Deutsche Türkei-Politik: Roter Teppich für Despoten

Sprachen sich beim letzten Treffen mit "Lieber Heiko" und "Lieber Mevlüt" an. Bild Heiko Maas: Connectedmorgenbriefing / CC-BY-SA-4.0; Bild Mevlüt Çavuşoğlu: Saeima / CC-BY-SA-2.0


Die Haltung der Bundesregierung und der Anbiederungskurs der Sozialdemokratie gegenüber dem AKP-MHP-Regime sind für die Opposition im Land schwer zu ertragen

Das autoritäre Regime in der Türkei spaltet im Inland die Gesellschaft, schüchtert sie ein, verbreitet Angst und Verzweiflung durch Diffamierung, Erpressung, Einkerkerung und durch gezieltes Töten. Manche im Westen mögen meinen, dass dies nicht ungewöhnlich sei für ein Regime im Nahen Osten.

Aber die Türkei unterscheidet sich von den anderen Ländern im Nahen Osten dadurch, dass sie internationalen Abkommen und Konventionen beigetreten ist, die die Menschenrechte ausdrücklich garantieren und unter staatlichen Schutz stellen. Die Türkei ist Unterzeichnerin der Europäischen Menschenrechtskonvention. Hier verpflichtet sie sich unter anderem zur Achtung der Menschenrechte. Jeder Bürger und jede Bürgerin eines Unterzeichnerstaates hat das Recht, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anzurufen, wenn eines ihrer festgeschriebenen Rechte verletzt wird. Alle Urteile des EGMR sind bindend für alle Mitglieder des Europarats, also auch für die Türkei.

Zu den Menschenrechten in der Europäischen Menschenrechtskonvention gehören unter anderem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und somit das Folterverbot, das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie das Recht auf ein faires Verfahren.

Es vergeht kein Tag, an dem in oppositionellen türkischsprachigen Medien nicht über die Verletzung gerade dieser Rechte berichtet wird. Manchmal schaffen es diese Nachrichten auch in die westlichen und deutschen Medien. Bis vor ungefähr zehn Jahren bestritt die AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdogan die Verletzung der Grundrechte der Bürger. Dann begann eine schleichende "Normalisierung" der Beschneidung von Bürgerrechten, die unter dem Schutz von nationalem und internationalem Recht stehen.

Ab 2015 und insbesondere nach dem versuchten Militärputsch von 2016 macht das inzwischen totalitäre Regime in der Türkei keinen Hehl daraus, dass in Gefängnissen gefoltert wird, dass Menschen bei der Ausübung ihres Rechts auf die Versammlungsfreiheit auf offener Straße erschossen werden, dass Abgeordnete ohne Verurteilung in Gefängnisse gesteckt werden, dass gewählte Bürgermeister in kurdischen Städten durch Zwangsverwalter von Gnaden der AKP ersetzt werden.

Abschied von Frauen- und Kinderrechten per Dekret

Zuletzt wurde die Istanbul-Konvention des Europarats zum Schutz von Frauen und Kindern vor häuslicher Gewalt mit einem einfachen Dekret von Erdogan außer Kraft gesetzt. Durch die Konvention sollten Gesetze zum Schutz von Frauen und Kindern auf den Weg gebracht werden. Die Annullierung des Abkommens war ein Geschenk an potenzielle Wähler im konservativ-islamischen Lager, die Gewaltschutzgesetze dieser Art als Angriff auf ihr überkommenes Familienverständnis sahen. Nach dem Willen der AKP sollen Vergewaltiger minderjähriger Mädchen straffrei ausgehen, wenn sie sich mit den Familien ihrer Opfer einigen können, diese zu heiraten.

Das EGMR hat in den letzten Jahren viele Urteile gefällt, die von der Türkei einfach ignoriert werden. Prominenteste Beispiele dafür sind die Urteile gegen den inhaftierten ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, sowie den Unternehmer und Aktivisten Osman Kavala.

Die Leidtragenden der Willkürherrschaft und -justiz sind zumeist Mitglieder und Funktionäre der HDP sowie andere Oppositionelle, häufig mit kurdischem Hintergrund.

Die islamisch-nationalistische Regierung versucht, in der Bevölkerung Verzweiflung, Frustration und Hoffnungslosigkeit zu verbreiten, damit die Menschen Augen und Ohren verschließen und sie einfach gewähren lassen - bei der Abschaffung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, in der Ausgrenzung der kurdischen Bevölkerung aus dem gesellschaftlichen Leben.

Auch im Ausland provoziert und erzeugt das Erdogan-Regime, die Koalition aus der islamisch-reaktionären AKP und der ultranationalistischen MHP, internationale Spannungen und Krisen, sie stachelt Kriege an. Ohne Zweifel, die Politik der türkischen Regierung verstößt gegen jegliches Recht. Aber was passiert indes im Ausland, im Westen, in Deutschland? Der Westen inklusive der deutschen Bundesregierung proklamiert und beansprucht eine moralische Führungsrolle für sich.

Aber den Unterdrückten in der Türkei, die Recht und Gerechtigkeit fordern, entgeht nicht, dass die Regierungen im Westen vor allem aus wirtschaftlichen Interessen heraus internationale Abkommen, das Völkerrecht und politische Ethik völlig ausblenden. Hilferufe der demokratischen Opposition werden nicht gehört. Seit Erdogans politischer Wende scheint der Westen keine Haltung, kein moralisches Rückgrat mehr zu besitzen, um echten und wirksamen Druck auf ihn auszuüben.

Die Schwelle vom Guten zum Bösen ist in der Türkei längst überschritten. Der Anstand und die Anständigen im Westen, in Deutschland dürfen nicht zulassen, dass sie auch dort überschritten wird und die europäischen Werte ausgehöhlt werden. Der türkische Despot Erdogan drängt die Deutschen und Europäer dazu, sich stetig von ihren Grundwerten zu entfernen, ihre roten Linien immer weiter aufzuweichen.

Freundschaftliche Gesten

Es darf nicht zugelassen werden, dass sich die Sozialdemokratie in Deutschland unter dem Druck eines Despoten selbst aufgibt. Schon der sozialdemokratische Außenminister Sigmar Gabriel biederte sich bei seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu an und ließ ein Foto veröffentlichen, auf dem er seinem Freund in gebückter Haltung Tee eingießt. Dieses Foto war für die Oppositionellen in der Türkei ein Schlag ins Gesicht.

Nach Beginn der völkerrechtswidrigen Invasion der Türkei im nordsyrischen Afrin im Januar 2018 wurden trotz anderslautender Versprechen von Gabriel und der "sorgfältigen Einzelfallprüfung", die die damalige sozialdemokratische Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries versprochen hatte, 20 Waffenexporte im Wert von knapp 4,4 Millionen Euro in die Türkei genehmigt. Im Herbst darauf empfing der deutsche sozialdemokratische Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den türkischen Despoten Recep Tayyip Erdogan mit allen Ehren.

Die Invasion dauert immer noch an. Inzwischen hat Deutschland einen neuen sozialdemokratischen Außenminister, den Çavuşoğlu auch seinen Freund nennt.

Wenn man die Äußerungen und Pressemeldungen von Heiko Maas analysiert, wird man schnell herausfinden, dass er die Türkei nie richtig kritisiert. Falls er es doch mal tut, folgt im Nebensatz oder im nächsten Abschnitt prompt eine Relativierung, eine Verwischung der Kritik. Zum Verbotsverfahren der HDP in der Türkei veröffentlichte das Auswärtige Amt unter Maas am 18. März eine Erklärung, in der "große Besorgnis" und "Zweifel an der Verhältnismäßigkeit" ausgedrückt wurden. Allerdings erwarte man von HDP auch eine "klare Abgrenzung" von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) abgrenzen.

Und genau das ist es, woraus Despoten wie Erdogan immer wieder neue Kraft schöpfen. Sie picken diesen Satz heraus und berichten so lange darüber, bis all ihre Anhänger glauben, was ihnen eingebläut wird: Seht ihr, der Westen, die Deutschen denken wie ich, sie geben mir Recht!

Die Zeche zahlen die demokratischen Opposition in der Türkei, die kurdische Bevölkerung, die Intellektuellen, Medien- und Kulturschaffenden, die Frauen und Kinder. Die deutsche Bundesregierung und die neue deutsche Sozialdemokratie fallen damit allen in den Rücken, die sich für Menschenrechte in der Türkei einsetzen.

Doppelmoral und Heuchelei des Westens bringen unschuldige Menschen ins Gefängnis, zwingen sie ins Exil oder töten sie.

Ziya Pir ist ehemaliger Parlamentsabgeordneter der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die aktuell in der Türkei mit einem Verbotsverfahren konfrontiert ist