Überschreiten der Gruppengrenze

Szene aus dem "Ferienlagerexperiment" von 1954. Bild: uakron.edu

Je mehr Kontakt zum Fremden besteht, desto weniger Vorurteile hat der Mensch. Ein Rückblick auf die sozialpsychologische Forschung mit Rückschlüssen für die Gegenwart. (Teil 2 und Ende)

Gruppenbewusstsein und Gruppendenken sind biologisch im Menschen verankert und machen evolutionär Sinn, wie im ersten Teil "Wir gegen sie!" dargelegt wurde. Angesichts globaler Herausforderungen und drohender Katastrophen stellt sich aber zwingend die Frage, wie trennende Gruppengrenzen überschritten werden können.

Im Ferienlager

Im Jahr 1954 leitete der Sozialpsychologe Muzafer Sherifs das legendäre "Ferienlagerexperiment". Im Robbers Cave State Park nahmen 22 Jungen zwischen zwölf und 14 Jahren, die einander nicht kannten, an einem Ferienlager teil. Sie wurden in zwei Gruppen eingeteilt und lebten an zwei Enden eines großen Geländes, ohne von der Existenz der anderen Gruppe zu wissen. Zu Beginn der zweiten Woche wurden beide Gruppen darüber unterrichtet, dass sie nicht alleine waren.

Schnell stellte sich daraufhin ein Gefühl der Feindseligkeit gegenüber der fremden Gruppe ein. Als die zweite Gruppe erfuhr, dass sich die erste den Namen "Die Klapperschlangen" gegeben hatte, bezeichnete sie sich fortan als "Die Adler". Auch das Verhalten innerhalb der Gruppe änderte sich: je erbitterter die Feindschaft nach außen, desto stärker die Selbstlosigkeit innerhalb der Gruppe. Man half einander jetzt häufiger. Und besonders diejenigen, die in der sozialen Hierarchie unten standen, versuchten sich durch selbstlose Taten hervorzutun.

Schließlich wurde eine Reihe von Wettkämpfen zwischen den "Klapperschlagen" und den "Adlern" angekündigt. Die Spieler beschimpften sich, und die "Adler" zündeten die Fahne der "Klapperschlagen" an. Diese überfielen anschließend die Hütte der "Adler". Daraufhin suchten die "Adler" mit Baseballschlägern die Feinde auf, die zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht in ihrem Quartier waren. Die Leichtigkeit der Gruppenkonstruktion und die Unüberwindlichkeit des Gruppendenkens und der dadurch gezogenen Grenzen schienen sich zu bestätigen.

Der Sozialwissenschaftler Lutfy Diab wiederholte das Experiment mit 18 Jungen aus Beirut. Die beiden Gruppen "Blaue Gespenster" und "Rote Genies" bestanden jeweils aus fünf Christen und vier Muslimen. Sehr bald brachen auch hier Streit und Kämpfe aus, allerdings nicht zwischen Christen und Muslimen, sondern zwischen der blauen und der roten Gruppe. Ein beeindruckendes Beispiel für die Konstruktion von Gruppen.

Die Macht des Kontakts

Nichts ist fähiger diese Vorurtheile zu zerstreuen, als die Kenntnis vieler Völker, bey denen die Sitten, die Gesetze, die Meinungen verschieden sind, eine Verschiedenheit, die durch eine leichte Bemühung uns lehrt dasjenige wegzuwerfen, worinn Menschen uneinig sind, und das für die Stimme der Natur zu halten, worinn alle Völker miteinander übereinstimmen.

Das ist eine Aussage des Mediziners und Naturforschers Albrecht von Haller in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Von Haller war von der besonderen Bedeutung der Begegnung und des Dialogs überzeugt, um den Graben zwischen fremden Gruppen zu überwinden.

In den 1950er-Jahre entwickelte der Psychologe Gordon Allport die bedeutende Kontakt-Theorie. Sie geht davon aus, dass Kontakt zwischen Gruppen den Gruppen-Gegensatz überwinden und dadurch gefährliche Vorurteile abbauen kann. Laut Allport müssen hierfür jedoch bestimmte Bedingungen gegeben sein; ein flüchtiger Kontakt reicht nicht aus. Er bezeichnet solche Kontakte als "touristischen Kontakt". Noch weniger können Konkurrenzkämpfe der Überwindung der Gruppengrenze dienlich sein, wie es sich im Ferienlager gezeigt hatte.

Allport erklärte, Vorurteile "können durch gleichberechtigten Kontakt zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele abgebaut werden. Die Wirkung wird erheblich verstärkt, wenn dieser Kontakt durch institutionelle Unterstützung (d.h. durch Gesetz, Sitte oder örtliche Atmosphäre) sanktioniert wird, und vorausgesetzt, er ist von einer Art, die zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Menschlichkeit zwischen den Mitgliedern der beiden Gruppen führt."

Das Ende des Ferienlagers

Auf dem Höhepunkt der Feindseligkeiten zwischen den "Adlern" und den "Klapperschlangen" brechen eine Reihe von Darstellungen den Bericht über das Ferienlage-Experiment von Muzafer Sherif ab und benutzen ihn als einen Beweis für die destruktive Natur des Menschen, die die ordnende Hand des Staates benötigt.

Tatsächlich ging das Experiment aber jetzt in die dritte und entscheidende Woche. Sie war das eigentliche Ziel von Sherifs Forschung. Als die Spannungen zwischen den beiden verfeindeten Gruppen deutlich in Erscheinung getreten waren, probierte Sherif eine Reihe von Strategien aus, um beide Lager miteinander durch Kooperation zu versöhnen. Nachdem heimlich eine Wasserzufuhr des Lagers sabotiert worden war, baten die Leiter des Experiments alle Jungen, die Wasserleitung zu reparieren, da dieses Problem beide Gruppen betraf und man nur zusammen die fehlende Wasserversorgung wieder in Gang setzen konnte.

Als die Jugendlichen einsahen, dass sie gemeinsam mit der anderen Gruppe handeln mussten, verringerte sich die Feindschaft und sie liehen sich sogar gegenseitig Werkzeug aus. Sobald aber das Wasser wieder lief, flammte die alte Feindschaft wieder rasch auf. Auch ein gemeinsames Kinoerlebnis, das nur möglich war, wenn alle zusammen Geld beisteuerten, erwies sich nur als vorübergehende Episode des Friedens.

Schließlich organisierte Sherif einen gemeinsamen Ausflug, wobei er absichtlich den Lastwagen mit den Nahrungsmitteln von seinen Helfern umkippen ließ. Als die beiden verfeindeten Gruppen das Unglück entdeckten, erkannten sie, dass sie ein Problem hatten, welches sie nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung lösen konnten.

Danach stießen die Kinder auf das nächste Problem, das Sherif geplant hatte: Die Zelte der beiden Gruppen waren durcheinandergeraten, sodass die Kinder Einzelteile tauschen mussten. Als schließlich der Lastwagen mit dem Proviant erschien, zeigte sich, dass ein mehrere Kilogramm schweres Stück Fleisch unter ihnen aufgeteilt werden musste. Schlussendlich entstanden Freundschaften zwischen Mitgliedern der verfeindeten Gruppen, und die Jungen beschlossen, gemeinsam in einem Bus zurückzufahren.

(Der Vollständigkeit halber muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass dieses Experiment bereits der dritte Anlauf von Sherif war. Im ersten Experiment 1949 wollte er die gegenseitige Feindschaft durch eine gemeinsame Aufgabe gegen einen neuen Feind aufbrechen, was nur teilweise gelang.

Das zweite Experiment 1953, bei dem alle Kinder gemeinsam zum Ferienlager fuhren und auf dem Weg bereits entstandene Freundschaften bewusst durch die Festlegung der Gruppen getrennt wurden, musste abgebrochen werden, weil sich keine wirkliche Feindseligkeit entstellen wollten und die Jungens sogar den Manipulationsversuch des Forschers durchschauten.)

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