Das Menschenbild: Zentraler Baustein der Gesellschaft

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sind mehr vom Menschenbild bestimmt, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Mit grundlegenden Folgen. Eine Spurensuche (Teil 1)

"Jeder hat eine Theorie über die menschliche Natur. Jeder muss das Handeln anderer antizipieren, und das heißt, dass wir alle Theorien über die Triebfedern menschlichen Verhaltens haben müssen," gibt der Harvard-Psychologe Steven Pinker über die zentrale Bedeutung des Menschenbildes und unserer Vorstellung von der menschlichen Natur zu bedenken.

Tatsächlich hat wohl jeder Mensch eine eigene Vorstellung von der Natur des Menschen. Unser jeweiliges Menschenbild stellt eine Art Richtschnur für unser eigenes Verhalten dar. Aber dieses Menschenbild spiegelt auch unsere Erwartungshaltung, die wir vom Verhalten anderer Menschen haben. Beides hängt sehr eng zusammen, da unsere Verhaltensweisen in vielen Situationen im Hinblick auf das erwartete Verhalten der anderen - oftmals uns unbekannter - Menschen getroffen werden. Oder, wie der Historiker Rutger Bregman schreibt:

Es gibt nur wenige Vorstellungen, die die Welt so sehr beeinflussen wie unser Menschenbild.

Menschenbild auch in der Wissenschaft von zentraler Bedeutung

Das Menschenbild hat nicht nur im Hinblick auf den einzelnen Menschen eine existentielle Bedeutung, sondern ist auch in vielen Bereichen des Lebens entscheidend. Zahllose Bereiche des Lebens sind von Entscheidungen bestimmt, die Menschen aufgrund ihres Menschenbildes fällen. Wenn der Mensch von Natur aus egoistisch ist, sollte es beispielsweise das Ziel der Erziehung sein, dem Egoismus Grenzen zu setzen; dem Kind sind dann Schritt für Schritt die gesellschaftlichen Normen für das Zusammenleben zu erklären und anzuerziehen.

Wenn der Mensch von Natur aus aber eher altruistisch ist, sollte das Hauptziel der Erziehung darin bestehen, die natürlichen Anlagen des Menschen möglichst frei zur Entfaltung zu bringen. Ist der Mensch von Natur aus ein Konkurrenzwesen und wird besonders nachhaltig durch Konkurrenz motiviert, dann sind Schulnoten ausgesprochen sinnvoll. Ebenso jede andere Form, die den Vergleich der Schüler untereinander ermöglicht und den Wettbewerb antreibt.

Falls aber der Mensch von Natur aus eher kooperativ ist, dann erweist sich gemeinsames Lernen als optimale Lernform und die Notengebung als zweifelhafte, vielleicht sogar destruktive Motivation. Und nicht zuletzt: Ist der Mensch von Natur aus materialistisch, stellt die Konsumgesellschaft eine Selbstverständlichkeit dar. Ist der Mensch jedoch eher genügsam und teilend, dann erscheint eine nachhaltige Wirtschaft, die sich auf die Produktion zentraler Bedürfnisse konzentriert, anstatt bewusst Überfluss zu erzeugen, nicht nur aus ökologischer Sicht sinnvoll, sondern schlicht der Natur des Menschen angemessen.

Das Menschenbild ist auch in der Wissenschaft von zentraler Bedeutung. "Nichts ist so entscheidend für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der es sich orientiert," erklärte beispielsweise der Jurist Gustav Radbruch vor fast einhundert Jahren. Auch andere Wissenschaften basieren zwingend auf einem Menschenbild: Psychologie, Soziologie, Theologie, Pädagogik, Kriminologie oder Wirtschaftswissenschaft (um nur einige zu nennen) stützen sich auf ein Menschenbild, auch wenn selbstverständlich die Menschenbilder, die in einer Wissenschaft benutzt werden, durchaus sehr unterschiedlicher Natur sein können.

Zwischen Hobbes und Rousseau

Eine große Debatte der westlichen Zivilisation bildet seit einigen Jahrhunderten die Frage, ob der Mensch kooperativ geboren und später durch die Gesellschaft verdorben wird oder zunächst egoistisch ist, bevor er von der Gesellschaft erzogen wird. Als Hauptvertreter der beiden Schulen kann man mit einiger Berechtigung Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes bezeichnen.

Der englische Staatsphilosoph, der sein Hauptwerk "Leviathan" Mitte des 17. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Englischen Bürgerkriegs schrieb, bezeichnete den Naturzustand des Menschen als den "Krieg alle gegen alle, ein immerwährender Krieg, da er aus dem Hin und Her zwischen von Natur aus gleichen Kräften besteht, ein verständlicher Krieg, da natürlich der Mensch des Menschen Feind ist."

Sein Pendant Rousseau sah im Zeitalter der Aufklärung den Menschen deutlich optimistischer und formulierte in seinem "Diskurs über die Ungleichheit" ein Jahrhundert später:

Und solange er dem inneren Antrieb des Mitleids nicht widersteht, wird er niemals einen anderen Menschen noch selbst irgendeinem empfindenden Wesen etwas zuleide tun, ausgenommen in dem legitimen Fall, in dem seine Erhaltung betroffen ist und er deshalb verpflichtet ist, sich selbst den Vorzug zu geben.

Das Menschenbild im Zeitalter des Kapitalismus

"Einige Kritiker werfen dem Kapitalismus vor, ein egoistisches System zu sein. Aber der Egoismus ist nicht im Kapitalismus - er ist in der Natur des Menschen," argumentiert der Sachbuchautor Dinesh D’Souza. Es lässt sich kaum bestreiten, dass in Zeiten des globalisierten Kapitalismus das Menschenbild von Thomas Hobbes vorherrscht.

Aufbauend auf dem immer wieder zitierten Aussage von Adam Smith: "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihrer Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil" haben viele Wirtschaftswissenschaftler im 20. Jahrhundert die Maximierung des Eigennutzes als Haupteigenschaft des Menschen ausgemacht.

So deklarierte Francis Edgeworth kurz und bündig: "Das erste Prinzip der Wirtschaftslehre besagt, dass jeden Akteur allein das Eigeninteresse antreibt" und der Nobelpreisträger Gary Becker schrieb:

So wird angenommen, dass das Eigeninteresse alle anderen Motive dominiert. (...) Die Dominanz des Eigeninteresses und das Fortbestehen eines gewissen Wohlwollens sind üblicherweise mit dem Hinweis auf die "menschliche Natur" oder mit entsprechenden Argumenten, die das Problem nur umgehen, erklärt worden.

Gary Becker

Eigeninteresse spielt auch eine zentrale Rolle im Modell des Homo Oeconomicus, welches in der Wirtschaftswissenschaft viele Anhänger hat. Bruno Frey beschreibt dies:

Der Agent der volkswirtschaftlichen Theorie ist rational, egoistisch, und seine Präferenzen verändern sich nicht.

Der Kapitalismus scheint diesem Menschenbild perfekt zu entsprechen, da er aufgrund seines Leistungsgedankens den Egoismus des Menschen anspricht und in einer Konkurrenzsituation des Marktes sicherstellen will, dass sich die besten Leistungen durchsetzen.

Eine andere wissenschaftliche Achse, die das Bild des Menschen als Egoisten und Konkurrenzwesen stützt, bildet die Evolutionsbiologie. Richard Dawkins betont in seinem Buch "Das egoistische Gen", welches bei einer Umfrage der britische Royal Society über die einflussreichsten wissenschaftlichen Bücher aller Zeiten auf dem Spitzenplatz landete, kurz und bündig: "Dieser Egoismus des Gens wird gewöhnlich egoistisches Verhalten hervorrufen."

Das Bild des Menschen als Egoisten und Konkurrenzwesen spielt aktuell auch in zahllosen anderen Wissenschaften und Wissenschaftszweigen eine grundlegende Rolle. Die Grundlage der Spieltheorie beispielsweise, einer mathematischen Theorie, die rationales Entscheidungsverhalten modelliert, wurde von John von Neumann gelegt. Als Erklärung, warum egoistisches Verhalten in seinen Theorien zugrunde liegt, erklärt er kategorisch:

Es ist genauso töricht, sich darüber zu beschweren, dass die Menschen egoistisch und verräterisch sind, wie darüber, dass das magnetische Feld nicht zunimmt, wenn das elektrische Feld keine Krümmung hat. Beides sind Naturgesetze.

Die Public Choice Theorie bzw. die ökonomische Theorie der Politik, die sich mit politischem Verhalten und Entscheidungsprozessen beschäftigt und seit den Thatcher- und Reaganjahren den Mainstream erreicht hat, nutzt als Grundannahme die Maximierung des Eigennutzes. Der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Anthony Downs stellt hierbei klar:

Wann immer wir von rationalem Verhalten sprechen, meinen wir immer rationales Verhalten, das primär auf egoistische Ziele ausgerichtet ist.

Die Austauschtheorie, die insbesondere in der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaft genutzt wird, erklärt das menschliche Verhalten in sozialen Beziehungen auf Grundlage von Belohnungen und Kosten und rückt damit ebenso die zentrale Bedeutung des Eigennutzes ins Zentrum.

Nicht zuletzt spielt auch in der Psychologie dieses Menschenbild eine zentrale Rolle. 1975 brachte der Vorsitzende des amerikanischen Psychologenverbands dies auf den Punkt:

Psychologie und Psychiatrie (…) beschreiben den Menschen nicht nur als ein Wesen, das von egoistischen Wünschen gesteuert wird, sondern sie lehren implizit oder explizit, dass er so zu sein hat.

Die Liste der Wissenschaften, die auf dem Bild eines egoistischen und auf Konkurrenz ausgerichteten Menschen basiert, ist lang und erhebt in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit.