Nahostkonflikt: Neue Wucht, neue Waffen und neue politische Konstellationen

Raketenabschuss von Gaza aus Richtung Israel. Dies ist ein Archivbild aus dem Jahr 2008 mit nicht zufälligen Ähnlichkeiten zur aktuellen Situation. Foto: paffairs_sanfrancisco/CC BY-SA 2.0

Die Raketenbeschüsse der Hamas provozieren eine neue Eskalationsstufe. Israel wird sie wohl mit großer militärischer Härte beantworten. Vermittlungsversuche könnten vergeblich bleiben

Der traditionelle Vermittler Ägypten versucht über Unterhändler einen Waffenstillstand zu erreichen, israelische Analysten gehen jedoch davon aus, dass die Zeit für diese Konfliktlösung noch nicht gekommen ist: "Israel ist nicht daran interessiert, die Kämpfe zu beenden, bis bestimmte militärische Ziele erreicht sind."

Von 35 Toten unter den Palästinensern und 233 Verwundeten berichtete die Times of Israel heute Morgen als Zwischenbilanz mit Berufung auf das Gesundheitsministerium in Gaza. Angefügt der Satz: "Israel teilt mit, dass viele der Getöteten Terroristen sind." In Israel seien seit dem Beginn der Feindseligkeiten ("hostilities") fünf Menschen getötet worden und Dutzende verletzt.

Die Bilanz hat ihre Lücken. Von palästinensischer Seite wurde in den letzten Tagen darauf aufmerksam gemacht, dass unter den Opfern israelischer Angriffe viele Kinder sind. Auch ist gut möglich, dass angesichts der unübersichtlichen Lage die Bilanz der zivilen Opfer aufseiten der israelischen Bevölkerung schlimmer ausfällt. Der Raketenbeschuss auf Orte und Städte in Israel ist enorm. Das Abwehrsystem Iron Dome ist überfordert. Und der Beschuss geht weiter, wie auch die israelischen Angriffe. Es wird mehr Opfer geben.

Wie viele Raketen die islamistischen Extremisten im Gazastreifen, die dort den Ton und die Politik vorgeben, noch im Arsenal haben, wie effektiv die israelische Armee den Beschuss wird einschränken oder stoppen können, wie sehr die kriegerischen Auseinandersetzungen Leid und Tod über die Zivilbevölkerung bringen, sind einige von sehr vielen, derzeit noch offenen, akuten Fragen.

Dazu gehört auch das Rätsel darüber, wie denn die neue Generation, insbesondere der militanten Gruppen, der Hamas und des islamischen Dschihad, um nur die auffallendsten und am meisten genannten radikalen Milizen in Gaza zu nennen, tickt.

In der Zwischenbilanz fehlen auch die über einen längeren Zeitraum wirkenden Effekte der Ereignisse der letzten Tage in Jerusalem, in israelischen Orten und in den sogenannten umstrittenen Gebieten. Zu nennen wäre da das Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Israelis sowie den Palästinensern, die in Israel leben und arbeiten.

Die Aufwiegelung durch Extremisten

Auch da sind Spannungen eskaliert, Misstrauen und Feindseligkeiten dominieren. Angefacht von Extremisten, maßgeblich auch vonseiten rechter israelischer Gruppierungen wie etwa Levaha. Die ist hervorgegangen aus der verbotenen Kach-Bewegung, gegründet vom ultra-orthodoxen Rabbi Meir Kahane.

Levaha-Extremisten taten sich auffällig bei der aktuellen Aufladung von Spannungen in Jerusalem hervor (vgl. "Tod den Arabern"). Dass Premierminister Netanjahu immer wieder um die rechte Partei Otzma Yehudit geworben hat, deren Chef Itamar Ben Gvir ein Schüler Kahanes war, spricht Bände über den Rechtsschwenk Israels unter der Führung Netanjahus und damit verbundene Radikalisierungen.

Dass die Spannungen, die sich in den letzten Wochen in Jerusalem vor einem komplexen Hintergrund (siehe etwa die Perspektive auf Ost-Jerusalem von hier und dort) aufschaukelten, nun erneut, wie so viele Male zuvor, in einer "militärischen Lösung" kulminieren, liegt zu einem wesentlichen Teil daran, dass die Palästinenser politisch zu Randfiguren herabgesetzt wurden.

Daran trugen ihre Vertreter, Abbas auf der einen Seite und die Hamas sowie angeschlossene Extremisten, allerdings auch ihren nicht geringen Anteil. Man verschanzte sich auf alten ideologischen Positionen. Allein wie mit größeren Geldflüssen etwa aus der EU umgegangen wurde, wie das Geld ergebnislos versickerte, zeigt schon an, wie bequem man es sich eingerichtet hatte.

Palästinenser als Geister in Plänen, die abgewandt sind von der Wirklichkeit vieler

In dem "großen Friedensplan" von Donald Trumps Schwiegersohn Kushner tauchten Palästinenser als ernsthafte Verhandlungspartner gar nicht erst auf. Der US-Präsident, der von seinen Sympathisanten schon als reif für den Friedensnobelpreis gehalten wurde, suchte einen Frieden ohne Palästinenser-Vertreter, die noch auf ihre Rechte und Ansprüche beharrten.

Wie friedensdienlich die unter Trumps Reklame-Politik herbeigeführten "historischen Abkommen" zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, immerhin zwei Golfstaaten und mit den VAE einem regionalpolitisch einflussreichen Vertragspartner, sind, dafür gäbe die derzeitige Eskalation eine Bewährungsprobe ab.

Eine andere bedeutende Rolle spielt Iran, das seit Jahren wesentlich zur Aufrüstung der Milizen in Gaza beigetragen hat.

Der Kernkonflikt im Nahen Osten meldet sich mit neuer Wucht, neuen Waffen und einer veränderten politischen Konstellation zurück, was auch die bis dato relative Zurückhaltung der US-Regierung unter Joe Biden erklärt.

Es gibt das Risiko, dass sich ein Krieg entwickelt, der sich in der Region mit Krisenländern in unmittelbarer Nachbarschaft wie dem Libanon ausdehnen könnte. Dem entgegensteht, dass die Hisbollah noch viel mehr Raketen hat und beide Seiten, die IDF wie die auch irannahe Miliz kein Interesse an einer solchen Ausweitung haben dürften.

"Palästinenser kamen in seiner Geschichte kaum vor. Die Welt meiner Kindheit war ihm völlig unbekannt", schreibt Sari Nusseibeh, der in Ost-Jerusalem aufgewachsen ist, in seinem Buch "Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina" über den israelischen Schriftsteller Amos Oz, der sich intensiv für eine Verständigung zwischen Palästinensern und Israelis einsetzte.

Von solchem Engagement war in der jüngsten Zeit nicht mehr viel zu hören. Stattdessen gab es Umfragen, die darauf hindeuteten, dass die Israelis immer weniger von den Lebensbedingungen der Palästinenser wissen.