Wissenschaft und Religion: Zeit für ein Zwischenfazit

Was sich vernünftigerweise vertreten lässt (Teil 5)

Wir haben uns in bisher vier Teilen mit dem Thema "Wissenschaft und Religion: Konflikt oder Kooperation?" beschäftigt. In den ersten drei ging es um philosophische Grundvoraussetzungen (Teil 1, Teil 2 und Teil 3), im vierten um die tatsächlichen Überzeugungen von Naturwissenschaftlern verschiedener Länder.

In diesem fünften Teil will ich ein paar Thesen formulieren, die sich - auch nach der Diskussion mit vielen Leserinnen und Lesern - meiner Meinung nach vernünftigerweise vertreten lassen. Es gibt natürlich keine Garantie dafür, dass das alle so sehen. Nach dem Zwischenfazit will ich noch auf ein paar Aspekte der Diskussion hier im Telepolis-Forum eingehen, dir mir in jüngster Zeit aufgefallen sind.

Zwischenfazit

These 1: Man braucht keinen Gott (bzw. nichts Göttliches) anzunehmen, um die Welt zu erklären

Streng genommen wussten wir das aber schon vorher; man denke etwa an den berühmten Ausspruch, dem man dem französischen Mathematiker Pierre-Simon Laplace im 18./19. Jahrhundert zuschreibt, er brauche die "Hypothese Gott" nicht. Das mag damals revolutionär gewesen sein. Doch heute?

These 2: Dabei bleibt eine gewisse Unschärfe darüber, was man als befriedigende Erklärung ansieht. (In der Wissenschafts-/Erkenntnistheorie gibt es eine eigene Diskussion zum Begriff der Erklärung, die hier aber zu weit führt.)

Hier gilt es insbesondere aufzupassen, "Wissen" und "Erklärung" nicht so eng zu fassen, dass es außerhalb der (Natur-) Wissenschaft kein Wissen oder keine Erklärungen geben kann. Diese Strategie scheinen manche Naturalisten zu verfolgen (Was ist Naturalismus?) Warum sollte man das nicht tun?

Einerseits kann so eine Definition selbst nicht Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschung sein, sondern ist sie eine philosophische Annahme. Wer aber nur naturwissenschaftliches Wissen zulassen will, widerspricht sich dann selbst. Andererseits verwenden wir im Alltag permanent Wissen und Erklärungen, die man nicht sinnvollerweise naturwissenschaftlich nennen kann. Die Begriffe des Naturalisten würden dann nicht mit unserer Praxis übereinstimmen.

In der Diskussion streitet man sich oft um die Frage, wer Phänomen X erklärt. Wer eher der religiösen Seite zuneigt, betont dann, dass es hierfür keine naturwissenschaftliche Erklärung gibt, wahrscheinlich auch gar nicht geben könne. (Im sechsten Teil bespreche ich das hierfür beliebte Beispiel Bewusstsein.)

Wer eher gegen die religiöse Seite argumentiert, führt dann wahrscheinlich andere erfolgreiche wissenschaftliche Erklärungen an und meint, es sei nur eine Frage der Zeit. Hier ist die Formulierung populär, in der Welt gehe es mit "rechten Dingen" zu. (Dabei könnten auch religiöse Wissenschaftler die Ordnung in der Welt, also die "rechten Dinge", gerade als Hinweis auf Gott verstehen.) In jedem Fall aber stelle das Phänomen keinen Riss im naturalistischen Gefüge dar.

Insbesondere seien Menschen religiös, weil das einen evolutionären Vorteil (einen Überlebensvorteil) biete. So soll beispielsweise das Phänomen der Religiosität biologisch erklärt werden. Oft sind solche Erklärungen aber spekulativ und oberflächlich: Kann schon sein - muss aber nicht. Im dritten Teil hatte ich bereits darüber geschrieben, dass sich manche (viele?) wissenschaftliche Erklärungen beim näheren Betrachten als vorläufig erweisen. Darum:

These 3: Von naturalistischer Seite sollte man konkrete Mindestanforderungen an (natur-) wissenschaftliche Erklärungen formulieren.

Ansonsten verliert man sich schnell in Beliebigkeit. Und schon Popper wusste, dass eine Theorie, die alles Mögliche erklärt, eigentlich nichts erklärt. So stand er etwa Sigmund Freuds Psychoanalyse oder Alfred Adlers Individualpsychologie sehr kritisch gegenüber.

Die Kernaussage des Naturalismus, alles Existierende lasse sich naturwissenschaftlich erklären, führt sonst zu einer unzulässigen Immunisierung und einem Verstoß gegen Poppers Falsifizierbarkeitskriterium: Denn entweder wird der Standard für eine wissenschaftliche Erklärung dann so abgeschwächt, dass die Aussage beliebig wird, oder man verspricht die gewünschte Erklärung für irgendwann in der Zukunft. (Hier denke man an Poppers beflügeltes Wort vom "Schuldscheinmaterialismus.")

Mit anderen Worten: Wenn man den Begriff der Wissenschaftlichkeit so weit aufweicht, dass fast alles darunter fällt, nur nicht Gott, dann wirkt das willkürlich. Und es wäre auch ein Pyrrhussieg für den Naturalisten, der mit einer Entwertung wissenschaftlichen Wissens einherginge. So zeigt sich, dass der Streit zwischen Religion und Naturalismus wesentlich davon abhängt, wie man Wissenschaft versteht.

These 4: Religiöse und naturwissenschaftliche Aussagen können, doch müssen sich nicht zwingend widersprechen.

Insofern hat die Mehrheit der Naturwissenschaftler Recht, die keinen (zwingenden) Konflikt oder sogar eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Religion und Wissenschaft sieht (Wissenschaft und Religion: Konflikt oder Kooperation?). Mehr braucht ein Gläubiger in dieser Diskussion erst einmal nicht zu zeigen; umgekehrt sollte ein Naturalist nicht so tun, als widerspreche Naturwissenschaft Religion schlechthin: Das ist falsch.

These 5: Die Diskussion darüber, was die "Naturgesetze" genau ausschließen, hält an.

Ich verwende den Begriff in Anführungszeichen, da ich Gesetze (von setzen) für menschliche Konstrukte halte, die, in diesem Fall, Naturvorgänge und Naturkräfte formalisieren sollen. Die gesetzliche Formalisierung denken sich Menschen aus; das macht aber die Naturvorgänge selbst natürlich nicht zu Konstrukten.

Die natürlichen Phänomene gibt es unabhängig von unserem Bewusstsein, sofern man hier keinen Idealismus vertreten will. (Zu entsprechenden Interpretationen der Quantenmechanik kann ich mich nicht äußern.) Man könnte aber einmal diskutieren, ob Mathematik nicht ureigentlich Geisteswissenschaft ist.

Naturwissenschaft bestünde dann wesentlich darin, geistige Konstrukte (vor allem Formeln) zu finden, die systematisch beobachtete Naturvorgänge beschreiben. Wer das alles gleich für Quatsch hält, der beantworte mir die Frage: Was ist eigentlich eine Zahl? Und welche Mathematik kommt ohne Axiome aus? Und wer definiert diese? Und auf welchen Voraussetzungen beruht Naturwissenschaft? Etwa, dass es eine beobachterunabhängige Außenwelt gibt? Das ist Philosophie!

Der Streit der Fakultäten (v.a. Geistes- vs. Naturwissenschaft) scheint auch ein spezifisch deutschsprachiges Phänomen zu sein. Und dieser ist wiederum Ergebnis menschlichen Denkens: Früher erwarb man durchaus noch einen "Dr. phil." in Mathematik (an der Uni Bielefeld vielleicht immer noch?). Neben dem "Dr. rer. nat." (von lateinisch rerum naturalium; wörtlich: der natürlichen Dinge) gibt es nun auch einen "Dr. phil. nat." (philosophiae naturalis, also der Naturphilosophie).

Ich hatte früher Kolleginnen in der Psychologie, die partout keinen "Dr. phil." (philosophiae, der Philosophie), sondern unbedingt einen "Dr. rer. nat." erwerben wollten. Die mussten sich dann eben ein Psychologie-Institut suchen, das an die naturwissenschaftliche Fakultät angeschlossen war. Als ob das etwas über den Wert der Forschung, geschweige denn der Person aussagt!

Wenn ich richtig gesehen habe, listet Wikipedia ganze einundsechzig(!) verschiedene Doktorgrade für Deutschland. Der deutsche Geist legt scheinbar Wert auf Unterscheidung; und auf möglichst lange Zusätze, die man sich vor oder hinter den Namen schreiben kann. In den meisten anderen Ländern ist das schlicht ein PhD: Doctor of Philosophy. Traditionellerweise war der ganze Rest neben Medizin, Rechtswissenschaft und Theologie nun einmal alles: Philosophie!

Am Rande ging es hier auch um den Begriff des Wunders. Im Alltag sprechen Menschen vielleicht davon, wenn jemand bei einem Unfall um ein Haar verschont wird; oder von einer unheilbaren Krebserkrankung genest; oder wenn sie sehen, wie aus einer Ei- und einer Samenzelle ein neuer Mensch, ein neues Individuum heranwächst.

Wunder sind etwas, was es eigentlich nicht geben darf, aber scheinbar doch gibt. Das verweist uns zurück auf die Naturgesetze. Diese werden eben angepasst, wenn sich ein bestimmter Naturvorgang systematisch beobachten lässt. Gerade das ist ja ein Unterschied zum Dogmatismus, dass man seinen Standpunkt ändert, wenn einem überzeugende Fakten und Gründe widersprechen, anstatt diese Fakten und Gründe zu verleugnen.

Hier müsste man aus naturalistischer Perspektive ehrlicherweise einräumen, dass sich Einzelereignisse nun einmal selten wissenschaftlich erklären lassen: Warum hatte ich vor einer Woche eine Erkältung - und geht es mir jetzt wieder gut? War es ein Wunder? Zufall? Naturgesetzliche Notwendigkeit? Fragen Sie doch einmal Ihren Arzt (Dr. med.), warum Sie eine Grippe, einen Nieren- oder Gallenstein oder Ähnliches bekommen haben? Sie würden sich wundern.

Die systematische Beobachtung unter kontrollierten Bedingungen, die Wissenschaftlichkeit erfordert, lässt sich in den allermeisten Fällen gar nicht leisten. Sollen wir als gute Naturalisten dann ehrfürchtig schweigen? Und umgekehrt sind die Erkenntnisse unter kontrollierten Bedingungen im Labor nur begrenzt aussagekräftig für die Lebenswelt und unseren Alltag. Das liefert natürlich keinen Gottesbeweis. Es sollte uns aber zu einer gewissen Bescheidenheit führen. So komme ich zum Zwischenergebnis:

These 6: Dass es mir nicht prinzipiell irrational scheint, an etwas Göttliches zu glauben

Einen solchen Glauben kann man aber nur für sich selbst individuell und nicht allgemeinverbindlich für alle begründen. Dogmatismus bringt die Diskussion allerdings nicht weiter und gilt es zu vermeiden. Insbesondere gefährdet Dogmatismus mit seiner Verabsolutierung das tolerante und friedliche Zusammenleben der Menschen.

So scheint mir der Standpunkt des Agnostikers, wie im dritten Teil dieser Serie nach dem Biologen und Philosophen T. H. Huxley definiert, als der Vernünftigste. Im Detail könnte man noch klären, inwiefern sich dieser mit dem des Kritischen Rationalismus deckt. Damit wären wir einmal mehr bei Karl Popper.

Pragmatiker könnten einen Schritt weitergehen und aus praktischen Gründen an etwas Göttliches glauben. Das Argument hierfür würde ausgerechnet die Wissenschaft liefern: Denn bestimmte religiöse Praktiken könnten einen Überlebensvorteil darstellen. In einer philosophischen Pattsituation könnte das den Ausschlag geben.

Anstatt wie der Esel zu verhungern, der vor zwei gleich aussehenden Strohballen steht und sich für keinen entscheiden kann, würde man dann schlicht den wählen, der einem am besten schmeckt. Tatsächlich sehen wir nicht nur ein stetiges Zunehmen der Weltbevölkerung, sondern insbesondere auch der Anzahl der Gläubigen auf dem Globus. Der Atheismus scheint demgegenüber keine sehr fruchtbare Überzeugung zu sein.