"Ich fühle, dass mein Mund nach Blut schmeckt."

Bild: © W-film / Mira Film

Die Revolte ist ein Abenteuer des Herzens: Solidarność in Polen, die iranische Revolution und das Epochenjahr 1979 - "Der nackte König"

Die Ayatollahs können das Land nicht ewig regieren.
Helmut Schmidt, 1979

Vieles, das in Hoesslis "Der nackte König" vorkommt, ist unaufgearbeitet: Der große Streik der Werftarbeiter in Danzig, angeführt von Lech Walensa, der den real-existierenden Sozialismus herausforderte und der zunächst massiv per Ausnahmezustand niedergeschlagen wurde, der schließlich aber Glasost, Perestroika und den Umbruch hinter dem Eisernen Vorhang einleitete.

Der Aufstand gegen den Schah von Persien, der zur Rückkehr des Ayatollah Khomeini führte, zur Islamischen Revolution in Iran und jene Welle des islamischen Fundamentalismus auslöste, die bis heute Demokratie und westliche Werte bedroht.

Die Wahl von Margaret Thatcher und mit ihr der Beginn der neokonservativen Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates.

Der Aufstieg Deng Xiaopings zur chinesischen Staatsspitze; der Sieg der Sandinisten in Nicaragua; der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan; der Atomunfall bei Harrisburg; in der Bundesrepublik die Gründung der Grünen und die Ausstrahlung der Serie "Holocaust", die mit Einschaltquoten von bis zu 40 Prozent und mehr als 20 Millionen Zuschauern ein Straßenfeger und Meilenstein der Erinnerungskultur wurde - Ereignisse, die die Welt erschütterten.

1979 war ein Jahr des weltweiten Umbruchs und Auslöser von Entwicklungen, die bis heute nicht beendet sind.

Der nackte König - 18 Fragmente über Revolution (10 Bilder)

Bild: © W-film / Mira Film

Vieles ist unaufgearbeitet. Manches wird in Scham-Ecken des politischen Bewusstseins versteckt. Vor allem die katastrophale Politik der USA, vor allem von Jimmy Carter, der heute als alter Mann wieder zu einem Idol des linken Amerika geworden ist, der aber persönliche Mitschuld daran trägt, dass aus dem islamischen Fundamentalismus weit über den Iran hinaus das wurde, was er heute ist.

Die katastrophale Konferenz von Guadeloupe, die den Schah politisch zum Abschuss frei gab in der Erwartung, westlich orientierte Militärs würden die Macht übernehmen.

Und die politische "Antipolitik" (Györgi Konrad) des polnischen Papstes, der wie ein Wiedergänger Khomeinis in Polen landet - zur "Pilgerreise". Und der vor Millionen Polen rhetorisch das Tor zu einer anderen Welt öffnete. "Beide interagieren in neuartiger Intensität mit Millionen von Menschen, die auf den Straßen sind, suchen das Gedränge und dieses Gedränge sucht sie. In beiden Fällen ist die Religion plötzlich mit einer politischen Sprengkraft verbunden," schreibt der Historiker Frank Bösch dazu in seinem Buch "Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann".

1979 war ein epochales Jahr, ein Schicksalsjahr womöglich in der Weltgeschichte und in den Erinnerungen derjenigen, die es damals erlebten. Vor über 40 Jahren, zwischen 1978 und 1980, war der Schweizer Regisseur Andreas Hoessli zunächst durch ein Doktorandenstipendium - er forschte über Entscheidungsstrukturen in der Planwirtschaft -, dann als junger Auslandskorrespondent dabei beim Streik in den Danziger Werften und dem Aufstand von Solidarność in Polen.

Geheimdienstberichte

Als Regisseur kehrt Andreas Hoessli nun zurück und fragt sich, wie man ein System heute beschreiben kann, das nicht mehr existiert. Er trifft Leute von früher, Menschen, die ihn zum Teil besser kennen als er sich selbst - es sind nämlich unter anderem die ehemaligen Geheimdienstleute, die bei seinen Polen-Besuchen auf ihn angesetzt waren, die den neugierigen Schweizer Reporter mit den guten Kontakten zur Opposition auf Schritt und Tritt bei seinen Aufenthalten begleiteten.

In den Geheimdienstberichten - "Der Figurant verfügt über Kontakte zur Opposition im Untergrund. Er spricht die polnische Sprache. Zu prüfen sind Methoden, wie der Figurant für unsere Dienste angeworben werden kann." - wird abgewogen, wie man Situation herbeiführen könnte, "die geeignet sind den Figuranten als Journalist und Privatperson zu kompromittieren."

Der ehemalige Geheimdienstchef und polnische Inneminister (1996-1997), Zbigniev Siemiatkowski, erklärt die Methode:

Sie werden in einer unangenehmen Situation aufgegriffen. Sie werden nervös. Sie sind in großen Stress. Jemand reicht die Hand und sagt: Wir können eine Lösung finden. Sie haben die Wahl: Sie einigen sich oder aber bekommen ernsthafte Probleme. Man schafft eine psychologische Situation der Übermacht der einen Seite. Bei der Anwerbung muss man zuerst einmal unter Schock setzen und wenn er sich daran gewöhnt hat, muss die Spannung noch gesteigert werden. Und dann erst wird ihm die Hand gereicht. Der Betroffene wird dann diese Hand ergreifen und sich über die gereichte Hand freuen. Wenn er nicht unter Schock wäre, würde er die Zusammenarbeit ablehnen. Aber unter Zwang funktioniert das anders.

Verdichtung und höhere Wahrheit

Zur gleichen Zeit eskalierten im Iran die Unruhen gegen den Schah von Persien, die in die Installation von Khomeinis Gottesstaat mündeten. Regisseur Hoessli parallelisiert beide Vorgänge und verdichtet sie zu einem freien Nachdenken über das Wesen der Revolution und ein Schicksalsjahr der Weltgeschichte.

Dieser Film ist auf der einen Seite ein innerer Monolog des Regisseurs über die eigene Vergangenheit, über das was geblieben ist von diesen beiden umstürzenden Ereignissen des gleichen Jahres 1979/80. Eine kreiselnde Überlegung in den Fußstapfen von Hannah Arendts "Über die Revolution" und über das Wesen einer revolutionären Situation.

Es ist auch eine Meditation über seine Profession des neugierige Beobachters und seines Willens zum Wissen, ob in der Gestalt des Reporter oder des Filmemachers.

Vor allem aber ist dies eine Reise auf den Spuren eines großen älteren Kollegen: Richard Kapucinski, der polnische Reporter, der so gut schreiben konnte. Wir sehen hier Kapuscinski in kariertem Hemd, in einer Welt grauer Geschmacksignoranz; er arbeitete in Räumen, die so vollgestopft waren, wie man das heute gar nicht mehr kennt: Dort Papierstapel, da Büchertürme, hier Zettel, eine verlorene analoge Welt.

Der Reporterin im geblümten Kleid sagt Richard Kapucinski auf die Frage, was ihn antreibe:

Das ist eigentlich immer die gleiche Sache, über die ich schreibe. Was mich schon immer faszinierte: Die Möglichkeit der Veränderung der Welt. Die Veränderung dessen, was existiert. Die Möglichkeit zur Verbesserung der Bedingungen, unter denen Menschen leben. Das ist das Hauptthema all dessen, was ich schreibe. Vor allem interessiert mich der Mensch, seine Haltung im, wie er auf die ihn umgebende Welt reagiert, und wie er diese zu verändern sucht.

Kapucinski konnte so gut schreiben, dass seine Reportagen literarischen Wert hatten. Und der Reporter geriet auch immer wieder ins Fabulieren - heute weiß man, dass er mitunter Episoden erfand, Erlebnisse kondensierte, Figuren zusammenfasste, und all das tat, was man als Journalist in Zeiten der politischen Korrektheit nicht mehr tut. Damals aber hat man so etwas nicht "fake-news" genannt, sondern "Verdichtung" und "höhere Wahrheit". Weil das Entscheidende nicht die Erfindung ist, sondern die Haltung, die dahinter steht.

Es kann im Journalismus nicht um das korrekte Aufeinanderhäufen von Fakten gehen, nicht darum, jeden Halbsatz mit ein bis drei Fußnoten beglaubigen zu können. Ein guter Reporter schaut zuallererst mal überall hin und nirgendwo weg. Und dann schreibt er auf, was er sieht, was ihm im Gedächtnis geblieben ist. Ein guter Reporter, der macht sich tatsächlich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.

Auf der anderen Seite jenseits dieser berühmten Aussage von Hans-Joachim Friedrichs steht die Tatsache, dass man als Reporter selbstverständlich Partei ist, das man selbstverständlich versucht, den Unterdrückten und Entrechteten eine Stimme zu geben, der Kritik. Dass man versucht, der Macht etwas entgegenzusetzen, einer Macht, die immer lauter ist als der Widerstand, und die über diverse offene und vor allem versteckte Propagandamittel verfügt, über Speichellecker und Opportunisten. Das wusste Kapuscinski, weil er aus Polen kam.

Und so verstand er wahrscheinlich mehr von dem, was sich in Iran ereignete, auch ohne Farsi zu verstehen, als es viele verstanden, die sich seit Jahren in diesem Land befanden. Und selbstverständlich schrieb einer, der als einer der ganz wenigen Journalisten aus dem real existierenden Sozialismus des Kalten Krieges ins Ausland reisen durfte, wenn er über eine Revolution schrieb, einerseits über die glorreiche Geschichte der Revolutionen, über die idealtypische Idee des Historische Materialismus, aber eben zugleich auch über die ganzen Lebenslügen, offenen Unwahrheiten, uneingestandenen Verbrechen, über die Abgründe, über die sich diese gloriose Geschichte wölbte. Natürlich schrieb so einer auch über das, was im eigenen Land geschah.

Selbstverständlich meinte ein polnischer Reporter, wenn er über die iranischen Massen auf der Straße sinnierte, die gegen einen bestimmten Autoritarismus und Fundamentalismus der Macht opponierten und dabei ihre eigenen Fundamentalismen sofort ausprägten wie ihren eigenen Autoritarismus, ihre eigenen Lebenslügen und ihre eigene Propaganda, auch Solidarnosc und den Arbeiteraufstand in den Werften von Danzig.

Kapuscinskis Geschichte schafft den direkten Brückenschlag zum Iran. Denn Ende 1978 ging er für die staatliche polnische Nachrichtenagentur nach Teheran. So werfen wir mit Kapuscinskis Augen den Blick auf Teheran 1979.

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