Das Neue am digitalen Kapitalismus und was Marx dazu gesagt hätte

Wenn sich ausrechnen lässt, dass der Markt übersättigt ist, werden Autos "auf Halde" produziert. Möge die Konkurrenz auf ihren sitzen bleiben. Foto: Thomas B. auf Pixabay / Public Domain

Digitalisierung könnte dazu dienen, Produktionsprozesse ökologisch sinnvoll nach tatsächlichem Bedarf zu organisieren. Unter kapitalistischen Bedingungen wird sie das aber nicht

Die Begriffe Produktivkraft und Produktivkraftentwicklung werden oft in Unternehmen und in der Wissenschaft gleichgesetzt mit dem technisch Möglichen bzw. Ermöglichten und damit synonym verwendet mit dem auch etwas aus der Mode gekommenen Ausdruck des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts.

Die Soziologin Sabine Pfeiffer lehrt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihr Buch "Digitalisierung als Distributivkraft: Über das Neue am digitalen Kapitalismus" ist im transcript-Verlag erschienen. Wir veröffentlichen einen Auszug mit redaktionellen Zwischenüberschriften.

Wer nicht vom technischen Fortschritt spricht, sondern von Produktivkraft oder Produktivkraftentwicklung, will damit meist vor allem auch signalisieren, dass die Analyse tiefergehender, kritischer und marxistisch ist (auch wenn dieses Versprechen nicht immer eingelöst wird). Dabei ist bei Karl Marx dieser Begriff nie reduziert auf das Technische gedacht gewesen. (…)

Idealvorstellung: On-demand-Produktion

Stellen wir uns dafür zunächst eine Wirtschaftsordnung vor, in der nur das produziert wird, was real als Bedarf formuliert wird. Die Vision der On-demand-Produktion einer Industrie 4.0 könnte dies theoretisch ja ökologisch sinnvoll herstellen: Das Auto oder die Outdoor-Jacke - alles erst dann produziert, wenn es jemand konkret braucht, und genauso personalisiert wie gewünscht, also wenn Martina Mustermann oder Otto Normalverbraucher die entsprechenden Angaben im webbasierten Konfigurator oder interaktiven Online-Bestellformular gemacht haben.

Abwägen zwischen Variantenvielfalt und Beschränkung

Dann würde aber nicht nur die Produktion der beiden gewünschten Produkte anlaufen, es wäre auch einiges an Transport zu organisieren: erstens zwischen Unternehmen und Produktionsstandorten (weil das Blech vom Stahlwerk zum Autowerk muss und es zum gewünschten Stoff auch den farblich passenden Reißverschluss braucht) und zweitens vom Endhersteller zur stolzen Autokäuferin oder dem Wanderbegeisterten.

In einer globalen Welt mit differenzierten Wertschöpfungsketten könnte das Management dieses Ineinandergreifens trotzdem hochkomplex und aufwendig sein. Je regionaler und kleinteiliger diese Wirtschaftsordnung organisiert wäre, umso weniger Aufwand wäre vonnöten. Zudem gäbe es in unserer imaginierten Wirtschaftsordnung, um natürliche Ressourcen zu schonen, (hoffentlich) ein beständiges Abwägen zwischen personalisierungsfähiger Variantenvielfalt und Beschränkung von Auswahloptionen sowie zwischen kleinteiliger Just-in-Time-Zulieferung von Rohstoffen oder Zulieferteilen und Lagerhaltung.

Ökobilanz und Work-Life-Balance optimieren

Das alles bei oft widersprüchlichen Indikatoren komplexer Ökobilanzen und hoffentlich verbunden mit dem Bestreben, allen in diesen Prozessen tätigen Menschen eine gute Work-Life-Balance zu ermöglichen. All das wäre hoch anspruchsvoll und ohne hoch entwickelte Digitalisierung für ein gutes Management all dieser Zielgrößen gar nicht zu denken.

Aber bleiben wir gedanklich grundsätzlicher und damit einfacher. Rund um die Produktion, zusätzlich zu ihr und ganz allgemein formuliert ginge es dann um alle gesellschaftlichen, technischen, betrieblichen und institutionalisierten Prozesse, Erscheinungen und Maßnahmen, mit denen die (verteilte) Produktion und Konsumtion - zeitlich, sachlich und geografisch - möglichst bedarfsgerecht und ressourcenschonend zusammengebracht werden.

Mal ganz abgesehen davon, dass es uns allen ohne die "Hilfe" der Werbung schwerfallen würde, unsere ureigenen Wünsche und realen Bedarfe überhaupt zu formulieren - mehr als diese realen distributiven Aufwände rund um den eigentlichen Produktionsprozess wäre nicht nötig. Sicher würden die distributiven Aufgaben auch in dieser anderen Wirtschaftsordnung mit zunehmendem Komplexitätsgrad mit neuen Tätigkeiten und Berufen einhergehen und mit passenden Betrieben, die sich auf Teilprozesse spezialisieren würden. Dazu gäbe es entsprechende Ausbildungsinstitute oder auch Zertifizierungsdienstleister.

Je nach Aufgabe, Arbeitsgegenstand und Arbeitskontext würden sich unterschiedliche Praktiken und soziale Beziehungen entwickeln. All das aber würde - trotz Digitalisierung - keine weitere oder andere Analytik erfordern. Das alte Lexikonzitat aus den 1980er Jahren ebenso wie die dahinterstehenden und noch über hundert Jahre älteren Marx-Zitate würden genauso als Analyseinstrument funktionieren. (…)

Realität im Kapitalismus: Produktion vor allem für den Markt

Karl Marx selber würde(...) zurecht einwenden: Moment! Man muss zur Produktivkraft aber auch die Produktionsverhältnisse dazu denken, und betrachtet man beides, dann ist man bei der Produktionsweise. Und dann sind wir bei unserer Wirtschaftsordnung und im Kapitalismus angekommen. Im Kapitalismus stimmt der oben kursiv gesetzte Satz natürlich auch. Aber es kommt etwas hinzu, was den Kapitalismus von anderen Wirtschaftsordnungen unterscheidet: Produziert wird vor allem und in erster Linie für den Markt. Das gilt für den frühen und den späten Industriekapitalismus und ebenso für den aktuellen, der so gerne als digitaler Kapitalismus bezeichnet wird.

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