Ukraine: Eskalation und Desinformation

Archivbild von November 2015: US-Fallschirmjäger und ukrainische Nationalgarde während der Übung "Fearless Guardian in der Nähe von Yavoriv", Ukraine. Bild: Sgt. Alexander Skripnichuk/US-Army/gemeinfrei

Nato warnt Russland vor destabilisierenden Maßnahmen; US-Präsident Biden und westliche Verbündete spielen ein gefährliches Spiel mit Versprechungen

Zum Glück stehen Vertreter der US-Regierung und der russischen gegenwärtig in Kontakt wie das Außenministerium in Moskau mitteilt, von Reuters gibt es ähnliche Hinweise auf einen Gesprächskontakt auf hoher Ebene.

Im Osten der Ukraine spitzt sich die Lage wieder einmal zu, wie es in Berichten heißt, die eine alarmierte Nato schildern: "Nato warnt Russland vor Eskalation in der Ukraine". Besorgt sind die Nato-Vertreter "über Russlands groß angelegte militärische Aktivitäten in der Ukraine und rund um die Ukraine", heißt es in dem Spiegel-Beitrag.

Russland habe das Waffenstillstands-Abkommen vom Juli 2020 verletzt, dazu steht der Tod von vier ukrainischen Soldaten auf der Liste der Vorwürfe gegen Russland sowie die beobachtete Verlegung von Panzern in die Grenzregionen zur Ukraine und auf die Krim. Ein Nato-Sprecher, der in einem Artikel der Welt mit einer fast wortgleichen Überschrift zitiert wird, wirft Russland destabilisierenden Maßnahme vor, die "alle Bemühungen unterminieren, die Spannungen im Rahmen des von der OSZE vermittelten (Waffenstillstands-)Abkommens vom 27. Juli 2020 zu deeskalieren".

Die Reaktion muss "wehtun"

Die EU müsse angesichts dieser militärischen Machtschau endlich klar Position beziehen und "gemeinsam mit den USA abschreckend handeln", empfiehlt ein Kommentar der Süddeutschen Zeitung. Er schlägt als Mittel der Wahl Sanktionen vor, "die wehtun":

"Der Kremlchef sollte diesmal unbedingt wissen, worauf er sich einlässt."

Die Schilderung der Lage ebenso wie die Reaktion - neben dem SZ-Kommentar lassen sich weitere Beispiele für eine ganz ähnliche Haltung finden - folgen einem bekannten Muster und sie haben ihre bekannten Schwächen: Aus einer schwierigen Informationslage wird ein einseitiges Bedrohungsbild gefertigt, das eindeutige Antworten fordert, die schmerzen sollen; Erregung spielt eine große Rolle und die auf Lagerlogik eingegrenzte Rationalität hilft nicht viel, außer die Erregung zu steigern.

Mit Warnungen gerasselt wird aber nicht nur im Westen. Russland warne vor "Nato-Soldaten als Unterstützung der Regierung in Kiew", berichtet das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der Agentur Interfax zufolge drohte Kremlsprecher Peskow: "Natürlich müsste die russische Seite dann zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten." Welche das sein könnten? Peskow: "Alle, die notwendig sind."

Das ist sehr vage und passt damit zur Informationspolitik.

A-priori-Setzungen, dünne Informationslage

Bezeichnende Sätze zum grobkörnigen Bild lauten: "Experten vermuten, dass Russland mit seiner Truppen-Verlegung die Reaktionen der neuen US-Regierung unter Präsident Joe Biden testen will." (HNA)

Oder, mit einer leicht versteckten, unabsichtlichen Pointe, in der Tagesschau:

Viele Ukrainer sorgt in diesen Tagen noch etwas anderes. Russland hat nahe der Grenze zur Ukraine und auf der annektierten Halbinsel Krim Truppen zusammengezogen und verstärkt. Unabhängige Rechercheure verbreiteten in sozialen Netzwerken Bilder von Militärtransporten.

Tagesschau

Der Leser staunt über die "unabhängigen Rechercheure" in den sozialen Netzwerken, wo doch ansonsten von der Tageschau meist Desinformationskampagnen in den sozialen Netzwerken ausgemacht werden, die nicht selten mit Russland oder Verschwörungstheoretikern verbunden werden. Hängt also alles von der Lager-Position ab? Das wäre an sich nicht neu, die Formulierung "unabhängige Rechercheure" in der Tagesschau schon. Dort heißt es weiter:

US-Präsident Joe Biden sprach in einem Telefonat mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskij von einer "andauernden russischen Aggression im Donezk-Becken und auf der Krim" und sicherte der Ukraine die Unterstützung der Vereinigten Staaten zu. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte sich besorgt

Tagesschau

Davon, wie diese Aggressionen genau aussehen, erfährt die Öffentlichkeit aus einem solchen Austausch wenig. Sie erfährt auch in den allermeisten Berichten wenig oder nichts davon, welche Geschehen, Vorgeschichten, Kontexte hinter den Geschehnissen stehen: wie es dazu kam, dass ukrainische Soldaten getötet wurden, wie es mit der russischen Truppenpräsenz und Verstärkung genau aussieht, was dies mit der berichteten Ankündigung der ukrainischen Armee, eine gemeinsame Militärübung mit der Nato in einigen Monaten abzuhalten, in Zusammenhang steht, etc.. Die russische Aggression wird als politisches a priori gesetzt.

Und das bereitet tatsächlich Sorge, nicht weil Russland eigentlich ein harmloser gemütlicher, von Desinformationen verformter Bär wäre, sondern weil es ein gefährliches Spiel ist - nicht zuletzt für die Ukraine selbst und daraus folgend für die USA und die EU.

"Hört damit auf die Ukraine für den Kampf zu bewaffnen"

Gepokert wird auf einer politischen Ebene, für die die konkreten Verhältnisse an Ort und Stelle eine vernachlässigbare Größe sind, mit dem Versprechen, dass die USA, die Nato und die EU, der Ukraine beistehen würden, wenn es ernst wird.

Das ist aber nicht der Fall. Die Nato wird für die Ukraine keinen Krieg mit Russland beginnen, wie das Anatol Lieven in einem Artikel für Responsible Statecraft sehr schlüssig begründet.

(…) im Falle eines Krieges (in der Ukraine, Anm. d. V.) kann sich Russland des Sieges sicher sein. Die russischen Streitkräfte sind denen der Ukraine haushoch überlegen, die US-Militärhilfe für die Ukraine könnte dieses Gleichgewicht zwar etwas verschieben, aber unmöglich ausgleichen. Vor allem aber kann Russland aufgrund der Erfahrungen in der Ukraine 2014 und in Georgien 2008 absolut sicher sein, dass die Vereinigten Staaten und die NATO nicht für die Ukraine kämpfen werden.

Während dieser Krisen sprach sich das Pentagon kategorisch gegen eine US-Intervention aus. Diese Haltung wird sich im Falle eines neuen Krieges wahrscheinlich nicht ändern, nicht nur wegen der katastrophalen Gefahren, die ein Krieg zwischen den USA und Russland mit sich bringen würde, sondern auch wegen der kolossalen Vorteile, die er China verschaffen würde.

Anatol Lieven, Responsible Statecraft

"Hört damit auf die Ukraine für den Kampf zu bewaffnen", im Original "stop arming Ukraine for battle", heißt die Überschrift zu dem Artikel Lievens, der am 23. März erschien. Dessen Prämisse für eine angebrachte US-Politik in der Ukraine lautet: "Die Biden-Administration muss eine Strategie der Krisenprävention zu ihrer obersten Priorität im Umgang mit Russland machen."

Versprechen, die dahingehen, dass die Führung der Ukraine, die politische und die militärische, dazu ermutigt werden, einen Krieg zu riskieren, setzen auf ein Ergebnis, das sowohl demütigend als auch gefährlich für die Vereinigten Staaten und ihre westlichen Partner wäre, lautet die Position, die Lieven vertritt und die in die Gesamtbeurteilung mithineingenommen werden muss.

Wie Lieven in einem weiteren Artikel ausführt, ist aus Erfahrung mit der Gefahr zu rechnen, dass die US-Regierung vorschnelle Konklusionen trifft, weil sie sich auf Informationen und Lageeinschätzungen verlässt, die ihr passen und die von einer am Konflikt interessierten Seite gemacht werden. Als Beispiele für Quellen von "Fehlinformationen, mit denen Washington gefüttert wird", führt Lieven an:

Iranische Monarchisten, der britische Geheimdienst, die United Fruit Company, vietnamesische Politiker; kubanische, irakische und libysche Exilanten, arabische Prinzen, afghanische Kriegsherren, eine schier endlose Abfolge lateinamerikanischer Generäle und Oligarchen - ich könnte weiter machen.

Anatol Lieven, Responsible Statecraft

Zur aktuellen Lage merkt er an, dass man keine unabhängige Evidenz dazu habe, wie es zum Tod der vier ukrainischen Soldaten kam. Auch die Financial Times sei da sehr vorsichtig geblieben.

Und er führt noch ein größeres Beispiel an, dass zu denken gibt. Der russisch-georgische Krieg von 2008. Da sei die Beweislage immer klar gewesen. Der Krieg habe damit begonnen, dass georgische Truppen in das umstrittene Gebiet von Südossetien eingedrungen waren und dort russische "Friedenstruppen" angriffen. Niemand, so Lieven, habe jemals den geringsten glaubwürdigen Beweis für das Gegenteil erbracht: "Russland unternahm einen Gegenangriff und besiegte die georgischen Truppen."

Die Bush-Regierung wie auch das gesamte überparteiliche Establishment und die US-Medien drehten diese "offensichtliche Wahrheit", so die Beobachtung Anatol Lievens, jedoch in eine Geschichte von "russischer Aggression gegen Georgien".

Es gibt also Grund zur Vorsicht. "Responsible Statecraft" ist übrigens eine Publikation des erst im Vorjahr gegründeten US-Think Tanks Quincy Institute, das sich politisch dem Lager der "Restrainer" zuordnet. Die "Zurückhaltenden" bilden eine Opposition zu denen in der politischen Welt der USA, die für Interventionen argumentieren.