Protestantismus und Erster Weltkrieg

Postkarte aus dem 1. Weltkrieg - Bildarchiv der Nordakademie der Evangelischen Kirche

Ein Lesebuch zur deutschen Religionsgeschichte – Impulse für ein Umlernen heute, Kirche & Weltkrieg (Teil 3)

Die von friedensbewegten Christenmenschen zum 80. Gedenkjahr des Rassen- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion ins Werk gesetzte Reihe "Kirche & Weltkrieg" erhellt die abgründige Religionsgeschichte des deutschen Kriegskirchentums ab dem späten 19. Jahrhundert. In seinem nachfolgend dokumentierten Vorwort zu unserem Band "Protestantismus und Erster Weltkrieg" erläutert der Hamburger Theologe Ulrich Hentschel, dass die historische Aufklärung ein Beitrag wider die Militarisierung der Politik in unseren Tagen ist.

Die schon in den Befreiungskriegen hervorgetretene Kriegsreligion eines "deutschen Gottes" steigerte sich 1914 bis 1918 im protestantischen Staatskirchentum zu einem Wahngebilde, das mit Jesus von Nazareth nichts mehr zu tun hatte. Aggressive Militärdoktrinen des Kaiserreiches und Populärdarwinismus galten den beamteten Theologen als "christliche Ethik". Schließlich behaupteten ungezählte Prediger, das Massenmorden sei ein "Werk der Liebe" und belogen die Trauernden mit schwülstigen Phrasen des Opferkultes.

Die in unseren Quellenabteilungen erschlossenen Texte versetzen treue Kirchenmitglieder in Entsetzen und verweisen auf die Vorgeschichte der Vernichtungspredigten ab 1939. Doch noch viele andere Primärtexte, die selbst den Studierenden der Theologie kaum bekannt sind, lehren uns das Gruseln.

Der "National-soziale Katechismus" (1897) des sogenannten "sozialliberalen Pfarrers" Friedrich Naumann, nach dem noch immer eine FDP-nahe Stiftung benannt ist, hielt es für richtig, dass zur Sicherung des Wohlergehens der deutschen Arbeiterschaft fremde Länder überfallen, beherrscht und ausgebeutet werden.

Götz Aly hat schon vor einem Jahrzehnt daran erinnert. Doch wen stört der Kasus schon? Naumanns Ideale passen hervorragend zu heutigen Militärdoktrinen im Dienste freier Märkte und Seewege sowie zu weltweiten bewaffneten "Interventionen".

Naumann schrieb, das Nationale sei der "Trieb des deutschen Volkes" und das Soziale "der Trieb der arbeitenden Menge." Beides gehöre zusammen, denn: "Die Ausdehnung des deutschen Einflusses auf der Erdkugel ist unmöglich ohne Nationalsinn der Masse". Die großen Opfer für Flotte und Heeresrüstung könnten nur mit "Volkes Willen" (u.a. Sozialdemokraten) durchgesetzt werden.

Im Kriegsjahr 1915 fand der "liberaler Einsatz" dieses Protestanten für das Individuum wie folgt Ausdruck: Die "Volksmaschine geht ihren Gang, ob der Einzelmensch lebt oder stirbt", es wächst "von allen Seiten der Staats- und Nationalsozialismus".

Hauptpastor Friedrich Andersen in Flensburg, Prof. Adolf Bartels in Weimar, Kirchenrat Dr. Ernst Katzer in Oberlößnitz bei Dresden und Hans Paul Freiherr von Wolzogen in Bayreuth legten "95 Leitsätze zum Reformationsfest" vor, in denen das später nationalsozialistisch geleitete "Deutschchristentum" schon alle seine Bestandteile beisammen hatte:

Es gibt […] in unserm Volke schon weite Kreise, die ebenso sehr religiös-gestimmt wie entschieden deutsch-gesonnen sind, jedoch deshalb vom Christentum sich abwenden, weil sie an der Möglichkeit verzweifeln, es vollständig vom Judentum zu lösen. […] Die neuere Rassenforschung endlich hat uns die Augen geöffnet für die verderblichen Wirkungen der Blutsmischung zwischen germanischen und nicht-germanischen Volksangehörigen und mahnt uns, mit allen Kräften dahin zu streben, unser Volkstum möglichst rein und in sich geschlossen zu erhalten. […] Eine innigere Verbindung zwischen Deutschtum und Christentum ist nur zu erreichen, wenn dieses aus der unnatürlichen Verbindung gelöst wird, in der es nach bloßem Herkommen mit der jüdischen Religion steht.

"95 Leitsätze zum Reformationsfest"

Dieses Textzitat stammt aus dem Kriegsjahr 1917. Die deutsche Kriegs- und Rassenreligion als Dienstleisterin der Nationalsozialisten ist nicht plötzlich von einem außerirdischen Stern in die deutschen Landen hereingebrochen. Es gab sie vielmehr schon lange, als erneut zum Vernichten und Untergehen geblasen wurde.

Aus dem Vorwort von Ulrich Hentschel: "Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen"

Der Erste Weltkrieg wurde vor mehr als hundert Jahren mit der Niederlage des deutschen Kaiserreiches beendet. Das ist lange her, eine alte grausame Geschichte. Warum also daran erinnern, warum sich heute mit den kriegsbegeisterten Propaganda-Bildern und Predigten, Liedern und Zeremonien von damals konfrontieren?

Denn man habe doch aus der Geschichte gelernt, so das Credo, und das wiedervereinigte große Deutschland sei eine friedliche und friedliebende Demokratie, fernab von militärischen Aktionen und Großmacht-Ambitionen. Daran kann man glauben - und es wird viel dafür getan, dass wir so glauben. Man kann aber auch und sollte sogar skeptisch und ungläubig sein und einige Fakten ins Bewusstsein bringen:

• Die Rüstungs-Ausgaben werden massiv gesteigert. Um ganze zehn Prozent hat Deutschland 2019 seine Militärausgaben im Vergleich zum Vorjahr auf ca. 50 Milliarden Dollar erhöht. Kein anderes Land unter den Top 15 der Welt verzeichnete einen so starken Anstieg. So also wurde und wird realisiert, was Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 unter dem Druck der damaligen Friedensbewegung in seiner Regierungserklärung proklamiert hatte: "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen: Das ist die Aufgabe unserer Zeit."

• Rüstungsproduktion und -exporte werden ungeachtet aller öffentlichen Versprechen weiter gesteigert. Zahllose Menschen werden verletzt, getötet oder in die Flucht getrieben.

• Noch immer weigert sich Deutschland, dem bahnbrechenden internationalen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen beizutreten und hält sich damit die Option auf eigene Atomwaffen offen.

• Gleichzeitig werden junge Menschen mit dem Versprechen auf Abenteuer und Kampf zur Bundeswehr und ihre Einsätze u.a. in Afghanistan gelockt.

• 1999 kam es mit den Luftangriffen der Bundeswehr auf Jugoslawien zum ersten aktiven Kriegseinsatz, damals gegen viele Proteste durchgesetzt von der SPD/Grünen-Regierung.

• Das Ziel dieser Politik wurde 2014 an herausragender Stelle vom deutschen Staatsoberhaupt, Bundespräsident Gauck proklamiert: Deutschland müsse auch im militärischen Bereich weltweit nach mehr Einfluss und Macht streben und "Verantwortung" übernehmen.

• Bald danach beteiligte sich die Bundeswehr an Nato-Militärübungen in Osteuropa - trotz aller gegenteiligen Versprechungen im Zusammenhang der Auflösung der DDR in die BRD.

Diese Entwicklung Deutschlands zu einer ambitionierten militärischen Großmacht bleibt zwar nicht unwidersprochen. Zahllose Initiativen und Proteste versuchen, ihr Einhalt zu gebieten. Aber es kommt zu keiner umfassenden Protestbewegung wie noch in den 1980er Jahren. "Schwerter zu Pflugscharen" war damals eine der Parolen in beiden deutschen Staaten. Doch aus der Traum. Die Schwerter der NVA wurden nicht umgeschmiedet, sondern weitergereicht in Länder, wo sie gewiss nicht dem Frieden dienen.

Und die Kirchen? Sie begleiten die Politik zunehmender Aufrüstung und Militarisierung mit Denkschriften, sorgenvollen Worten und theologisch-ethischen Erwägungen, stellen sie aber niemals grundsätzlich infrage. Vor allem praktizieren und demonstrieren die Kirchen mit der gut ausgestatteten Militärseelsorge seit 1956 ihre enge Verbundenheit mit der Bundeswehr und ihren Einsätzen.

Sie nehmen es auch hin, dass ihr regelmäßiger Protest gegen die Rüstungsexporte ohne Antwort und Resonanz der dafür Verantwortlichen bleibt. Gleichzeitig akzeptieren sie das Blutgeld der Kirchensteuereinnahmen von in der Rüstungsindustrie Beschäftigten. "Brot für die Welt"? Ja, auch schon und weiterhin wichtig für viele Menschen, aber doch lächerlich gering im Vergleich zu "Waffen für die Welt".

Und jetzt, in diesen Zeiten, wo es so viel zu tun, also aufzuklären und zu protestieren gibt, legen wir ein Lesebuch zur ideologischen Unterstützung des deutschen Militarismus durch die Kirchen im Ersten Weltkrieg vor? Ja, eben und spätestens in diesen Zeiten ist solches Wissen notwendig.

Denn wer versucht zu verstehen, warum zahllose Menschen, und damals vor allem die christlich sozialisierten, den Krieg unterstützten und Eltern ihre Kinder mit Begeisterung in die Schlachten und das Schlachten verabschiedeten, der wird auch eher verstehen, warum es in diesem Land immer noch und wieder zunehmend möglich ist, Menschen für militärisches Denken und Handeln zu gewinnen.

Auch wenn sie fürs Kriegsführen gebraucht werden, sind es nicht die gewalt- und kriegslüsternen Männer, die den Kampf gegen benachbarte Länder und "fremde" Völker oder als minderwertig erachtete Gesellschaftsgruppen vorbereitet und dafür die Zustimmung in großen Teilen der Bevölkerung organisiert haben.

Dafür braucht es "höhere Werte", die es offensiv zu verteidigen (eine euphemistische Verharmlosung) gilt, ob in Frankreich oder Russland wie beim Ersten und bald darauf beim Zweiten Weltkrieg oder in unserer Zeit auch am Hindukusch oder im Arabischen Meer. Deutschlands Freiheit sei bedroht, die christliche Kultur, inzwischen häufig zur "jüdisch-christlichen Tradition" hochgelogen, müsse vor dem Untergang bewahrt werden.

Und vor allem: Der deutsche und unter seiner Dominanz auch europäische Lebensstandard und deutsche Investitionen müssten gesichert werden. Die Bundeswehr wirbt mit der Sorge, dass Bananen oder Handys nicht mehr in "unsere" Supermärkte gelangen könnten. - Auch hier geht es um Werte.

Zur breiten Akzeptanz vor allem der "höheren" ideologischen Werte in der Bevölkerung sind "höhere" und anerkannte Institutionen notwendig: Gewerkschaften, Parteien, Medien, Kultur- und Geistesgrößen und eben die Kirchen. Wie prominente Prediger, Kirchenleitungen und Gemeinden vor Ort ihre Werte weitgehend erfolgreich unter das Volk bringen, ist in diesem Buch zu studieren.

Die Leserinnen und Leser mögen sich nicht mit Grauen von dem bluttriefenden und vaterlandspreisenden Pathos abwenden, sondern lernen, wie Kassandra-Wolfs immer noch gültige Regel zur Geltung kommen kann: "Lasst Euch nicht von den Eignen täuschen".

Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann
beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man
sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, aufbewahren
für alle Zeit. Was stünde da? Da stünde, unter andern Sätzen:
Lasst Euch nicht von den Eignen täuschen.

Christa Wolf, in: "Kassandra"

Protestantismus und Erster Weltkrieg. Aufsätze, Quellen und Propagandabilder. Hg. Ulrich Hentschel & Peter Bürger (Kirche & Weltkrieg, Band 2). Norderstedt 2020. (ISBN: 978-3-7526-0414-6 - 440 Seiten; zahlreiche farbige Bilddokumente - 17,80 €). Inhaltsverzeichnis und Autorenübersicht hier auf der Verlagsseite. Mit Texten von Günter Brakelmann, Hansjörg Buss, Sebastian Dittrich, Jörn Halbe, Jakob Knab, Herbert Koch, Sebastian Kranich und Uwe-Karsten Plisch.

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