EUGMR zum Massaker am Kundus-Fluss 2009

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Bild: CherryX / CC-BY-SA-3.0

Keine Entschädigung für die Opfer: Es fehlt ein eindeutiger Kodex zur Entschädigung von Kriegsunrecht.

Am 16. Februar 2021 beendete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EUGMR) den Klageweg eines Vaters von zwei toten Kindern, die am 4. September 2009 Opfer zweier 500-Pfund- Bomben aus US-Kampfjets in Afghanistan geworden waren. Der EUGMR wies die Klage ab und lies den Vater Abdul Hanan ohne Entschädigung für den Verlust seiner Söhne zurück (Hanan v. Germany, application no. 48717769).

Die Bomben hatten die US-Piloten auf Anforderung des deutschen Kommandanten des Bundeswehrstützpunktes in Kundus, Oberst Georg Klein, abgeworfen. Klein hatte befürchtet, dass das Ziel des Angriffs, zwei von den Taliban gestohlene Tanklastwagen, als rollende Bomben gegen den Stützpunkt eingesetzt werden könnten. Die Lastwagen fuhren jedoch in die entgegengesetzte Richtung vom Stützpunkt weg, der einige Kilometer entfernt war, und staken auf einer Sandbank im Kundus-Fluss fest.

Die US-Piloten hatten Klein vorgeschlagen, zunächst über die Lastwagen hinwegzufliegen, um die Menschen, die sich inzwischen zahlreich versammelt hatten, zu warnen und zu vertreiben. Doch Klein beharrte auf dem sofortigen Angriff. Er vermutete, dass sich dort überwiegend Taliban befänden, wie ihm ein afghanischer Gewährsmann berichtet hatte.

Es waren aber wohl überwiegend Zivilisten, Männer und Frauen, aber auch viele Kinder, die das Öl abzapfen wollten. Die genaue Zahl ist nie ermittelt worden, die Bundeswehr spricht von 91 Toten, anderen Angaben zufolge waren es 142. Unter ihnen die beiden Söhne Abdul Hanans: Nesarullah (8) und Abdul Bayan (12).

Die Überprüfung dieses in der Geschichte der Bundeswehr wohl tödlichsten Angriffs verlief anfangs zögerlich und endete nach fünf Jahren für die Opfer enttäuschend. Die zuständige Generalanwaltschaft Dresden gab alsbald das Verfahren an die Bundesanwaltschaft ab, die ein halbes Jahr nachdem Angriff am 15. März 2010 die Ermittlungen begann, aber schon am 16. April wieder einstellte, da ein Verstoß gegen das deutsche Strafrecht oder das Völkerstrafrecht nicht erkennbar sei.

Die Anwaltschaft führte keine Untersuchungen vor Ort durch, hörte keine Überlebenden des Massakers, keine Augenzeuginnen oder Augenzeugen und nur vier allgemeine Zeugen. Die Ermittlungen stützten sich im Wesentlichen auf militärische Informationen und Opferlisten einer afghanischen Untersuchungskommission. Den Anwältinnen und Anwälten wurde nach vergeblichen Versuchen nur eingeschränkt Akteneinsicht gewährt, den Einstellungsbescheid bekamen sie zur Überprüfung erst ein halbes Jahr nach seinem Erlass ausgehändigt.

Kein rechtliches Gehör vor höchsten deutschen Gerichten

Schließlich musste das Bundesverfassungsgericht sich mit dem Fall beschäftigen und wies am 19. Mai 2015 die Verfassungsbeschwerde zurück. Es befand, dass Oberst Klein zu Recht davon ausgehen konnte, dass der Stützpunkt in Gefahr sei und er keine Informationen über Zivilisten auf der Sandbank hatte.

Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Bundestages kam nach 79 Sitzungstagen Ende Oktober 2011 zu einem unterschiedlichen Ergebnis. Während CDU/CSU und FDP Oberst Klein keinen Vorwurf machen wollten, meinten die Politikerinnen und Politiker der Opposition, es seien bei der Lagebeurteilung zu viele gravierende Fehler gemacht worden, es habe keine Bedrohungslage gegeben. Klein habe auch Einsatzregeln der NATO ignoriert und ohne Vorwarnung bombardieren lassen.

Der Zivilklage auf Entschädigung, die Abdul Hanan und Qureisha Rauf, die ihren Mann durch den Angriff verloren hatte, gegen die Bundesrepublik anstrengten, ging es nicht anders. Alle Instanzen bis zum Bundesgerichtshof entschieden, dass die Bundesrepublik nicht für den Angriff am Kundus-Fluss hafte und deswegen auch nicht schadensersatzpflichtig sei.

Als einmalige "Entschädigung" hatte die Bundesregierung ein Jahr nach dem Massaker den Angehörigen 5.000 US-Dollar für jedes Opfer gezahlt, "als freiwillige humanitäre Hilfsleistung ohne Schuldeingeständnis". Hanan hatte allerdings das Geld nur für einen seiner beiden getöteten Söhne erhalten.

Auf keiner Stufe der Auseinandersetzung mit der deutschen Justiz hatte Abdul Hanan rechtliches Gehör erhalten, ob bei der Bundesanwaltschaft, dem Oberlandesgericht Düsseldorf oder dem Bundesverfassungsgericht.

Der EUGMR

Er wollte sich damit nicht zufrieden geben und erhob im Januar 2016 Zivilbeschwerde vor dem EUGMR. Unterstützt und vertreten wurde er dabei von dem Europeen Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Berlin.

Er wirft der Bundesregierung insbesondere mangelnde Aufklärung des Luftangriffs auf die beiden Tanklastwagen vor. Der Angriff habe den Erfordernissen des Humanitären Völkerrechts nicht entsprochen, er habe die gebotene Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten unterlassen, der Bombenangriff sei vollkommen unverhältnismäßig zum angegriffenen Ziel und auch nicht notwendig gewesen, da die Wagen auf der Sandbank im Fluss festsaßen.

Das alles sei vollkommen unzureichend untersucht worden, man wollte offensichtlich das Militär vor der Verantwortung schützen. Er bezweifelte die Unabhängigkeit der Soldaten und Soldatinnen, die die Untersuchungen führten, sowie der Bundesanwaltschaft. Es habe zahlreiche Verzögerungen, aber auch politische Einflussnahme auf die Ermittlungen gegeben, die Betroffenen seien vollkommen unzureichend beteiligt worden. Zudem seien die Betroffenen nur unzureichend bei den Untersuchungen beteiligt worden.

Der EUGMR verhandelte die Beschwerde vor der Großen Kammer mit 17 Richtern, da er dem Fall außerordentliche Bedeutung beimaß. Er hatte zunächst darüber zu entscheiden, ob er für ein Ereignis, welches außerhalb der Grenzen Europas stattgefunden hatte, überhaupt zuständig war.

Das bejahte die Kammer, denn Deutschland hatte nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) die ausschließliche Rechtsprechungsgewalt über Kriegsverbrechen und illegale Tötungen seiner Soldaten. So konnte die Kammer die Untersuchungen und Entscheidungen der deutschen Justiz auch überprüfen.

Dies war der einzig positive Teil der Entscheidung, da sie zumindest die Möglichkeit eröffnet, Kriegsverbrechen der europäischen Staaten nicht nur von ihnen selbst überprüfen zu lassen, sondern außer vor den IStGH auch vor ein europäisches Gericht zu bringen.

Allerdings beschränkte sich die Untersuchung der Kammer auf der Basis von Artikel 2 der "Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (EMRK) -"Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden..." - auf die Ermittlungen der deutschen Instanzen, ob sie gründlich und effektiv geführt worden waren.

Den Luftangriff selbst werteten die Richterinnen und Richter nicht. Sie erkannten eine Vielzahl von Mängeln bei der deutschen Aufarbeitung des Angriffs: Dass Oberst Klein selbst an Teilen der Untersuchung beteiligt worden war, dass es sechs Monate bis zur ersten strafrechtlichen Untersuchung gedauert habe, dass die Untersuchung ohne die Anhörung des Klägers abgeschlossen wurde und den Anwälten der Zugang zu den Akten verwehrt wurde. Das sind schwerwiegende Fehler, die nicht für ein korrektes Verfahren sprechen.

Die Große Kammer befand das zwar als "bedauerlich" und "problematisch" aber nicht so problematisch, dass es die effektive Natur der Ermittlungen in Frage stelle. Der Gerichtshof hielt die Aufarbeitung für ausreichend und wies die Beschwerde ab.

Es bleibt ein Kriegsverbrechen: Mängel des Humanitären Völkerrechts

Die Entscheidung ist nicht nur für den Kläger enttäuschend. Der Luftangriff war ein schweres Kriegsverbrechen, bei dem die hohe Anzahl an zivilen Opfern nicht mehr als akzeptabler Kollateralschaden bezeichnet werden kann.

Oberst Klein mag zu sehr seinem Informanten geglaubt und die reale Situation verkannt haben, es bleibt jedoch ein Kriegsverbrechen, für das die Bundesrepublik zu haften hat. Hätte sie jedoch ihre Verantwortung für ein Kriegsverbrechen eingestanden, hätte sie nicht nur Entschädigungsansprüche begleichen müssen, sondern die Legitimität des gesamten Afghanistaneinsatzes grundlegend wäre in Frage gestellt worden.

Dies zu vermeiden war bestimmt ein wesentlicher Grund der unzureichenden Aufklärung. Der Bundesgerichtshof hat die Rechtsposition der Bundesregierung, dass Ansprüche wegen Amtspflichtverletzungen in bewaffneten Konflikten generell nicht geltend gemacht werden können, bestätigt.

Hat das nationale Recht schon keine Gesetze für die Wiedergutmachung von Verbrechen im Krieg, so zeigt dieser Fall gleichzeitig die Mangelhaftigkeit des Humanitären Völkerrechts. Es versucht zwar möglichst umfassend zivile Personen und Güter in bewaffneten Konflikten zu schützen, Kriegsverbrechen können seit zwanzig Jahren auch international bestraft werden, aber die zivile Haftung der Staaten für Kriegsverbrechen ihrer Truppen ist vollkommen unzureichend geregelt.

Entschädigungsklagen, ob für Völkermord in der Vergangenheit außer im Rahmen des Holocaust, Massaker der deutschen Armee in den vierziger Jahren in Griechenland und Italien, zivile Opfer im Jugoslawienkrieg 1999 oder Opfer von Agent Orange in Vietnam und Opfer des völkerrechtswidrigen Angriffs auf Bagdad 2003, haben derzeit keinen Erfolg vor den Gerichten.

Es fehlt ein eindeutiger Kodex zu Entschädigung von Kriegsunrecht. Doch der ist nur mit einem internationalen Vertrag zu erreichen, eine dringende Aufgabe für die Zukunft, wenn die Staaten nicht auf den Krieg verzichten können.