Der Stoff, aus dem wir sind

Der verlassene Mensch in einer zum toten Objekt degradierten Natur? Bild: pixel2013, Pixnio

Über die Krise des Lebens auf der Erde und die Geburt der technokratischen Weltsicht

Die industrielle Zivilisation hat das Antlitz der Erde innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte radikal verändert: An die Stelle von beinahe endlosen Wäldern und vielfältigen Kulturlandschaften sind Megastädte und Industriegebiete, Straßengeflechte und Containerhäfen, landwirtschaftliche Monokulturen und Abraumhalden getreten. Gewaltige Flussläufe wurden begradigt, umgeleitet und aufgestaut, Berge untertunnelt und gesprengt.

Was auf der einen Seite als Triumph der Zivilisation über die Natur erscheint, als Beweis der Macht und Intelligenz des Menschen, erweist sich auf der anderen Seite als Verhängnis: Der vermeintliche Sieg über die Naturgewalten hat den Planeten in eine der tiefsten Krisen seiner Geschichte gesteuert.

Nie zuvor seit 66 Millionen Jahren, als die Dinosaurier von der Erde weitgehend verschwanden, starben so schnell so viele Tier- und Pflanzenarten aus. Das Klimasystem nähert sich gefährlichen Kipppunkten; werden sie überschritten, drohen ganze Erdregionen unbewohnbar zu werden. Ob die Gattung Homo diesen Prozess letztlich überleben wird, ist alles andere als gewiss.

Obwohl all dies im Prinzip seit Jahrzehnten bekannt ist, ist unsere Zivilisation offensichtlich unfähig, ihren Kurs zu korrigieren. Weder die immer drängenderen Warnrufe von Zehntausenden Wissenschaftlern noch die Millionen von Menschen, die für die Rettung des Planeten weltweit auf die Straße gehen, haben daran etwas Wesentliches geändert. Wie ich in meinem Buch Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation gezeigt habe, reichen die Gründe dafür tief in die ökonomischen, politischen und ideologischen Fundamente unserer Gesellschaft hinein.

Zu diesen Tiefenstrukturen gehört auch ein besonderes Verhältnis zu dem, was wir "Natur" nennen. Für die Pioniere der mechanistischen Wissenschaft, die in der Frühen Neuzeit entstand und prägend für unsere Zivilisation werden sollte, bestand die Natur aus vom Menschen getrennten Objekten, die sich beliebig zerlegen, analysieren, neu zusammensetzen und kontrollieren ließen. Alles, so schien es, könne der Mensch ergründen und schließlich beherrschen.

Doch tatsächlich haben sich, wie wir im Laufe meines neuen Buches Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen sehen werden, genau diese Annahmen mittlerweile auf allen Ebenen als falsch erwiesen: Erstens zeigt sich der Stoff, aus dem wir sind, als immer rätselhafter, je tiefer die Wissenschaft in ihn eindringt; zweitens lässt er sich nicht in isolierte Objekte auftrennen; und drittens führt der Versuch einer totalen Kontrolle über die Natur geradewegs in den ökologischen Kollaps - und damit in einen zunehmenden Kontrollverlust.

Doch diese Erkenntnisse haben sich bisher in unserem alltäglichen Bewusstsein und Handeln nicht durchsetzen können. Wir sprechen noch immer selbstverständlich so, als sei die Natur etwas, das unabhängig von uns "da draußen" existiert, eine "Umwelt", die uns umgibt, während wir selbst einer anderen Sphäre angehörten: der "Zivilisation". Wir tun so, als würden uns die Verwerfungen in der Biosphäre kaum mehr angehen als ein Film auf einer Leinwand, den wir bei Bedarf einfach abschalten können.

Inzwischen bewegen wir uns die meiste wache Zeit in einer digitalen Technosphäre, in der die nicht menschengemachte Welt nur noch als Bild, als Datensatz vorkommt. Diese Trennung ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, der nicht nur unser Denken und unseren Alltag durchzieht, sondern auch unsere ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Institutionen.

Doch so hoch die Mauern auch sind, die wir durch Technik zwischen uns und der "Umwelt" errichten, so sehr erweisen sie sich am Ende als Illusion. Durch Atmung und Stoffwechsel werden alle zwei Monate sämtliche Atome meiner Leber ausgetauscht, alle sechs Wochen die meiner Haut. Was eben noch "da draußen" war, ist im nächsten Moment ein Teil von mir. Und umgekehrt. Der Stoff da draußen ist unser Stoff.

Was wir ihm antun, tun wir letztlich uns selbst an. Die Ausbreitung von Pandemien wie Covid-19 zeigt das sehr anschaulich, schließlich stammt ein Großteil der neuen Erreger, die unsere Atemwege und Immunsysteme befallen, von wilden Tieren, deren Habitate zerstört wurden. Die Vorstellung, es gebe eine von uns getrennte Natur, mit der wir beliebig verfahren können, die wir abbaggern, aufheizen, zerlegen, neu zusammensetzen und kontrollieren können wie ein Bauingenieur seine Materialien, ist eine tödliche Täuschung.

Mein neues Buch erkundet die Ursprünge jener Illusion der Trennung, die tief in der westlichen Zivilisation verankert ist. Dabei zeigt es, wie die modernen Naturwissenschaften, die oft herangezogen werden, um die technische Herrschaft über die Natur zu legitimieren, tatsächlich eine Welt entdeckt haben, die keineswegs auf Trennung, sondern auf Verbundenheit, nicht auf Herrschaft, sondern auf Selbstorganisation beruht. Diese Erkenntnisse können entscheidend dabei helfen, die ideologischen Verengungen unserer Weltsichten zu überwinden und Auswege aus der gegenwärtigen zivilisatorischen Sackgasse zu finden.

Der Stoff, aus dem wir sind

Die meisten von uns haben in der Schule gelernt, dass sich der Stoff, aus dem wir sind, im Innersten aus kleinen Kügelchen zusammensetzt: aus Atomen und Elementarteilchen. Im Chemielabor wurden uns Steckmodule von Molekülen gezeigt und im Physikunterricht Modelle, in denen sich Elektronen um einen festen Atomkern drehen wie Planeten um die Sonne. Fortgeschrittene dürfen das Standardmodell der Elementarteilchenphysik studieren, das die verschiedenen Partikel in einer Tabelle wohlgeordnet auflistet. Die Welt gleicht in dieser Sichtweise einem Lego-Bausatz mit sehr kleinen, fein säuberlich getrennten Bausteinen, aus denen sich alles zusammensetzen lässt, ob Planeten, Bakterien oder Menschen.

Doch diese so überschaubare und praktische Vorstellung von der Welt hat einen Nachteil: Sie ist vollkommen falsch. Seit den Revolutionen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik vor einhundert Jahren hat die Physik erkennen müssen, dass im Inneren der Materie nichts Festes, Greifbares existiert, sondern nur schwingende Felder von Energie, die im Prinzip das ganze Universum durchziehen.

Die scheinbar getrennten Dinge und Wesen sind tatsächlich in einem großen Gewebe miteinander verbunden. Die Felder, welche die Grundlage unserer Existenz bilden, verhalten sich so seltsam, dass sie unsere Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität grundlegend herausfordern.

Zugleich gibt der Stoff, aus dem wir sind, noch aus anderen Gründen Rätsel auf. Denn aus ihm kann etwas entstehen, das sich auch auf der makroskopischen Ebene vollkommen anders verhält als die Kugeln und schiefen Ebenen aus dem Physikunterricht: Leben. Während eine Kugel, die ich sanft anstoße, eine abschüssige Ebene hinunterrollen wird, kann ein Mensch, den ich sanft berühre, einen ganzen Berg hinaufsteigen.

Lebewesen agieren und reagieren vollkommen anders als nichtlebende physikalische Objekte, und aus diesem Grund hat eine Biologie, die versucht, Leben allein aus mechanischen Vorgängen zu erklären, bis heute enorme Schwierigkeiten, das Verhalten von lebenden Wesen angemessen zu verstehen, geschweige denn zu erklären. Allen gewaltigen technischen Fortschritten zum Trotz.

Das wohl hartnäckigste Rätsel dabei ist die Tatsache, dass Lebewesen, zum Beispiel Menschen, sich nicht nur vollkommen anders verhalten als andere physikalische Objekte, sondern auch ein Innenleben entfalten, das sich von außen nicht direkt beobachten lässt. Eine farbenblinde Hirnforscherin etwa, die alles über die Biochemie unseres Körpers weiß, kann trotzdem beim besten Willen nichts darüber in Erfahrung bringen, wie es ist, die Farbe Blau zu sehen, denn sie gehört jenem seltsamen Reich der Innenwelten an, das nicht aus messbaren und zählbaren Dingen besteht, sondern aus erlebten Qualitäten.

Wenn ich einen Apfel esse, dann verwandelt mein Stoffwechsel ihn nicht nur in neues Leber- und Hautgewebe, sondern auch in Gedanken, Träume und Empfindungen. Der Apfel verbrennt zu Geist, zu Gefühl. Was ist das für eine seltsame Substanz, die zugleich Stoff und Nichtstoff, Innen- und Außenwelt, tot und lebendig ist?

Der große Graben

Es gibt zwei Wege, etwas über diesen Stoff zu erfahren. Zum einen unsere unmittelbare Wahrnehmung. Wir wissen, wie es ist, Farben zu sehen, Musik zu hören, etwas zu riechen, Schmerz oder Freude zu empfinden. Wir wissen, wie sich ein rauer Stein anfühlt und die Haut eines anderen Menschen. Wir wissen, was es heißt, sich an jemanden zu erinnern. Dieses weite Land, dieser Weltinnenraum, steht jedem offen. Um ihn zu betreten, brauchen wir weder Quantenphysik noch Molekularbiologie. Wir werden in ihn hineingeboren. Er wächst mit uns. Er ist unsere primäre Wirklichkeit.

Der andere Weg ist die Beschreibung der Welt, sofern man sie in Teile zerlegen und von außen vergleichen, vermessen, wiegen und zählen kann. Die Naturwissenschaften haben sich auf diesen zweiten Weg begeben. Beide Wege der Erkenntnis erschließen uns etwas über die Wirklichkeit, in der wir leben. Sie lassen sich auch nicht grundlegend voneinander trennen, denn selbst die anspruchsvollste Wissenschaft kann gar nicht anders, als auf der primären Wirklichkeit unserer Wahrnehmung aufzubauen.

Doch über die Jahrhunderte hat sich ein tiefer Graben zwischen diesen beiden Welten aufgetan, ein mittlerweile schier unüberbrückbarer Abgrund. Im Jahr 1970 schrieb der französische Biochemiker und Nobelpreisträger Jacques Monod die denkwürdigen Sätze: "Der Mensch muss endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz […] am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen." Der Graben, den Monod hier beschreibt, durchzieht die westliche Zivilisation auf allen Ebenen. Es ist die Spaltung von Natur und Kultur, Seele und Körper, Materie und Geist, Innensicht und Außensicht.

Während Monod den Menschen noch als eine einsame Insel in einem tauben Universum sah, auf der es zumindest für ihn selbst noch Musik und Empfindungen gibt, gehen manche, die meinen, im Namen der Wissenschaft zu sprechen, wesentlich weiter. Sie verkünden, dass wir nur biologische Maschinen in einem seelenlosen Universum seien und unsere Innenwelt nicht mehr als eine bunte, gefühlsduselige Fassade vor einer eiskalten Wirklichkeit sei.

Einige Vertreter des Silicon Valley behaupten sogar, dass sich der menschliche Geist, da er ja lediglich aus Rechenoperationen bestehe, in wenigen Jahrzehnten auf Computer "uploaden" lasse und den Körper überflüssig mache. Diese "transhumanistische" Mythologie ist Teil einer langen Geschichte der Entfremdung des Menschen, die eng mit der Entwicklung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zusammenhängt.

Diese Spaltung und Entfremdung speist sich nicht aus den Erkenntnissen der Wissenschaften selbst, sondern aus ihrer selektiven und verzerrten Interpretation. Es gilt scharf zu unterscheiden zwischen tatsächlichen Forschungsergebnissen und einer technokratischen Ideologie, die Wissenschaft missbraucht, um ein bestimmtes Weltbild zu verbreiten - und nicht zuletzt auch, um handfeste monetäre Interessen durchzusetzen.

Wenn wir die Forschung von diesem ideologischen Überbau befreien, dann erscheinen die Erkenntnisse von Physik, Chemie und Biologie der letzten Jahrhunderte in einem vollkommen anderen Licht. Statt uns eine tote Welt isolierter Objekte zu offenbaren, haben sie nämlich etwas ganz anderes zutage gefördert: ein Universum, das auf Verbundenheit, Selbstorganisation und Kreativität beruht. Weder sind wir isolierte Inseln des Empfindens und Denkens in einer tauben, sinnlosen Welt noch biologische Roboter, sondern Teil eines allesverbindenden kosmischen Selbstentfaltungsprozesses, der von der subatomaren Ebene über die Sphäre des Lebens bis in die Weiten des Universums reicht.

Diese neue Sicht wird auch von großer Tragweite dafür sein, wie wir mit der planetaren Krise umgehen, in die uns eine jahrhundertelange Ausbeutung der Natur einschließlich des Menschen gesteuert hat - eine Krise, die inzwischen nicht nur die Fortexistenz unserer Spezies gefährdet, sondern das gesamte Leben auf der Erde. Denn diese Krise beruht nicht zuletzt auf jener tiefen Spaltung zwischen einem entwurzelten, "total verlassenen" Menschen und einer zum toten Objekt degradierten Natur.