Europas Nachwuchs-Putinisten

Warschau bei Nacht. Bild: Bosyantek/CC BY-SA 3.0

Während Berlin und Brüssel den Druck auf Moskau erhöhen, gewinnen in der östlichen Peripherie der EU autoritäre Tendenzen an Dynamik

Die Beziehungen zwischen der EU und Russland scheinen einen neuen Tiefpunkt erreicht zu haben. Die Verhaftung des rechten Kremlkritikers Alexei Nawalny, die brutale staatliche Repression gegen die jüngste Protestwelle in Russland – dies offensichtlich autoritäre Vorgehen der russischen Staatsoligarchie gegen Oppositionskräfte wurde von der EU zum Anlass genommen, um den Druck auf Moskau abermals zu erhöhen.

Nachdem Russland unter anderem einen deutschen Diplomaten des Landes verweisen hatte, wies Deutschland ebenfalls einen russischen Diplomaten aus, während Kanzlerin Angela Merkel Russland "ziemlich fernab von Rechtsstaatlichkeit" verortete. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell will nach seiner Russland-Reise auf europäischer Ebene neue Sanktionen gegen Russland diskutieren – wobei Mitarbeiter Nawalnys der EU konkrete Vorschläge für Sanktionen unterbreiten, um russische Oligarchen mit engen Beziehungen mit Kreml zu treffen.

Brüssel und Berlin scheinen somit zu einem harten Konfrontationskurs bereit, wenn es um die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in dem autoritär regierten Russland geht. Doch kontrastiert dieser gegen Russlands Staatsoligarche gerichtete Kurs mit der Zurückhaltung, die Europa gegenüber den autoritären Bestrebungen in seinem eigenen, osteuropäischen Hinterhof an den Tag legt.

Während in Berlin und Brüssel über weitere Russlandsanktionen diskutiert wird, scheinen beispielsweise die beunruhigenden Nachrichten aus Polen von der hiesigen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen zu werden. Am vergangenen Mittwoch haben zahlreiche Medien gegen eine neue "Steuer auf Werbeanzeigen" in Polen protestiert, die alle privaten Medienunternehmen trifft.

Regierungstreue öffentliche Medien, die von der polnischen Rechtsregierung schon bei ihren Amtsantritt von unliebsamen Elementen gesäubert und auf eine nationalistische Linie gebracht wurden, sind aufgrund ihrer öffentlichen Finanzierung von den neuen Abgaben kaum finanziell betroffen.

Rechter Geschichtskampf

Einen Tag zuvor sprach Polens Justiz, die längst aufgrund einer umstrittenen Justizreform ihre Unabhängigkeit verloren hat, zwei prominente Holocaustforscher der Verleumdung schuldig, die Denunziationen von Juden durch Polen während der deutschen Okkupationszeit thematisierten.

Hinter dem Prozess, der von einer Nachfahrin eines ostpolnischen Ortsvorstehers angestrengt wurde, dem die angeklagten Forscher in einem Buch die Auslieferung von Juden an die Nazi-Okkupanten vorwarfen, steht die regierungsnahe rechte Stiftung, die die nationalistische Geschichtsideologie der Regierungspartei PiS durchsetzen will.

Polens Rechtsregierung hat bereits die rechtsextremen und antisemitischen Kampfverbände um die Nationalen Streitkräfte NSZ rehabilitiert, die während der Okkupationszeit in Polen aktiv waren - und laut Forschern in mehr als hundert Fällen an antijüdischen Aktionen und Morden an untergetauchten Juden beteiligt waren.

Die regierungsnahe Stiftung mit dem sperrigen Namen "Reduta. Festung des guten Namens - Liga gegen Verleumdung" kämpft nun gegen internationale Forschungsbemühungen, die das Ausmaß von Denunziationen oder Kollaboration einzelner Polen mit den deutschen Okkupanten während des Zweiten Weltkrieges thematisieren (Polen ist eines der wenigen Länder Europas, in dem es tatsächlich keine organisierte Kollaborationsbewegung mit Nazideutschland gab, was die polnische Rechte dazu verleitet, individuelle Kollaboration weitestgehend zu leugnen).

Mit dem Schuldspruch scheint die rechtspopulistische Regierungspartei PiS ihr nationalistisches Geschichtsbild nicht nur in Polen, sondern global durchsetzen zu wollen. Historiker hätten sich "besorgt über das Verfahren" geäußert, hieß es in ersten Einschätzungen, da es zu einer "Einschüchterung von Forschern" führen könne.

Polens Justiz scheint somit zu einem Kampfmittel bei der Durchsetzung rechter Ideologie auf dem Feld der Geschichtspolitik zu verkommen. Und es ist eben die politische Abhängigkeit der Justiz vom Machtzentrum, die Brüssel so gerne Putins Russland vorwirft. Doch warum in die Ferne schweifen, wenn der Autoritarismus so nahe sich entfaltet? Nichts hindert Brüssel daran, innerhalb der Europäischen Union tätig zu werden.

Polens Richter, die spätestens mit der Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichts ihrer Unabhängigkeit verlustig gingen, spielten auch bei dem Kampf der PiS-Regierung gegen die Selbstbestimmungsrechte von Frauen eine zentrale Rolle. Das totale Abtreibungsverbot in Polen, das gegen die größte Protestbewegung seit dem Ende des real existierenden Sozialismus brutal durchgesetzt wurde, ist durch Richtersprüche exekutiert worden.

Verfassungsrichter, die von der PiS im Gefolge von "Justizreformen" politisch abhängig gemacht wurden, haben das Abtreibungsverbot erlassen, es zeitweise aufgrund der zunehmenden Proteste zurückgezogen, um es schließlich - nachdem die Demonstrationen erlahmten - wieder in Kraft treten zu lassen.

Die Justiz in Polen ist somit in etwa so frei wie diejenige in Putins Russland.