Die Feindschaften des Benjamin Netanjahu

Netanjahu, am Telefon mit Donald J. Trump. Bild: U.S. Department of State/gemeinfrei

Weil sich Premierminister Netanjahu an die Macht klammert, steht Israel vor einer fast unmöglichen Regierungsbildung

Die israelische Geschichte ist ziemlich reich an dramatischen, aber auch an absurden Episoden: Kriege brechen von einer Minute auf die andere los, bis plötzlich wieder Frieden ist, und Regierungen werden auch schon mal pünktlich zu den Abendnachrichten aufgelöst, um dann zum Morgenmagazin wieder auferstanden zu sein. Und manchmal findet man auch den Botschafter in El Salvador an einen Baum gefesselt.

Was in Israel derzeit passiert, wird mit Sicherheit in einigen Jahren als eine dieser Episoden erzählt werden, mit dem Unterschied, dass die Menschen dann bereits das Ende kennen werden, und nicht mehr das ereignislose Warten erleben müssen, dass Öffentlichkeit und Berichterstatter momentan gleichermaßen ereilt hat.

Zum vierten Mal innerhalb von nur zwei Jahren wurde am Dienstag ein neues Parlament gewählt, nachdem es nach den drei Urnengängen zuvor nicht gelungen war, eine handlungsfähige, stabile Regierung zu bilden. Und noch am Nachmittag des darauffolgenden Tags war unklar, wer denn nun als Sieger aus dieser Wahl hervorgegangen ist; wurde gerätselt, wie sich aus alldem wohl eine handlungsfähige, stabile Regierung bilden lassen könnte.

Und das liegt nicht vor allem an den 13 Parteien und Wahlbündnissen, die den Einzug in die Knesset geschafft haben, und auch nicht daran, dass die inhaltlichen oder ideologischen Differenzen so besonders groß wären; ganz im Gegenteil: Auf dem Papier, in der Theorie, ist der Fall eigentlich klar.

Jene Fraktionen, die dem rechten oder religiösen Spektrum zuzuordnen sind, kommen auf um die 72 der 120 Parlamentssitze; die größte davon ist der Likud von Regierungschef Benjamin Netanjahu mit um die 30 Sitze - "um die", weil sich aufgrund der langwierigen Stimmauszählung und des komplizierten Wahlsystems auch noch Tage nach der Wahl Veränderungen ergeben können. Doch die Tendenz ist offensichtlich.

Der Likud könnte bequem jetzt sofort eine Regierung bilden, die wahrscheinlich auch ziemlich stabil die nächsten vier Jahre überstehen würde. Aber so war es auch schon nach den Wahlen eins bis drei seit 2019; dass es trotzdem nicht geklappt hat, liegt nahezu ausschließlich an der Person Netanjahu.

Denn in der nationalen Politik geht es schon seit Jahren nicht mehr nur allein um politische und gesellschaftliche Themen; teilweise spielen sie, wie beispielsweise der Friedensprozess oder die soziale Gerechtigkeit, kaum noch eine Rolle. Stattdessen prägen persönliche Streitigkeiten und Feindschaften und die Korruptionsskandale Netanjahus den politischen Alltag und haben den Handlungsspielraum des seit elf Jahren durchgehend amtierenden Netanjahu deutlich eingeschränkt, bis er nun bei nahezu null angekommen ist.

Möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen im Parlament

Dass im Parlament viele Fraktionen vertreten sind, ist in Israel eher die Regel, sollte es auch sein: Um möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen im Einwanderungsland Israel abzubilden, wurde bereits vor der Staatsgründung ein Wahlsystem geschaffen, das möglichst alle Gesellschaftsgruppen im Parlament abbilden soll.

Erst in den späteren Jahrzehnten wurde dann eine Wahlhürde eingeführt und schrittweise erhöht. Heute liegt sie bei 3,25 %. Ziel war ursprünglich gewesen, Parteien dazu zu bringen, sich zusammenzuschließen und mehr als nur eine Gesellschaftsgruppe zu repräsentieren.

Funktioniert hat das kaum: Zwar bilden sich kurz vor Wahlen immer wieder Wahlbündnisse mit klingenden Namen, um die Chancen auf ein Überschreiten der Wahlhürde zu erhöhen. Doch sehr oft zerfallen diese gemeinsamen Listen dann nach der Wahl sehr schnell wieder in ihre Bestandteile. Daneben gibt es aber seit einigen Jahren auch ein anderes Phänomen, dass es zunehmend schwer macht, die politische Ausrichtung von Parteien und Wahllisten einzuordnen.

Die Ex-Militärs

Prominente ehemalige Militäroffiziere oder Politiker, die sich mit ihrer Partei verkracht haben, gründen eigene Parteien, wenn sie keine neue politische Heimat finden, weil man nicht als Einzelkandidat für das Parlament kandidieren kann. Denn wer genug Stimmen erhält, um über die 3,25 % zu kommen, hat damit auch gleichzeitig mindestens drei, meist aber vier Mandate erhalten, die besetzt werden müssen.

Und das sieht dann stets so aus: Beispielsweise ein ehemaliger Generalstabschef entscheidet sich, in die Politik zu gehen und gründet deshalb eine Partei. Auf Listenplatz 1 steht dann der Ex-Militär, der mit etwas Glück und Geschick vielleicht auch weitere Prominente, gerne Journalisten oder in den Ruhestand gegangene Ex-Politiker, dazu bringen kann, auf seiner Liste zu kandidieren.

Doch so viele davon gibt es nicht, weshalb auf den hinteren Listenplätze viel öfter Freunde oder Bekannte stehen, deren politische Überzeugung nie klar erkennbar ist. Und die Programme solcher Parteien sind so gut wie immer ziemlich inhaltslos: Ein bisschen Frieden, viel soziale Gerechtigkeit, aber auch irgendwie ein Bekenntnis mindestens zu den großen Siedlungsblöcken. Einziges Ziel: Möglichst viele Wähler ansprechen.

25 Prozent

Im Team Netanjahu waren diese Neu-Parteien bislang als relativ einfach zu überzeugende Mehrheitsbeschaffer beliebt. Denn die Mandatszahlen des Likud sehen zwar beeindruckend aus; die Prozentzahlen sind es aber nicht: Regelmäßig holt man um die 25 %, manchmal auch ein bisschen mehr.

Die in den vergangenen Jahren immer wieder von Netanjahus PR-Leuten geäußerte Behauptung, er sei von der Mehrheit gewählt, beruhte vor allem auf regelrechten Treueschwüren, die er seiner eigenen Partei, aber auch jenen rechten und religiösen Parteien abverlangte, die fest an seiner Seite standen: Sie warben damit, dass eine Stimme für ihre Partei auch eine Stimme für einen Regierungschef Netanjahu sei. Meist reichte das tatsächlich für eine hauchdünne Mehrheit von oft gerade einmal einem Sitz.

Man hat sich entfremdet

Mittlerweile nicht mehr. Man hat sich entfremdet. Denn während sich Netanjahu derzeit mit einer recht erfolgreich verlaufenen Impfkampagne und Deals mit vier arabischen Staaten schmückt, gibt es auch eine andere Realität: Auf die wirtschaftliche und soziale Not reagierte der Premier nicht, kontinuierlich wurden seit Beginn der Pandemie Entscheidungen unter Umgehung der eigentlich vorgeschriebenen Entscheidungsprozesse gefällt. Die Beschwerdeliste seiner Koalitionspartner zwischen Wahl 3 und 4 ist sehr lang. Und seine festen Partner weniger geworden.

Vor dieser Wahl hatten sich nur noch der Likud und die beiden ultraorthodoxen Parteien fest hinter Netanjahu gestellt; zusammen ist man auf um die 46 Sitze gekommen. Und eine Neu-Partei um den rechten ex-Likudnik Gideon Sa'ar nahm dem Likud sechs Mandate ab. Sa'ar und Netanjahu sind persönlich verfeindet.

Und auch Avigdor Liebermann, Chef der auf russische Wähler abzielenden Jisrael Beitenu, kann dem Regierungschef nichts mehr abgewinnen - ebenso wie Naftali Bennett, Chef der Siedler-Partei Jamina, wobei die Abneigung zwischen den beiden nicht ganz so schlimm ist wie bei den anderen, obwohl es dafür sicherlich gute Gründe gäbe: Eine Koalition hat er jedenfalls nicht kategorisch ausgeschlossen. Rechnet man ihn ein, kommt Netanjahu auf 59 Sitze und damit auf ein weiteres Problem.

Darin eingeschlossen sind auch die Mandate der Religiösen Zionisten, die um die sechs Mandate erhalten. Auf deren Liste stehen auch Kandidaten, die der als Terrororganisation verbotenen Kach-Bewegung nahestehen. Vor der Wahl machten sie vor allem mit rassistischen und homophoben Aussagen auf sich aufmerksam; im Regelbetrieb wäre es undenkbar, überhaupt nur an eine Regierungsbeteiligung zu denken. Denn ebenso undenkbar ist es, dass diese Gruppe in der Koalition bleiben würde, wenn sie nicht das bekommt, was sie fordert.

Regierung mit islamisch-konservativen, arabischen Ra'am-Partei?

Womit wir nun zur eingangs angekündigten absurden Entwicklung kommen: Im Umfeld Netanjahus liebäugelt man mit einer Unterstützung der Regierungsbildung durch die islamisch-konservative, arabische Ra'am-Partei, die das auch noch explizit nicht ausschließt.

Im Wahlkampf hatten der Regierungschef und der Parteivorsitzende Mansur Abbas engere Kontakte entwickelt; Abbas wurde von Netanjahu regelrecht mit dem Versprechen gelockt, den Ausbau der Infrastruktur und der Polizeipräsenz in den oft unterentwickelten, unter einer hohen Kriminalitätsrate leidenden Regionen fördern zu wollen, in denen überwiegend Araber leben. Eine Anfrage an Abbas, ob er tatsächlich einer Partei in die Regierung verhelfen wolle, die offen für eine Vertreibung aller nicht-jüdischen Bürger eintritt, ließ Abbas unbeantwortet.

Anwärter auf die Nachfolge Netanjahus

Der wahrscheinlichste Anwärter auf die Nachfolge Netanjahus wäre aktuell Jair Lapid, dessen Zukunftspartei auf um die 17 Sitze kommt und eine Regierungsbeteiligung unter Netanjahu kategorisch ausschließt. Vor der letzten Wahl war man kurzzeitig Teil des Wahlbündnisses Blau-Weiß mit der Neu-Partei des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz, bis der entschied, seinen Teil des Bündnisses in die Regierung zu führen. Netanjahu hatte ihm zuvor eine Machtteilung versprochen; tatsächlich umging er ihn aber, wo er konnte - was dann am Ende zu dieser Wahl geführt hat.

Doch auch Lapid hat kaum Aussichten auf eine erfolgreiche Regierungsbildung: Er bräuchte die beiden linken Parteien Meretz und Awodah, sowie die arabische Partei "Vereinte Liste", Gantz' Blau-Weiß-Partei und dann noch einige der rechten oder religiösen Parteien, also Fraktionen, die so unterschiedlich sind, dass eine Koalition kaum denkbar scheint.

Nüchtern betrachtet gibt es nur zwei Möglichkeiten, eine fünfte Wahl zu umgehen. Erstens: Mindestens zwei Parteien, die bislang eine Regierungsbildung mit Netanjahu ausgeschlossen haben, machen eine Kehrtwende. Oder Netanjahu überlässt einem anderen Abgeordneten die Regierungsbildung, was dann wohl zu einem sehr abrupten Ende der Regierungskrise führen würde. Denn die potenziellen Koalitionspartner haben ja kein Problem mit dem Likud, sondern mit Netanjahu.