Die Linkspartei und die Angst vor der Fünf-Prozent-Hürde

Archivbild (2017): Ferran Cornellà/CC BY-SA 4.0

Das Problem der Linken: Sie muss einen Alleingang von Wagenknecht fürchten - mehr als ihr Verbleiben und ewigen Streit innerhalb der Partei

"Ein Angstwahlkampf ergreift alle Parteien", so der plakative Titel der Vorwahlbetrachtungen des Publizisten Albrecht von Lucke am Montag im Deutschlandfunk. Die Quintessenz seiner Betrachtungen knapp 5 Monate vor den Bundestagswahlen sind nicht überraschend.

Die Grünen werden nun stärker in die Kritik geraten, ihre momentane Erfolgswelle in Umfragen kann trügerisch sein. In der Union werden die Stimmen bis zu den Wahlen nicht verstummen, die daran zweifeln, ob mit Laschet Wahlen zu gewinnen sind, was wiederum nicht unbedingt Stimmen bringt. Die SPD ist die große Unbekannte. Angesichts ihrer Umfragewerte unter 18 Prozent kann es für sie schon ein Erfolg sein, wenn sie an die 20 Prozent kommt. FDP und auch AfD könnten besser abschneiden, als ihnen aktuell zugetraut wird, so Lucke.

Nur über eine Partei schwieg von Lucke im Deutschlandfunkgespräch. Die Linkspartei kam gar nicht vor, was aus zwei Gründen erstaunlich ist. Schließlich hat von Lucke vor einigen Jahren das Buch "Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken" verfasst, in dem er der in zwei Parteien gespaltenen Sozialdemokratie die Verantwortung dafür gab, dass die Union dauerhaft die Republik beherrscht. Damals hatte er unverkennbar Sympathien mit einer möglichst wenig gespaltenen Sozialdemokratie.

"Team Solidarität gegen FC Eigene Tasche"

Doch noch mehr erstaunte das Schweigen über die Linkspartei am Montag, weil just kurz vor dem Interview die Partei mit Janine Wissler und Dietmar Bartsch ihr Spitzenduo benannte. Dass sie mit dem anbiederischen Motto "Team Solidarität gegen FC Eigene Tasche" höchstens Spott enden würden, wird wohl nicht wahlentscheidend sein.

Der auf jeden Fall provokativere Wahlkampfslogan "Nehmt den Wessis das Kommando", den die Partei im Landtagswahl von Sachsen-Anhalt einsetzte, hat wenigstens noch Empörung und sogar Debatten ausgelöst. Ob damit Stimmen gewonnen werden können, wird sich in knapp einem Monat zeigen, wenn dort Landtagswahlen sind.

Die Linke hat einen Vorteil, mit ihr rechnet kaum jemand von den politischen Beobachtern, was sich eben auch darin zeigte, dass sie selbst bei von Lucke nicht vorkommt.

Viele sehen sie eher in der Nähe der Fünf-Prozent-Hürde als in der Regierung. Als Partei am Abgrund wurde die Linke schon öfter tituliert. Doch sollte sie tatsächlich bei den nächsten Bundestagswahlen den Einzug ins Parlament verpassen, wäre es ein großer Rückschlag nicht nur für die Reformlinke, die tatsächlich auf entscheidende Veränderungen durch das Parlament setzt.

Auch die Konzepte der "Mosaiklinken", die durchaus auch aus postautonomen Zusammenhängen besteht, die realistisch die geringen Veränderungsmöglichkeiten im Parlament einschätzen können, wäre damit weitgehend zerstört. Tatsächlich ist es eher unwahrscheinlich, dass die Linke aus dem Bundestag fliegt (vgl. Linke strebt bei Bundestagswahl zweistelliges Ergebnis an).

Wie hält es die Linke mit Wagenknecht?

Ein Grund liegt wohl darin, dass Sahra Wagenknecht wenn auch mit Gegenstimmen, in NRW wieder für die Bundestagswahlen aufgestellt wurde. Es ist paradox, dass sie einerseits seit Jahren für Kontroversen in ihrer Partei sorgt, es aber trotzdem sein kann, dass sie die Linke vor dem Absturz unter die Fünf-Prozent-Hürde bewahrt. Nun soll hier nicht der Mythos verbreitet werden, mit Wagenknecht an der Spitze könnte an die Partei 20 Prozent holen.

Doch sehr wahrscheinlich ist, dass ein Team Wagenknecht, Lafontaine und vielleicht noch der in Niedersachsen auf einem unsicheren Listenplatz platzierte Dieter Dehm der Linken die Wählerstimmen bringen könne, die sie vor dem Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde bewahren.

Denn die Wähler aus dem postmateriellen Mittelstand, für die die Grünen zu angepasst sind, haben schließlich noch einige andere Alternativen von der Klimaliste bis zu "Die Partei", um nur einige zu nennen. So stehen genügend Optionen bereit für Wähler, die Wagenknecht in ihrem neuen Buch "Die Selbstgerechten" auch wahlweise als Lifestyle-Linke oder als Linksliberale klassifiziert.

Dass sich in ihrem knapp 250 Seiten dicken Buch auch einige zutreffende Passagen finden, ist nicht verwunderlich. So ist ihre Verteidigung des Säkularismus und ihre Kritik an zu viel Toleranz gegen islamistische Bestrebungen nicht falsch, wurde allerdings schon seit Jahren von außerparlamentarischen Linken vertreten. Dass Wagenknecht auch in der Tendenz richtige Sachverhalte auf Stammtischniveau runterbricht, zeigt sich beispielsweise da, wo sie behauptet, dass der politische Islam schon deshalb nicht zu Deutschland gehören kann, weil er gar nicht zu dem Land gehören will.

So richtig die Kritik am politischen Islam ist, mit der Formulierung "gehört nicht zu Deutschland", positioniert sich Wagenknecht bewusst als Linkskonservative, die auf vielen Seiten über den Zerfall von bürgerlichen Tugenden wie Fleiß und Anstand lamentiert und mit den Grünen durchaus bei der Klage über den fehlenden Zusammenhalt in der Gesellschaft konkurrieren kann. Hier wird vor allem deutlich, dass Wagenknecht sicherlich nichts mit einer Linken zu tun hat, die gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen will.

Daher kommen soziale Bewegungen im Buch kaum vor, auch die großen gesellschaftlichen Theorieansätze irrlichtern zwischen einer Sozialdemokratie und den Konservativen, die den Markt regulieren wollen. Linke Theorie und Praxis kommen in ihrem Buch nicht vor und das bei einer Autorin, die vor einem Jahrzehnt noch als Frontfrau der Kommunistischen Plattform innerhalb der PDS auftrat.

So ist ihr Lamento über die Linksliberalen eben keine Kritik aus der Position einer Linken, die sich nicht für eine bürgerliche Fraktion einspannen lassen will, sondern das Ressentiment einer bürgerlich Konservativen mit sozialdemokratischen Einsprengseln in der Sozialpolitik.

Wenn sogar der Gewerkschafter ein "Lifestyle-Linker" ist

Das zeigt sich in Wagenknechts Buch beispielsweise an der besonderen Ablehnung, die dort der jahrelange Linken-Vorsitzende Bernd Riexinger erfährt, der nicht einmal namentlich genannt wird. Die Antipathie zwischen beiden kann man im Film "Wagenknecht", allein in der Körpersprache nachverfolgen, wenn die beiden sich nicht aus dem Weg gehen konnten.

Nur ist es absurd, dass eine Frau mit akademischem Hintergrund, die über Philosophie promoviert hat, einen Gewerkschafter wie Riexinger, der eine wesentliche Rolle bei Arbeitskämpfen von Verkäuferinnen im Einzelhandel spielte, als "Lifestyle-Linken" tituliert. Wenn sie dann noch die Gelbwesten als positives Beispiel für einen Kampf erwähnt, bei dem es angeblich um soziale Fragen statt Identitätspolitik geht, dann ist auch das eine Verfälschung.

Schließlich gab es unterschiedliche Strömungen der Gelbwesten, darunter Gelbwesten-Gruppen, die sich auf Basisgewerkschaften und auch migrantische Kämpfe bezogen. Es ist interessant, dass in einer Zeit, in der an vielen Orten das neue Gesicht einer Klasse der Lohnabhängigen beispielsweise in der Berliner Krankenhausbewegung sichtbar wird, die aus ganz unterschiedlichen Ländern kommen, die auch längst nicht mehr überwiegend aus Männern besteht, rechte Sozialdemokraten wie Wagenknecht noch immer einer Welt beschwören, die mit dem Fordismus untergegangen ist.

Eine Liste "Wagenknecht/Palmer" wäre eine reale Gefahr für die Linke

Weil Wagenknecht die falschen Vorstellungen über die Gesellschaft, die gerade auch bei einem Großteil der Lohnabhängigen vorhanden sind, nicht argumentativ widerlegen will, sondern im schlechten Sinne populistisch, was die falschen Vorstellungen noch bestätigt, wird sie zur Projektionsfläche vieler Menschen, die irgendwie unzufrieden mit den Verhältnissen sind, diese aber nicht durchschauen können.

Der Marxismus ist angetreten, den Lohnabhängigen ihre falschen Vorstellungen von der Welt argumentativ auszutreiben. Wenn Wagenknecht in ihrem Buch an einer Stelle sich gegen Linke wendet, die die Arbeiter angeblich erziehen wollen, zeigt sie auch, dass sie nichts mehr mit marxistischen Gedanken zu tun hat, für die sie verbal noch vor zehn Jahren geworben hat.

Es zeigt, in welch schlechtem Zustand eine Linke ist, die trotzdem froh sein muss, dass Sahra Wagenknecht für die Partei auf einen Spitzenplatz kandiert. Mit ihrer Polemik gegen linksliberale Cancel-Kultur, wo sie manchmal durchaus Recht hat, kann Wagenknecht vielleicht noch einige Stimmen einsammeln. Mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer haben auch die Grünen einen Streiter gegen eine vorgeblich repressive linke Identitätspolitik.

Der Ausschlussantrag nach einer erneuten inkriminierten Äußerung ist für Palmer eine Steilvorlage, die er nutzen kann, um gegen die "Selbstgerechten" und Linksliberalen zu polemisieren. Die Grünen haben ihm den Gefallen getan und wollen ein Ausschlussverfahren gegen Palmer einleiten. Nun müssen Grüne und Linke nur hoffen, dass es im Kampf gegen die angeblich oder tatsächlich politisch Selbstgerechten nicht zu einem Team Wagenknecht/Palmer kommt.

Das könnte beiden Parteien Stimmen kosten. Doch die beiden Protagonisten haben wohl ein viel zu großes Ego, um zu kooperieren. So sorgen sie mit ihren jeweiligen inszenierten Skandalen und Skandälchen dafür, dass sie immer in den Schlagzeilen bleiben. Sie stabilisieren damit auch Herrschaft.

Denn während sich die Medien sich über die neuesten Fehltritte von Palmer oder Wagenknecht echauffieren, redet kaum jemand über den erneuten Corona-Ausbruch bei migrantischen Erntearbeitern auf einen niedersächsischen Spargelhof. Darüber schweigen Wagenknecht und ihre Kritiker.