Tschernobyl: Selbstverstärkende Kettenreaktion im geschmolzenen Kernbrennstoff?

Der "Sarkophag", Tschernobyl. Bild: Tim Porter/CC BY-SA 4.0

Sensoren messen steigende Neutronen-Zahl in einem unzugänglichen Raum unter der Atomkraftwerksruine; ein neuer Unfall wird nicht ausgeschlossen

Vor fast genau 35 Jahren kam es zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und nun berichtet News from Science über "Befürchtungen, dass selbstverstärkende Kettenreaktionen im geschmolzenen Kernbrennstoff schwelen".

Lange schon habe es die Befürchtung einer selbsterhaltenden Kernspaltung gegeben, da am 26. April 1986 ein Teil des Reaktorkerns mit Uranbrennstäben, ihren Zirkonium- Hüllen, den Steuerstäben und dem Sand verschmolzen ist, der auf den Reaktorkern gekippt wurde, um das Feuer zu löschen. Eine Art Lava floss in die unteren Räume der Reaktorhalle und verfestigte sich dort. Man spricht von "fuel-containing materials" (FCM), übersetzt als brennstoffhaltige Masse.

Die Ängste vor einer neuen selbsterhaltenden Kettenreaktion (Kritikalität) in diesem Material waren im Laufe der Jahre allerdings langsam verebbt. Sie keimen nun ganz offensichtlich nach Messungen wieder auf. Die Gefahr, die von der Reaktorruine erneut ausgeht, wird ernst genommen. Der Direktor für Nuklearsicherheit bei der Vereinigung besorgter Wissenschaftler (UCS) twitterte zum Beispiel zu dem Thema. Er nennt das Problem "faszinierend".

News from Science zitiert Neil Hyatt. Der Nuklear-Chemiker der Universität Sheffield spricht von "Glutnestern wie in einer Feuerstelle". Seit vier Jahren zeigen Sensoren in verschiedenen Bereichen eine steigende Anzahl von Neutronen an, was auf eine Kettenreaktion hinweist. Im unzugänglichen Raum 305/2 befinden sich Tonnen dieser brennstoffhaltigen Masse, die tief unter Trümmern begraben ist. Dort haben Sensoren in den vergangenen vier Jahren eine Verdoppelung der Neutronen registriert.

Der Nuklear-Chemiker Hyatt spricht von "glaubhaften und plausiblen Daten", doch für ihn ist noch unklar, welcher Mechanismus wirkt. Sicher ist er, dass die Bedrohung nicht ignoriert werden darf, da sich "die Spaltreaktion exponentiell beschleunigen" könnte und es zu "einer unkontrollierten Freisetzung von Atomenergie" kommen könne.

"Es gibt viele Unwägbarkeiten", meint auch Maxim Saveliev vom Institut für Sicherheitsprobleme von Atomkraftwerken (ISPNPP) in Kiew. "Wir können die Möglichkeit eines Unfalls nicht ausschließen", erklärte der ukrainische Experte in der vergangenen Woche während einer Diskussion. Er verweist darauf, dass die "Zahl der Neutronen langsam ansteigt", weshalb er davon ausgeht, dass man einige Jahre Zeit haben werde, um herauszufinden, wie man die Bedrohung eindämmen kann.

Dass es zu einer Explosion und zu einem Feuer und einer neuen radioaktiven Wolke über Europa kommen könnte, befürchten die Wissenschaftler nicht. Es handele sich trotz allem um eine gewaltige Herausforderung. Das Problem ist, dass es die Strahlungswerte nicht einmal zulassen, nahe genug an den Raum 305/2 heranzukommen, um Sensoren zu installieren. Überwachen will man nun aber verstärkt auch zwei weitere Bereiche, die ebenfalls kritisch werden könnten.

Das Material im Raum 305/2 mit Gadoliniumnitrat zu besprühen, das Neutronen abfängt, um die Kettenreaktion zu bremsen, scheidet als Option offenbar aus, da er zu tief unter Trümmern begraben ist. Überlegt wird, einen Roboter zu entwickeln, der der intensiven Strahlung lange genug standhält, um Löcher in die Masse zu bohren, um Bor-Zylinder einzusetzen. Bor bremst die Kettenreaktion ebenfalls.