völkerrechtswidrige Angriffskriege oder die Repressionen gegen die linke türkische Oppositionspartei HDP allen Statements des wissenschaftlichen Dienstes der Bundesregierung zum Trotz bei Gesprächen ausgeklammert.

Eziden im Shengal und nordsyrische Stadt Derik durch türkische Angriffspläne bedroht

Besonders bitter wäre eine Billigung der Intervention für die Eziden im nordirakischen Shengal-Gebiet, denn ausgerechnet die CDU hatte sich zum Schutzpatron der Eziden nach dem Völkermord durch den IS 2014 erklärt und viele Eziden hegten große Hoffnungen. Der Beauftragte für Religionsfreiheit der Bundesregierung besuchte zuletzt 2020 die Region und musste feststellen, dass über 70% der Eziden noch nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten.

Nun könnten diejenigen, die ihre Heimat wiederbeleben und aufbauen wollen vor einer neuen Vertreibung durch die Türkei stehen. Auch die nordost- syrische Stadt Derik im Dreiländereck Türkei/Irak/Syrien ist von einer völkerrechtswidrigen Intervention bedroht. Derik ist offizielle Partnerstadt des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin. Der Berliner Städtepartnerschaftsverein unterhält im Umland von Derik eine mobile Klinik und ist äußerst besorgt. Derik hat strategische Bedeutung, da in der Nähe der einzige Grenzübergang zwischen Nordirak und Nordsyrien liegt. Würde dieser in türkische Hände fallen, wäre das Gebiet der Selbstverwaltung vollkommen von Versorgungsmöglichkeiten abgeschnitten.

Das Treffen des türkischen Verteidigungsministers Akar mit der deutschen Verteidigungsministerin wird von Nahostexperten in diesen Kontext eingeordnet. Da steht der türkisch-griechische Gasstreit eher hinten auf der Agenda. Sie sehen die Reise Akars nach Deutschland als weiteres Glied in der Reihe der vorangegangenen Gespräche des türkischen Verteidigungsministers mit der irakischen Regierung und der kurdischen Zentralregierung im Nordirak, um weitere völkerrechtswidrige Angriffe gegen Eziden und die nordsyrische Selbstverwaltung legitimieren zu lassen. Im kurdischen Medium ANF hat man dafür folgende Beschreibung:

"Akar war Anfang letzter Woche zuerst nach Bagdad und anschließend nach Hewlêr (Erbil) gereist. Das Hauptthema der Gespräche war das 'gemeinsame Vorgehen im Kampf gegen den Terror' – gemeint sind damit die kurdische Arbeiterpartei PKK und die Selbstverwaltungsstrukturen in der ezidischen Şengal-Region."

Vieles deutet daraufhin, dass es der türkischen Regierung im Rahmen des Misak-ı Milli um die Rückeroberung alter osmanischer Territorien geht, konkret um die Einverleibung von Teilen Nordsyriens und des Nordiraks in das türkische Staatsgebiet. Darauf deutet auch ein Manöver, das die in der Türkei ausgebildete, nationalistische Turkmenenfront (ITC) zeitgleich mit dem Besuch des türkischen Verteidigungsministers in Bagdad südlich von Kirkuk abhielt. Diese paramilitärische Truppe setzt sich ausdrücklich für die Einverleibung des Gebietes von Kirkuk bis Mossul ins "Türkische Reich" ein.

Erdogan erwartet für Militäroperationen Zugeständnisse aus Deutschland

Nach der Niederlage des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump hat Erdogan einen wichtigen Verbündeten verloren. Es war Trump zu verdanken, dass die Türkei nach dem Rückzug der amerikanischen Soldaten ins nordsyrische Serekaniye und Gire Spi einmarschieren und die Gebiete nach dem Muster der Einverleibung des nordwestlichen Afrin annektieren konnte.

Nun versucht Erdogan mit einer Charmeoffensive Europa und vor allem Deutschland als treuesten Verbündeten für eine erneute Militäroperation im Shengal zu gewinnen. In diesem Zusammenhang ist die versöhnliche Rhetorik Erdogangs zur Beilegung des Gasstreites mit Griechenland nur Mittel zum Zweck. Der Besuch des deutschen Außenministers in Ankara Mitte Januar ist auch im Zusammenhang mit der türkischen Außenpolitik im Nahen Osten zu betrachten.

Erdogan erwartet hier Zugeständnisse von Deutschland. Es ist zu befürchten, dass er diese auch bekommt, denn die Bundesregierung unterstützt im Nordirak die konservative Barzani-Regierung, denen die Forderung nach mehr Autonomie und Selbstverwaltung der Eziden ein Dorn im Auge ist.

Dass es unter den Eziden diese Bestrebungen gibt, hat die Barzani-Regierung allerdings ihrer eigenen Politik zu verdanken, als 2014 die 11.000 mit schweren Waffen ausgestatteten KDP-Peschmergas im Shengal die Flucht vor dem IS ergriffen, die Eziden vorher entwaffneten und sie ihrem Schicksal überließen. Erst dadurch wurde der Völkermord an den Eziden möglich.

Mitte Januar versuchte der türkische Verteidigungsminister auch die irakische Regierung von der Notwendigkeit einer Intervention zu überzeugen und reiste dazu eigens mit dem Generalstabschef Yaşar Güler und Hakan Fidan, dem Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, nach Bagdad. Der irakische Präsident Barham Salih ließ sich anscheinend nicht überzeugen.

Die kurdische Nachrichtenagentur ANF zitierte Salih damit, dass es zwar wichtig sei, "die Spannungen in der Region abzubauen und sich auf einen konstruktiven Dialog bei der Lösung offener Fragen zu verlassen". Die regionale Zusammenarbeit und Koordination sei zu stärken, "um 'terroristische Bedrohungen' entlang der gemeinsamen Grenze zu bekämpfen".

Salih betonte aber auch "die Notwendigkeit, die Souveränität des Landes zu respektieren", was aus der Diplomatensprache übersetzt wohl heißt, dass die irakische Regierung die Entwicklungen im Norden des Landes zwar mit Sorge betrachtet, jedoch kein grünes Licht für eine türkische Militäroperation geben will.

Trotzdem will Salih Erdogan nicht zu sehr verprellen, denn als Gegenleistung bot der türkische Verteidigungsminister an, den Irak mit fünf Milliarden Dollar zu unterstützen. Für den irakischen Premierminister al-Kadhimi wäre dies ein willkommenes Geschenk, denn die ökonomische Lage im Irak ist katastrophal. Deshalb kommt es immer wieder zu Protesten. Die Frage ist allerdings, ob es sich angesichts der leeren Kassen des türkischen Staates um ein leeres Versprechen handelt, das dazu dient, der irakischen Regierung die Zustimmung zu einer Intervention abzuringen.

Anders sieht es mit der kurdischen Regierung im nordirakischen Autonomiegebiet aus. Die führende Partei der Barzani-Partei KDP unterstützt die Pläne der Türkei und riskiert so erneut einen Bruderkrieg zwischen den verschiedenen politischen Lagern der Kurden.

Für Dienstag wurden Protestkundgebungen vor dem Kanzleramt angemeldet, um auf die bevorstehenden Interventionen in Derik und Shengal durch die Türkei aufmerksam zu machen.