"Bühne frei für Olaf Scholz!"

Bild: Martin Künzel/CC BY-SA 3.0

Kanzlerkandidatin Baerbock: Bei den Grünen ist ein gewisser Dilettantismus Selbstverständlichkeit. Oder ist es Naivität? Kommentar

"Kanzleramt - das ist die Todeszone."

Joschka Fischer

Wenn der DFB einen Nachfolger für Bundestrainer Jogi Löw präsentieren würde, der noch nie einen Fußballclub gecoacht hat und noch nicht mal einem Trainerkollegen assistiert, wäre der Aufregung groß. Bei den Grünen ist dieser Dilettantismus - oder ist es Naivität? - Selbstverständlichkeit.

Denn die Kanzlerkandidatin der Grünen, die allererste, die die Partei in ihrer über 40-jährigen Geschichte überhaupt aufstellt, ist die 40-Jährige Annalena Baerbock (K-Frage der Grünen geklärt: Annalena Baerbocks unfreiwillige Wahlkämpfer). Nach langer Zeit gab es damit wieder eine positive Nachricht für die Regierungsparteien der Großen Koalition.

"Wir sind der ruhende Pol in einer aufgewühlten politischen Landschaft"

"Bühne frei für Annalena!", sagte Robert Habeck. Begrub er damit aber nicht zugleich den kurzen politischen Frühling der Grünen und die Hoffnungen der Öko-Partei, in einer grün-schwarzen Koalition den Kanzler stellen zu können?

Drei Minuten sprach der starke Mann hinter der erfolgreichen Frau. Und noch einmal, ein letztes Mal für lange Zeit, tat er das, was Robert Habeck so gut kann, besser als fast jeder in der mediokren Landschaft der Berliner Republik: Er ordnete die Steinchen und Scherben des grünen Polit-Mosaiks, fügte Passendes zusammen und verfugte alles zu einer politischen Erzählung:

Eine andere Idee von Politik... Wir sind der ruhende Pol in einer aufgewühlten politischen Landschaft.... Wir kämpfen um das Kanzleramt... Wir sind stabil in den Umfragen... Die Union ist in Reichweite... das vertrauliche, vertraute, intensive und offene Gespräch...

Robert Habeck

Dann überwog wieder das Klein-Klein.

"Mit diesem auf Sicht fahren kommen wir nicht weiter"

Und es überwog das Erwartbare: "Wir haben eine klare Idee einer Kanzlerschaft für Deutschland", sagte Annalena Baerbock. Veränderung sei nötig damit in Deutschland Gerechtigkeit herrscht, Kitas und Schulen "die schönsten Orte" sind, "ein Land in dem Pflegekräfte die Zeit und Ressourcen haben, sich um die Menschen wirklich zu kümmern. ... der Staat digital funktioniert und seinen Bürgerinnen und Bürgern dient. ... Ein diverses und weltoffenes Land. ... eine wehrhafte Demokratie, ein Deutschland im Herzen Europas ... ein Land in dem Klimaschutz das zukünftige Fundament schafft für Wohlstand, Freiheit und Sicherheit. Ein Klimaschutz, der auch die Pendlerin auf dem Land mitdenkt, ein Klimaschutz für Alleinerziehende mit geringem Einkommen, für Industriearbeiter - damit wir alle gut leben können."

Dann versucht Baerbock ein bisschen anekdotisch zu werden: Die Pariser Klimakonferenz vor fünf Jahren, Menschen fielen sich in die Arme. Aber was kam danach? Brexit, Trump, die AFD im Bundestag.

Trotzdem sei Klimaschutz "die Aufgabe unserer Zeit. Die Aufgabe meiner Generation. Entsprechend will ich dass die Politik meiner Bundesregierung Klimaschutz für alle Bereiche zum Maßstab macht".

Aber was heißt das? Konkret?

"Politik wirkt immer im Konkreten. Für die Menschen in ihrer Vielfalt. Und deswegen müssen wir Politik auch aus dem Konkreten heraus machen. ... was alles nicht geht, das haben wir jetzt in den letzten Jahren genug gehört. Aber es zählt jetzt, was alles geht, was alles möglich ist. Gegen die festgefahrenen alten Regeln. Es gilt jetzt, neue Regeln zu schaffen, und zwar so dass das Fortschrittliche nicht die Ausnahme ist, sondern der zukünftige Standard."

Baerbock will Industrie, Mittelstand, Handwerker ansprechen, in "Forschung und Polizeiwachen" investieren, digitale Verwaltung und ein schnelles Internet.

"Mit diesem 'auf Sicht fahren - das haben wir aber immer so gemacht, und wenn es dann doch sein muss, dann drehen wir halt noch so ein Stellschräubchen weiter - damit kommen wir nicht weiter."

Ist das Nicht-Routinierte womöglich sogar ein Vorteil?

Annalena Baerbock hat natürlich einerseits Recht: "Wenn Regierungserfahrung das einzige Thema wäre, dann könnten wir auch mit der großen Koalition weitermachen." Man brauche einen Neuanfang. Gut und schön.

Aber wie stark ist die Bereitschaft unter den Wählern, sich auf etwas Neues einzulassen, wirklich? Überwiegt in der Pandemie nicht der Wunsch nach Normalität und langfristiger Kontinuität, nach einer Rückkehr zum Bewährten?

Auf die Fragen der Presse antwortete Baerbock auf der anschließenden Pressekonferenz erwartbar weitgehend ausweichend. Als erwartbar ihre fehlende Regierungserfahrung angesprochen wurde, schritt sie zur Offensiv-Verteidigung: "Ich stehe für Erneuerung."

Aber mit dem Ausweichen wird es auf die Dauer nicht gehen. Die Frage bleibt natürlich eine offene Flanke. Kann jemand ohne jede Regierungserfahrungen das Kanzleramt übernehmen? Oder ist die Unbefangenheit, das Nicht-Routinierte womöglich sogar ein Vorteil?

Für Baerbock spricht, dass sie eine große politische Begabung ist. Sie ist zielstrebig, sie ist auffassungsfähig. sie hatte Großbritannien an der London School of Economics studiert. Sie hat in Brüssel im Europaparlament gearbeitet. Sie lernt extrem schnell, sie hat eine gute Auffassungsgabe. Sie ist sehr gut vorbereitet. Sie hat viele Situationen ihrer bisherigen politischen Karriere antizipiert.

Abschied vom Kuschelkurs

Trotzdem: Heute geht er zu Ende, der lange Flirt der deutschen Gesellschaft mit den "Grünen". Den Grünen steht über den kommenden Sommer eine Erfahrung bevor, die sie schon mehrfach gemacht haben. Die Grünen werden zu hoch gehandelt. Augenblicklich, aber auch prinzipiell bei der breiten Mehrheit der ihnen wohlgesinnten Journalisten des medial-politischen Komplexes der Hauptstadt.

Einmal werden die Blütenträume schwinden, einmal mehr wird die grüne Partei, die weniger eine politische Substanz hat, als dass sie ein Lebensgefühl repräsentiert, im Herbst weit unter ihren jetzigen Erwartungen liegen.

In einigen Wochen schon wird die deutsche Öffentlichkeit die Schwächen der grünen Kanzlerkandidatin viel besser kennen als heute. In einigen Wochen schon wird die Aussicht, dass Annalena Baerbock als deutsche Kanzlerin mit Wladimir Putin, Emmanuel Macron oder Joe Biden zu verhandeln hat, manchen Menschen Angst machen.

In einigen Wochen schon wird die reale Alternative zwischen Schwarz-Grün oder einer Ampelkoalition die Grünen zerreißen. Und in einigen Wochen schon wird man sich wieder daran erinnern, dass die grüne Partei in erster Linie eine Verbotspartei ist und keine Projekte-, Chancen- und Möglichkeitspartei. Auch wenn die Idee einer Verbotspartei vielen Bürgern insgeheim gefällt - Hauptsache das Richtige wird verboten.

Jetzt müssen die Grünen liefern. Bisher war es genug, die Regierung im Einzelnen zu kritisieren, aber grundsätzlich einen Kuschelkurs zu fahren. Weil sie im Bundestag gar nicht reden dürfen, haben die Vorsitzenden nicht das große Wort geführt, sind wenig angeeckt, traten vor allem in Talkshows auf.

Scholz als lachender Dritter

Zwischen den momentanen Blütenträumen der neuen (grünen) Bürgerlichen und der neuen Chaos-Partei aus CSU-Fundis und CDU-Realos könnten die SPD und ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz der lachende Dritte werden. Denn gegenüber einem laschen Armin Laschet ist Olaf Scholz der harte Vollstrecker und gegenüber dem selbsterklärten Regierungs-Aktivisten Markus Söder ist Scholz der bessere, weil vertrauenswürdigere Realo.

Persönlich genießt Scholz bei der Bevölkerung viel Vertrauen und hohe Wertschätzung. Zudem ist er politisch mit allen Wassern gewaschen. Und Scholz ist der einzige, der Saskia Eskens Horror-Phantasien über "ein progressives Bündnis" ("Rot-Rot-Grün") im Zaum halten kann und glaubhaft widerlegen.

Gerade die grüne Schwäche der fehlenden Regierungserfahrung spricht für Olaf Scholz - auch im Vergleich zu Armin Laschet oder Markus Söder. Vergessen wir nicht: Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz waren keine Erfolge für die grüne Partei, sondern sie waren Personenwahlen. Die gegenwärtige Hinwendung zu Personen ist mit Händen zu greifen. Das Vertrauen in Personen nicht in Parteien bietet Orientierung. Dies ist ja auch zurzeit in der aktuellen CDU das Hauptargument von Markus Söder.

Trägt dieses Gewicht Annalena Baerbock?