Welche Rolle spielt der Migrationshintergrund bei den Corona-Erkrankungen?

Nicht immer geht es um rechtspopulistische Gründe, wenn danach gefragt wird

Wenn in Deutschland der Migrationshintergrund bestimmter Menschen, die oft jahrzehntelang hier leben und womöglich auch hier geboren wurden, in den Mittelpunkt gestellt wird, schrillen mit Recht schnell die Alarmglocken. Denn meistens beginnt dann eine rechtspopulistische Erzählung, wonach bestimmte Menschen eigentlich gar nicht hergehören, weil ihre Urahnen nicht in deutschen Landen lebten.

Daher mussten man auch misstrauisch sein, als die Bild-Zeitung, die schließlich jahrzehntelange Übung in rechtspopulistischem Rassismus hat, was viele vergessen, die sich jetzt so sehr über Fakenews im Internet ereifern, über Gespräche von Mitarbeitern des Robert Koch-Instituts berichtete, die ihre Besorgnis über eine hohe Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund unter den Corona-Patienten auf den Intensivstationen äußerten.

Dass in der Schlagzeile gleich von einem Tabu die Rede war, verstärkt die Skepsis noch. Schließlich darf in kaum einer rechtspopulistischen Erzählung der Satz "Das wird man doch noch sagen dürfen" fehlen, womit sich Autoren mit Millionenauflagen als Tabubrecher gerieren.

Der Publizist Volkan Agar, der sich in seiner regelmäßigen Kolumne Postprolet sachkundig mit der Verknüpfung von kapitalistischer Ausbeutung und rassistischer Unterdrückung in Deutschland befasst, brachte seine Gedanken zur Bild-Schlagzeile auf folgenden Punkt:

Als kürzlich die Frage aufkam, ob besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund coronabedingt auf Intensivstationen behandelt würden, habe ich erst geschluckt. Denn die "Bild" berichtete über eine vermeintliche Aussage des RKI-Chefs Lothar Wieler. Es wäre nicht das erste Mal, dass Corona zum Problem vermeintlich Fremder erklärt wird, siehe Iduna- Zentrum in Göttingen. Auf den zweiten Blick schien mir die Aussage als nicht so unwahrscheinlich. Eine Umfrage der Zeit zeigt, dass in manchen Krankenhäusern tatsächlich auffällig viele Menschen mit Migrationshintergrund behandelt werden.

Volkan Agar, taz

"Die Frage nach dem Migrationshintergrund ist wie ein Messer"

Hier macht Volkan Agar deutlich, dass die Frage nach dem Migrationshintergrund nicht immer abzulehnen ist. Zum gleichen Fazit kam eine Diskussionsrunde des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung unter dem Titel "Sprachbarriere oder struktureller Rassismus- warum erkranken Migrant*innen an Corona?".

Dort war mit Thomas Voshaar auch der Chefarzt der Moerser Lungenkliniken eingeladen, der gegen seinen Willen als einer der Ärzte, die sich über den Migrationshintergrund von Corona-Patienten unterhalten hatten, in der Bild-Zeitung namentlich genannt wurde. Nach wenigen Tagen habe er sich dann entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, erklärt er in der Debatte. Es gehe ihm darum, mit seinen Informationen dafür zu sorgen, dass Menschen mit Migrationshintergrund die bestmögliche gesundheitliche Versorgung erhalten.

Unterstützt wurde er dabei vom Vorsitzenden des Bundeszuwanderungsrates Mehmet Kilic. "Die Frage des Migrationshintergrundes ist wie ein Messer. Sie kann Migranten schaden, wenn sie damit diskriminiert werden sollen. Doch sie kann ihnen auch nützen, wenn sie Informationen liefert, die eine bessere medizinische Behandlung ermöglichen", erklärte der Jurist.

Dafür lieferte die Publizistin Gilda Sahebi, die sich der Frage widmet, ob es im deutschen Gesundheitssystem strukturellen Rassismus gibt, einige Beispiele. Sie beschreibt, dass Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund oft bestimmte mit Nebenwirkungen verbundene Medikamente nicht verabreicht werden, weil das Klinikpersonal davon ausgeht, dass die erforderlichen medizinischen Erklärungen auf Grund von Sprachproblemen nicht verstanden werden.

Konkret bekommen deshalb gebärenden Frauen mit Migrationshintergrund nach Sahebis Recherchen oft ein schmerzlinderndes Mittel nicht gespritzt. Hier könnte das Problem schnell beseitigt werden, wenn es in den Klinken Dolmetscher in den verschiedenen Sprachen gäbe. Kilic wies in der Diskussion darauf hin, dass bei Gericht staatlich bezahlte Sprachermittler seit langem selbstverständlich sind. Warum sollte das nicht auch im Gesundheitssystem so praktiziert werden, wo es dem Patientenwohl dient, lautet seine berechtigte Frage.

Es sind die Arbeits- und Wohnverhältnisse, die krank machen

Doch mit mehr Sprachermittlern allein wird man die Frage nach den Ursachen für viele Covid-Erkrankungen bei Menschen mit Migrationshintergrund nicht beantworten, das wurde bei der Diskussion schnell klar. Dazu muss das Lebensumfeld der Menschen in den Mittelpunkt gestellt werden.

Die Soziologin Laura Scholaske wies darauf hin, dass migrierte Menschen der sogenannten Gastarbeitergeneration zunächst gesünder sind, da sie meist jung sind und voller Optimismus nach Deutschhand kommen. Die gesundheitlichen Probleme haben sie dann bekommen, weil sie in gesundheitsgefährdenden Jobs arbeiten oder beengt wohnen mussten. Auch Mehmet Kilic erklärte, dass viele Migranten im Öffentlichen Nahverkehr zu ihren Arbeitsstellen fahren müssen, für die es wie beispielsweise auch bei der Pflege oder an der Supermarktkasse nie einen Lockdown gab.

Krank im deutschen Schweine-Schlachterei-System

Die Gewerkschafter Kathrin Birner und Stefan Dietl haben in ihren kürzlich im Unrast-Verlag erschienenen Buch "Die modernen Wanderarbeiter*innen - Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte" an mehreren Beispielen, die im letzten Jahr kurz durch die Medien gegangen sind, deutlich gemacht, wie die Arbeits- und Lebensverhältnisse der migrierten Beschäftigten für Covid-Erkrankung verantwortlich ist.

Das Autorenduo beschreibt sehr eindrücklich die auch ohne Corona menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen in der deutschen Fleischindustrie, wofür die Firma Tönnies bekannt wurde. Als die Covid-19-Erkrankungen bekannt wurde, versuchten die Firmenvertreter die angeblich geselligere Freizeitverhalten der meist osteuropäischen Arbeiter dafür verantwortlich zu machen.

Doch diese Ablenkung, die die die Schuld bei den Erkrankten sucht, ließ sich hier zum größten Teil nicht aufrechterhalten. Dafür sorgten die Proteste der Beschäftigten und eine zumindest in Teilen für die Thematik sensibilisierte Öffentlichkeit.

Das führte dazu, dass es eine größere Debatte und einige halbherzige politische Reformen gibt, die aber am Kern des Problems nichts verändern und es nicht lösen. Die Überausbeutung der Wanderarbeiter ist eine Grundlage für das deutsche Wirtschaftsmodell. Das machen Birner und Dietl ebenso deutlich, wie die sie auch in jedem Kapitel betonen, dass es Verbesserungen nur gibt, wenn sich die Betroffenen organisieren und wehren und dann auf eine solidarischen Bündnisstruktur treffen.

Eine Grundlage dafür wäre, alle ethnisierenden Erklärungsmuster, die bestimmte Häufungen von Krankheiten in die Menschen aus anderen Ländern und deren Kultur projizieren, zurückzuweisen. Es sind die Verhältnisse, unter denen sie in Deutschland leben und arbeiten müssen, die die Menschen krank machen.

Weil Lohnabhängige mit Migrationshintergrund, egal ob sie seit Jahren hier leben oder nur jedes Jahr als Wanderarbeiter hierherkommen, besonders betroffen sind, sollte auch über den Migrationshintergrund der Betroffenen geredet werden, um die krankmachenden Verhältnisse in Deutschland zum Gegenstand der Kritik zu machen.