"Die Grünen sind ein Erfolgsprojekt"

Bild: Bündnis 90/Die Grünen Nordrhein-Westfalen/CC BY-SA 2.0

Hans-Christian Ströbele über Baerbock als Kanzlerin, das Infektionsschutzgesetz, Grundrechte für Geimpfte und was die Grünen aus den deutschen Kriegseinsätzen lernen müssen

Die Grünen sind im Augenblick im Aufwind. Nach der Entscheidung, Frau Baerbock zur Kanzlerkandidatin zu küren, sind die Zustimmungswerte weiter gestiegen. In Bayern gab es gerade eine neue Umfrage. Auch hier legten die Grünen zu, während die CSU mit Söder an Zustimmung einbüßte. Wie erklären Sie sich den Erfolg der Grünen zurzeit?

Hans-Christian Ströbele: Die Grünen sind ein Erfolgsprojekt. Als wir die Partei vor 40 Jahren mit den Themen Umweltschutz, Frauengleichstellung und Friedenpolitik gründeten, wurden wir von allen verlacht und als Müslifresser verhöhnt, die politisch keine Ahnung haben. Heute stellen wir fest, dass in der Bevölkerung diese Positionen mehrheitsfähig sind.

Heute geht es um den Klimaschutz. Es gibt keine demokratische Partei, in der der Klimaschutz nicht auch ganz vorne im Programm steht. Die Zeit der Grünen und der grünen Inhalte ist also eingeläutet. Dazu haben wir eine hervorragende Kanzlerkandidatin. Damit zusammen kann man erklären, dass die Menschen jetzt hoffen, dass die Grünen ihre Politik umsetzen.

Können Sie sich denn vorstellen, dass Frau Baerbock tatsächlich Kanzlerin werden könnte?

Hans-Christian Ströbele: Im Augenblick zeigen die Umfragen, dass Frau Baerbock deutlich vor Herrn Laschet liegt. Zwischen den Umfragewerten liegen Welten. Und auch die grüne Partei liegt vor der CDU. Langsam stellt sich ja die Frage, wie lange es die CDU noch als Volkspartei gibt. Wir haben es in anderen Ländern schon erlebt, dass die Christlich-Demokratische Union zum Beispiel in Italien gar nicht mehr existiert. Die Zeiten sind vorbei.

Sie waren als Bundestagsabgeordneter schon mal mit Rot-Grün unter Bundeskanzler Schröder an der Regierung. Wenn sich die Grünen jetzt Richtung Union orientieren, ist das jetzt aus Ihren Erfahrungen mit der Schröder-Regierung zu begrüßen? Oder wäre dann doch Opposition besser?

Hans-Christian Ströbele: Es geht ja darum, ob für eine grün-rot-rote oder ein grün-rot-gelbe Regierungskoalition mit der Kanzlerin der Grünen die Wahlergebnisse reichen oder ob doch nur eine Koalition mit der Union verbleibt. In jedem Fall sind die Grünen viermal so stark wie nach der Wahl 1998. Das macht sich in jeder Koalition bemerkbar.

Und wenn die Grünen Richtlinien der Politik durch die Kanzlerin bestimmen, dann muss die Union sich fragen, ob sie Juniorpartner in einer Koalition sein will. Auch die SPD, die jetzt bei 13 Prozent liegt, wird sich fragen, ob sie in einer solchen Koalition überleben kann.

Es darf nicht sein, dass die Grünen Anfang Juni ein schönes Wahlprogramm beschließen mit weitgehenden Forderungen nicht nur zum Klimaschutz, die dann aber nicht umgesetzt werden, wie das bei der jetzigen Kanzlerin der Fall ist. Sie hatte beispielsweise versprochen, dass sie eine Million Stellen zum Auftanken von Elektroautos einrichten will. Heute sind es nicht einmal 10 Prozent davon.

Sie haben aber als linker Grüner nicht prinzipiell etwas gegen eine Koalition mit der Union?

Hans-Christian Ströbele: Ich würde auf jeden Fall eine grün-rot-rote Koalition vorziehen. Wenn das gar nicht geht, weil die Zahlen nicht reichen oder die anderen das nicht wollen oder zu unverschämte Forderungen stellen, dann muss man anderes bedenken. Aber die Richtlinien der Politik müssen die Grünen bestimmen.

Letzte Woche wurde über das Infektionsschutzgesetz abgestimmt. Mit Nein stimmten die Linken, die FDP und die AfD, die Grünen haben sich enthalten. War das richtig?

Hans-Christian Ströbele: Ich fand eine kritische Position zu diesem Gesetz richtig. Ich bin Jurist und ich weiß, dass allgemeine Ausgangsverbote nur mit ganz spitzen Fingern angefasst werden können, weil sie verfassungsrechtlich kaum zu rechtfertigen sind. Ich bin auch der Auffassung, dass für zweimal Geimpfte oder voll Geimpfte, wie man heute sagt, keine Einschränkungen mehr gelten dürfen.

Hier geht es dann nicht um eine allgemeine Gleichbehandlung der Menschen, sondern darum, dass die Freiheit eines Menschen nur eingeschränkt werden darf, wenn von ihm ganz konkret eine Gefahr für andere ausgeht. Das ist bei einem voll Geimpften aber nicht mehr der Fall, wenn er etwa in ein Geschäft oder in eine Gastwirtschaft geht. Man kann nicht sagen, weil andere noch nicht so weit sind, werden auch den Geimpften ihre Freiheitsrechte weiter beschnitten. Das ist mit der Verfassung nicht zu vereinbaren.

Das scheint ja die Bundesregierung auch anzustreben …

Hans-Christian Ströbele: Ja, sehr zögerlich.

Aber es gibt doch das Problem, dass die Impfwilligen, die nicht infiziert sind, aber wegen der Priorisierung nicht geimpft werden können, sagen können, es handele sich um eine Diskriminierung, wenn ihnen Grundrechte weiter verwehrt werden.

Hans-Christian Ströbele: Das ist ein individuelles Recht jedes Menschen, das man nicht ohne Not einschränken kann. Man kann nicht sagen, weil jetzt 30 oder 50 Prozent dieses Recht nicht in Anspruch nehmen können, deshalb dürfen die übrigen es gleichfalls nicht in Anspruch nehmen. Das wäre ein verfassungswidriger Gedanke. Natürlich haben die Nichtgeimpften einen Anspruch darauf, möglichst schnell geimpft zu werden, aber man kann das eine nicht vom anderen abhängig machen.

Es sind ja viele Verfassungsbeschwerden gegen das Infektionsschutzgesetz eingereicht worden. Würden Sie das juristische Vorgehen auch unterstützen?

Hans-Christian Ströbele: Das kommt auf die einzelnen Rechte an, die verletzt werden. Grundsätzlich muss man drastische Maßnahmen ergreifen, natürlich für alle, um die Infektionen zu reduzieren, damit nicht zu große Teile der Bevölkerung infiziert werden und dann gar nicht mehr behandelt werden können. Aber das muss mit Augenmaß geschehen und die Verfassung berücksichtigen. Sonst wird das Bundesverfassungsgericht einschreiten. Das war schon mehrfach nötig.

Ich selbst hätte auch das Gericht angerufen, wenn ich selbst betroffen gewesen wäre, als Menschen in Alten- oder Pflegeheimen über Monate keinen Besuch empfangen durften. Selbst wenn sie im Sterben lagen, durften die Ehepartner oder die Kinder nicht ans Sterbebett kommen. Das ist unmenschlich. Ich konnte das nachempfinden, weil ich ja auch schon über 80 Jahre alt bin. Als ich davon hörte, habe ich Betroffenen geraten, zum Bundesverfassungsgericht zu gehen. Man muss ja betroffen sein, um bei Gericht Erfolg zu haben.

Während der Schröder-Fischer-Regierung trat Deutschland erstmals wieder nach dem Zweiten Weltkrieg in einen Krieg. Haben die Grünen daraus etwas gelernt, was Kriegseinsätze und Militärinterventionen angeht? Außenpolitisch kann man die Grünen nicht wirklich einschätzen. In der Russlandpolitik, um ein Beispiel zu nehmen, scheint eine große Aversion vorhanden zu sein. Was ist denn in Ihren Augen die außenpolitische Ausrichtung der Grünen?

Hans-Christian Ströbele: Ich habe mit wenigen grünen Bundesabgeordneten gegen die Kriegseinsätze im Kosovo und in Afghanistan gestimmt. Das war ein Riesenproblem, denn die Kanzlermehrheit stand auf dem Spiel. Aber ich habe die Kriege damals für falsch gehalten. Ich bin mir heute auch sicher, wenn der Kanzler gesagt hätte, er wolle eine Kriegsbeteiligung in Afghanistan für 20 Jahre, er nicht die notwendige Mehrheit gefunden hätte. Bisher sind die Kriegsbeteiligungen nicht aufgearbeitet.

Wir müssen eine Lehre daraus ziehen und zukünftige Kriegseinsätze im Ausland nur unter ganz engen Voraussetzungen in Betracht ziehen. Dazu gehört, dass das Ziel klar benannt und auch ein Ende festlegt wird. Damals hieß es, die Bundeswehr ginge für ein halbes Jahr nach Afghanistan. Daraus sind 20 Jahre geworden. Ich hoffe und arbeite auch mit daran, dass die Grünen daraus lernen und ein Wahlprogramm beschließen, das die notwendigen Einschränkungen für solche Einsätze bindend festlegt.

Also auch die Beteiligung an Nato-Einsätzen, die nicht vom UN-Sicherheitsrat legitimiert werden?

Hans-Christian Ströbele: Ohne UN-Sicherheitsrat darf ein Kriegseinsatz überhaupt nicht sein. Da die Russen oder Chinesen häufig ihr Veto eingelegt haben, gibt es manchmal keine Zustimmung. Aber da kann man sich nicht rausmogeln und ohne UN-Mandat losziehen. Meiner Ansicht nach kommt dann in Betracht, die UN-Vollversammlung als oberstes Gremium anzurufen und zu klären, ob es dort eine Mehrheit für einen Einsatz gibt.

Durch einen Beschluss der Vollversammlung werden aber die Veto-Rechte nicht eingeschränkt.

Hans-Christian Ströbele: Bisher ja. Eine UNO-Reform ist ohnehin nötig. Aber das ist sehr schwierig und dauert.

Was den anderen von Ihnen angesprochenen Punkt mit Russland angeht: Ich bin dafür, zu Russland immer ein vernünftiges Verhältnis zu haben. Es gibt leider viele autoritäre Regierungen auf der Welt, zu denen Deutschland normale Beziehungen hat. Wenn Menschenrechtsverletzungen vorkommen, dann muss man das laut kritisieren und immer wieder auf die Tagesordnung setzen, aber die Beziehungen dürfen insgesamt nicht in Frage gestellt werden, gerade bei Russland nicht. Die Deutschen haben 30 Millionen tote Russen im letzten Weltkrieg hinterlassen. Wir haben bei den Russen noch viel gut zu machen.

Es findet gegenwärtig eine gegen Russland gerichtete Aufrüstungspolitik statt. Es mag vieles richtig sein, was gegen Russland ins Feld geführt wird, beispielsweise die Explosionen der Munitionslager in der Tschechischen Republik oder der Mord in Berlin und die Behandlung von Nawalny. Aber Zweck scheint, die Eskalationsschraube höher zu drehen, indem neue Sanktionen erlassen oder Diplomaten ausgewiesen werden, statt einen Weg zur Verständigung zu finden. Welche Position haben die Grünen hier?

Hans-Christian Ströbele: Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen. Einige Grüne in der Fraktion sagen, dass man mit einem solchen Land keine normalen Beziehungen haben kann, sondern man müsse die Probleme immer primär auf die Tagesordnung setzen und Sanktionen beschließen, sollte sich nichts ändern.

Andere sagen, man müsse zu Russland grundsätzlich vernünftige Beziehungen haben wie zu anderen autoritären Regierungen auch. Bei Dutzenden in Afrika, im Nahen Osten oder in Asien gibt es Zustände, die für unser Menschenrechtsverständnis untragbar sind.

Das Gespräch wurde am Donnerstag geführt. Mehr von Florian Rötzer und weitere Gespräche auf krass & konkret.