Türkisierung und Islamisierung in Nordsyrien

Türkische Verstärkungen beim Angriff auf Afrin ("Operation Olivenzweig"), 21. Januar 2018. Foto: Mark Lowen/CC BY-SA 4.0

Die Türkei betreibt eine Politik ethnischer Säuberung und Landnahme in Nordsyrien - auch mit tatkräftiger Unterstützung Deutschlands

Die von der Türkei und ihren islamistischen Söldnern besetzten Gebiete werden immer türkischer. Die Hoffnung der vertriebenen kurdischen und ezidischen Familien schwindet. Stattdessen weitet die Türkei die besetzten Gebiete aus. Mittels "embedded journalists" versucht die türkische Regierung, die Situation in den besetzten Gebieten schönzureden.

Die Region Afrin im Nordwesten Syriens wurde im Januar 2018 von der Türkei annektiert. Afrin war bis dahin eine friedliche Region, in der 96 Prozent der Bevölkerung Kurden waren. Auch Christen, Aleviten und Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Eziden (auch: Esiden oder Jesiden) lebten in Afrin - es gab eine Reihe ezidischer Dörfer und auch ezidische Heiligtümer. Nachdem Hunderttausende Kurden aus der Region flüchten mussten, beträgt der Anteil der kurdischen Bevölkerung nur noch 35 Prozent, Eziden und Christen gibt es in Afrin keine mehr.

Trotz des Syrienkrieges ging es den Menschen in der Region nicht schlecht, das Land ist fruchtbar. Viele Familien lebten von den Erträgen ihrer jahrhundertealten Olivenbäume. Sie produzierten das für seine gute Qualität bekannte Afrin-Olivenöl und die auch bei uns beliebte Aleppo-Olivenseife. Mit dem Einmarsch der Türkei war es vorbei mit dem Frieden. Türkisches Militär und von der türkischen Regierung ausgebildete und bezahlte islamistische Söldner eroberten Dorf um Dorf und schließlich auch Afrin-Stadt. Russland gab damals den Luftraum für türkische Kampfbomber frei.

Die Selbstverteidigungseinheiten der demokratischen Selbstverwaltung von Nordsyrien konnten die Region gegen die militärische Überlegenheit der Türkei mit ihren Luftangriffen nicht halten und riefen die Bevölkerung zur Flucht auf. Viele flüchteten in die benachbarte Sheba-Region und leben seitdem in schlecht ausgestatteten Flüchtlingscamps, die immer wieder durch türkische Militärschläge terrorisiert werden. Viele hatten die Hoffnung, der Westen würde der Türkei Einhalt gebieten und sie könnten in ihre Häuser zurückkehren. Doch es kam ganz anders.

Vertreibung, Mord, Vergewaltigung und ethnische Säuberungen in den türkisch besetzten Gebieten

Die türkischen Besatzer vertrieben viele der verbliebenen kurdischen Familien, zerstörten oder besetzten die Häuser. Fawsi Dilbar, Mitglied der SPD in Bonn, berichtet auf Facebook und zeigt Fotos von seinem Heimatdorf in der Region Afrin vor und nach der türkischen Besatzung:

Unser Dorf wurde fast komplett ausgelöscht. Die gesamten Dorfbewohner aus meinem engsten Familien- und Bekanntenkreis wurden vertrieben. Heute sind im Dorf türkische Soldaten und Söldner stationiert und unterdrücken und schikanieren die wenigen dort gebliebenen Kurden in der Region. Eine der schönsten und friedlichsten Landschaften Nordsyriens haben die Türken in eine verwüstete Landschaft mit deutschen Leopard-Panzern umgewandelt.

Fawsi Dilbar, SPD

Die Olivenhaine der vertriebenen Kurden wurden von den türkischen Besatzern geplündert, die Ernte in die Türkei gebracht. Das Olivenöl aus Afrin landete auch in den türkischen Supermärkten in Deutschland. Danach wurden die Olivenhaine zerstört und niedergebrannt. Rund 314.400 Olivenbäume wurden seit der türkischen Besatzung vernichtet und damit auch die Lebensgrundlage vieler Familien, denn die Oliven- und Olivenölproduktion war einer der Hauptwirtschaftszweige der Region.

Kamal Sido, FDP-Mitglied und Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), zieht eine Bilanz drei Jahre nach der türkischen Besatzung:

Allein 2020 wurden 50 historische Stätten beschädigt, 72.000 Olivenbäume gefällt, 250 Häuser von islamistischen Milizen beschlagnahmt.

Kamal Sido

Die Gewaltherrschaft der türkischen Islamlistenmilizen richtet sich insbesondere gegen die Frauen in Afrin. Aktivisten haben inzwischen eine Datenbank aufgebaut, um alle Fälle verschwundener Frauen und Mädchen zu dokumentieren, die seit der Eroberung der Region durch Erdogans Soldateska massenhaft auftreten.

Mehr als 150 Frauen und Mädchen - mitunter nicht älter als 14 Jahre - sind in Afrin unter türkisch-islamistischer Okkupation entführt worden oder verschwunden. Die kurdische Region habe sich in eine "Hölle für Kurden" verwandelt, die in permanenter Angst vor Folter und dem "Verschwindenlassen" lebten, berichteten unabhängige Medien.

Ortschaften mit kurdischen Namen tragen nun türkische oder arabische Namen, der Freiheitsplatz mit dem Denkmal des kurdischen Schmieds Kawa, einer mythischen Figur, auf dem die Neujahrsfeierlichkeiten "Newroz" basieren, wurde in "Atatürk-Platz" umbenannt, das Denkmal zerstört. In den Schulen wird die türkische Sprache statt der kurdischen Sprache gelehrt.

Die Schuluniformen haben türkische Flaggen und die Bewohner der Region müssen türkische Ausweise mit sich führen, berichtet Kamal Sido. Über 300.000 Kurden seien vertrieben worden. Die türkische Währung, türkische Autokennzeichen und das türkische Telekommunikationsnetz wurden in der Region Afrin eingeführt.

Vor der Besatzung galten die sunnitischen Moslems in der Region als liberal - nun hat die Türkei hat den radikalen Islam dort eingeführt. Türkischen Gouverneuren der in der Türkei angrenzenden Provinzen wurde die Verwaltung der besetzten Gebiete übertragen. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass die Türkei die besetzten Gebiete von Syrien abspalten will.

Das gab es schon einmal in der türkischen Geschichte: bei der an Afrin angrenzenden, heute türkischen Provinz Hatay, im Jahr 1938. Damals rückte der türkische Staat als "Sicherheitskraft" in das syrische Iskenderun ein, besetzte die Region mit eigenen "Einwohnern" und führte dann ein Referendum durch, welches das Gebiet als "Provinz Hatay" der Türkei einverleibte. Dieses Ereignis wird unter Nahostexperten "Iskenderun-Modell" genannt: Besetzen, niederlassen und dann ein Referendum durchführen.