Kampf um "Normalität"

"Cancel Culture" als Diskurswaffe im Kampf um öffentliche Hegemonie. Ein Kommentar

Es ist ein in die Jahre gekommenes, öffentliches Ritual, das inzwischen routiniert abgespult wird: Rechte "Tabubrecher", die mit menschenfeindlichen Äußerungen zur weiteren Verrohung des öffentlichen Diskurses beitragen, können fest auf ihren Opferstatus zählen, der ihnen einen weiteren Popularitäts- und Karriereschub verpasst.

"Klartext" und "Gesinnungsdiktatur"

Seit der Sarrazin-Debatte, als der damalige Bundesbanker Muslimen und verarmten Menschen genetische Minderwertigkeiten andichtete, etablierte sich in solchen Fällen ein spezifischer Diskursverlauf, der alle öffentlichen Auseinandersetzungen um rechte Grenzüberschreitungen und Provokationen prägt: Kritik an den Überschreitungen mühsam in Deutschland in den Nachkriegsjahrzehnten errichteter zivilisatorischer Mindeststandards durch selbsternannte "Klartextredner" wird als Ausdruck einer "Gesinnungsdiktatur" dargestellt.

Die Figur öffentlichen Lebens, die nach menschenfeindlichen Äußerungen sich öffentlicher Kritik ausgesetzt sieht, wirft sich in die Opferpose, sieht sich ans Kreuz der "politischen Korrektheit" durch eine regelrechte "Verbotskultur" geschlagen ("Cancel Culture"), die sie mundtot machen wolle. Danach folgt die übliche Tour durch die Massenmedien der Bundesrepublik, bei der die mundtot gemachten "Tabubrecher" einem Millionenpublikum immer wieder erklären dürfen, dass man sie nicht mehr zu Wort kommen lasse.

Karriere-Schmiermittel Ressentiments

Die Absurdität, die offensichtliche Lächerlichkeit dieses Vorgangs, bei dem etwa wohldosierter Rassismus oder Antisemitismus faktisch als Karriere-Schmiermittel dienen kann, tut dessen Effektivität keinen Abbruch. Die entsprechenden Ressentiments werden in der Öffentlichkeit etabliert, sie gerinnen zu einer neuen Normalität - und nur darum geht es letztendlich. Die Ressentiments, die viele Bürger insgeheim hegen und zuvor nur am Stammtisch zu äußern wagten, können nun öffentlich propagiert werden.

Der öffentliche Überbau spiegelt dabei - ideologisch verzerrt - die sozioökonomischen Tendenzen der vergangenen Jahre wider. Die Barbarisierung und die Enthemmung des öffentlichen Diskurses finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einer krisengeplagten spätkapitalistischen Gesellschaft. Sie entwickelt sich in Wechselwirkung mit den Krisenschüben, die das Weltsystem in wachsender Intensität erschüttern.

Krisenkontext

Die Sarrazin-Debatte als der Urknall der neuen deutschen Rechten brach kurz nach Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 aus, als hysterische Abstiegsängste die deutsche Mittelklasse plagten und sozialdarwinistische Abgrenzungsreflexe gegenüber der anwachsenden Unterschicht um sich griffen. Die Eurokrise ließ den gegen die "faulen Südländer" gerichteten Kulturalismus und Rassismus anschwellen, während die Flüchtlingskrise den Hass auf Flüchtlinge, auf Araber und Afrikaner in der Öffentlichkeit etablierte.

Ein jeder Krisenschub ließ die entsprechenden rechtspopulistischen und rechtsextremen Wahngebilde weiter anschwellen sowie die organisatorische Ausbildung der Rechten in der Bundesrepublik befördern. Ohne Übertreibung können die Eurokrise und die Flüchtlingskrise als die wichtigsten Formierungsphasen der AfD bezeichnet werden.

Der ideologische Reflex ist - wie von Sarrazin etabliert - immer der gleiche: Ein Krisenschub wird auf imaginierte rassische oder kulturelle Minderwertigkeiten der Krisenopfer zurückgeführt. Die Krisenursachen werden so personifiziert: Die Arbeitslosen sind schuld an Arbeitslosigkeit, die Südeuropäer sind schuld an der Eurokrise, die Araber oder Afrikaner sind schuld an Krieg und Staatszerfall in ihrer Region.

Deutschland müsse sich folglich gegenüber diesen Regionen, gegenüber diesen "minderwertigen" Menschengruppen schützen, die Grenzen dichtmachen - koste es, was es wolle. Und seien es die letzten zivilisatorischen Mindeststandards.

Durch diese rechte Krisenideologie werden die ökologischen wie ökonomischen Widersprüche, die den globalen Krisenprozess anheizen, aus dem Blickfeld genommen. Stattdessen werden die Krisenopfer als Krisenverursacher, als Sündenböcke präsentiert.

Hegemonialstrategie der Neuen Rechten

Die krisenbedingt zunehmende Widerspruchsentfaltung, die - ganz im Sinne eines Extremismus der Mitte - besagte Krisenideologien begünstigt oder hervorbringt, wird von der Neuen Rechten im Rahmen einer Hegemonialstrategie instrumentalisiert. Es geht um das reaktionäre Umkodieren des kulturellen Umfelds politischer Diskurse, um durch entsprechende Debatten und "Tabubrüche" (Kulturalismus, Nation, Polemik gegen "Gender-gaga", konformistische Rebellion, etc.) den Diskursrahmen zu verschieben, reaktionäre Ansichten zum öffentlich akzeptierten Mainstream zu machen.

Kulturelle Hegemonie fungiert hierbei als eine Voraussetzung für entsprechende politische Praxis: Erst wenn rechte Parolen wie "Grenzen dicht!" oder "Ausländer raus!" als "normal" erscheinen, kann eine entsprechende Politik umgesetzt werden.

Letztendlich geht es um die Definitionsgewalt über den Begriff von gesellschaftlicher Normalität, über das, was als selbstverständlich, als alltäglich erscheint.

Der diskursive Rahmen, in dem sich öffentliche Auseinandersetzungen abspielen, wird so allmählich nach rechts verschoben. Dabei werden konformistische Inhalte - das, was die große Mehrheit denkt und nicht auszusprechen wagt - mit der Pose des Underdogs, des Rebellen präsentiert, während Massenmedien und rechtskonservative Verlage diesen Provokationen ihre Massenwirkung verleihen.

Die reaktionären "Tabubrüche" und Provokationen im öffentlichen Raum, die durch den Erfolg Sarrazins ausgelöst wurden, stellen für die populistischen Akteure auch einen Karrierepfad dar. Gerade wenn rechte Ressentiments von jemanden verbreitet werden, der nicht der Neuen Rechten zugezählt wird, kann dies zur Festigung rechter Diskurshegemonie entscheidend beitragen. Die entsprechenden "Klartextredner", die rechte Positionen wiedergeben, können dann auf entsprechende Aufmerksamkeitsschübe zählen.

Aufmerksamkeitsgewinne

Im Medienzirkus wie in einer jeden Bundestagspartei existieren Akteure, die diese ideologische Nische, die Rolle eines nach meiner Auffassung "konformistischen Rechtsrebellen" besetzen, bei der die Festigung rechter Diskurshegemonie mit persönlicher Karriereförderung einhergeht.

Zu nennen ist der ehemalige SPD-Mann Sarrazin, der mit seinen ressentimentgeladenen Büchern Millionen scheffelte. Bei der Linkspartei steht Sahra Wagenknecht, bei der CDU Hans-Georg Maaßen, bei den Grünen Boris Palmer für provokante Positionen, bei denen es Anschlüsse nach rechts gibt. In der FDP gibt es Nähen zur alten wie zur neuen Rechten.

Der provokante "Klartext" jenseits der organisierten Rechten festigt deren Diskurshegemonie bei vielen Themen (etwa Ausländer/Flüchtlinge), da sie zur Normalisierung reaktionärer Ideologie beitragen. Im Gegenzug kann beispielsweise ein Bürgermeister wie Boris Palmer aufgrund von rassistischen Bemerkungen, die keine Einzelfälle sind, zu einer bundesweit bekannten Figur aufsteigen.

Sahra Wagenknecht bekommt immer dann viel Aufmerksamkeit und Zustimmung in konservativen Massenmedien wie FAZ, Focus, Weltwoche oder Welt, wenn sie die Linke angreift oder gar - wie in der Flüchtlingskrise - Applaus von der AfD, wenn ihre Rhetorik gegen die Aufnahme von Flüchtlingen gerichtet ist.

Der ehemalige Verfassungsschutzchef Maaßen arbeitet wiederum daran, durch eine Diskursverschiebung nach Rechtsaußen einer Koalition zwischen AfD und CDU vorzuarbeiten - indem er etwa die von Deutschland im 20. Jahrhundert entfesselten Weltkriege als gescheiterte Versuche zur "Weltrettung" bezeichnet.

Das politische Geschäftsmodell, bei dem man auf einer reaktionären Welle reitet, um hierdurch Popularitätsgewinne zu erzielen, müsste den Beteiligten selbst aufgefallen sein. Sowohl Sarrazin, wie auch Wagenknecht sprangen Palmer bei seinen jüngsten Eskapaden zur Seite.