"Das geschieht nicht in meinem Namen als Jüdin, Israelin und Deutsche"

Fordert ein Ende und die Anerkennung des palästinensischen Leids: Nirit Sommerfeld. Bild: privat

Tägliche Diskriminierung der Palästinenser muss zum Thema werden, wenn die Ursachen des Nahostkonfliktes erfasst werden sollen. Eine Protestrede

Wundert Ihr Euch über das, was gerade zwischen Mittelmeer und Jordan passiert? Wirklich? Ich verstehe, Ihr hört Euch die Nachrichten an und lest die Zeitung, und daher glaubt Ihr zu wissen, dass alles doch so ruhig war in Israel und Palästina in letzter Zeit. Wie lange eigentlich? Und war es wirklich ruhig? Oder hatten nur wir in Deutschland Ruhe vor den Nachrichten aus Nahost?

Wenn Ihr meint, seit dem letzten Gazakrieg gehe es friedlich zu, täuscht Ihr Euch. Nur: Das, was für palästinensische Menschen grausamer Alltag ist, ist hier bei uns kaum eine Meldung wert. Erst wenn Raketen aus Gaza fliegen, ist der alte, ungelöste sogenannte "Nahostkonflikt" wieder auf den Titelseiten. Was aber hören, sehen und lesen wir in unseren Medien über die tagtägliche Diskriminierung der Palästinenser?

Wenn wir den aktuellen Gewaltausbruch verstehen wollen, müssen wir den größeren Kontext begreifen. Das heißt unter keinen Umständen, Gewalt zu rechtfertigen oder Raketenbeschuss zu verteidigen, im Gegenteil; aber wenn wir Gewalteskalation in Zukunft verhindert sehen wollen, müssen wir lernen, Ursache und Wirkung zu unterscheiden.

Im Winter der Jahres 2008 auf 2009 habe ich in Tel Aviv gelebt. Über unseren Strand flogen die Jagdbomber ins knapp 60 Kilometer entfernte Gaza. Wir alle wussten, was sie dort anrichteten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits begonnen, mich auf die andere Seite der Trennmauer zu begeben.

Was ich dort im besetzten Palästina erlebt habe, hat mich zutiefst erschüttert: Ich habe Menschen kennengelernt, die seit Jahrzehnten unter Besatzung leben, ihrer Freiheit und ihrer Menschenrechte beraubt. Die in ihrer eigenen Heimat durch Checkpoints geschleust und nicht selten über Stunden aufgehalten oder gar nicht durchgelassen werden.

Ihr Land wird von der israelischen Armee konfisziert und von Siedlern völkerrechtswidrig bebaut. Ihre Häuser werden von israelischen Bulldozern zerstört. Im Gegensatz zu jüdischen Israelis bekommen sie keine Baugenehmigungen für neue Häuser. Sie werden auch nicht für Häuser entschädigt, aus denen sie verjagt wurden. In ihrer eigenen Stadt Jerusalem haben sie nur Aufenthaltsstatus, aber keine Staatsbürgerschaft.

UNO: 700 Kinder jährlich in Ost-Jerusalem verhaftet

Sie leben in Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder, wenn sie nachts von schwerbewaffneten Soldatinnen und Soldaten aus ihren Betten gerissen werden; wenn ihre Kinder ohne Anklage verhaftet werden. Die UN-Organisation Ocha berichtet von etwa 700 verhafteten Kindern jährlich allein in Ost-Jerusalem. In Gaza leben zwei Millionen Menschen seit 14 Jahren unter Blockade mit zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben – was ausdrücklich von israelischer Seite so gewollt ist.

Die sogenannten israelischen Araber, also Palästinenser, die seit 1948 innerhalb Israels leben, werden per Gesetz als Bürger zweiter Klasse diskriminiert. Und mehrmals die Woche erreichen mich übers Internet erschütternde Nachrichten, dass wieder einmal ein palästinensischer Mensch durch israelische Gewalt getötet wurde – sei es in Gaza, in Ostjerusalem oder der Westbank, manchmal sogar innerhalb Israels. Mehrmals die Woche.

Unter den Getöteten sind unbewaffnete Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, Menschen mit Behinderungen. Hören wir hier etwas davon? Werden wir tagtäglich mit diesen Katastrophenmeldungen konfrontiert?

All das geschieht im Namen des israelischen Staates, dessen Bürgerin ich bin, und dessen Sicherheit angeblich Staatsräson des deutschen Staates ist, dessen Bürgerin ich auch bin. Aber es geschieht nicht in meinem Namen, das sage ich ausdrücklich als Jüdin, als Israelin und als Deutsche.

Auch jetzt beginnen die Schlagzeilen mit dem Raketenbeschuss aus Gaza. Als sei dem nichts vorausgegangen! Oder wurdet Ihr zuvor über die friedlichen Proteste der Palästinenser und Israelis gegen die bevorstehenden Zwangsräumungen palästinensischer Familien aus Sheikh Jarrah informiert?

Was wusstet Ihr über Straßensperren und die Gewalt, das totale Versagen der Jerusalemer Polizei während des Fastenmonats Ramadan? Was wusstet Ihr über die Provokation, die von jüdischen National-Religiösen ausgeht, die alljährlich seit 1967 die "Wiedervereinigung" Jerusalems feiern? Sie ziehen durch Jerusalems Altstadt, natürlich auch durchs arabische Viertel, feiern die Besatzung und Judaisierung Jerusalems und skandieren dabei – von Polizei und Militär geschützt – "Tod den Arabern"?

Recht auf Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung für alle Menschen

Die Ursache für den derzeitigen Gewaltausbruch ist die andauernde Entrechtung des palästinensischen Volkes, die mit der Vertreibung von 750.000 Palästinensern und der Zerstörung von etwa 500 Dörfern bereits Ende 1947 begann. Das ist das Trauma der Palästinenser, sie nennen es Nakba – Katastrophe –, und sie dauert bis zum heutigen Tage an. Es ist die fortwährende Nakba, die fortwährende Ungerechtigkeit, für die wir Israelis die Verantwortung tragen.

Es fällt mir nicht leicht, dies zu sagen, denn ich denke dabei an meine Freunde und meine Familie in Israel. Viele von ihnen halten mich wegen meiner Aussagen, wegen meiner Haltung für eine Verräterin, für eine Nestbeschmutzerin. Sie versuchten schon vor Jahren mir klarzumachen, dass Geschichte nun mal nicht gerecht sei, dass wir Juden seit 2000 Jahren Verfolgte seien, dass unser Trauma, der Holocaust, die letzte Katastrophe gewesen sein muss, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe – nie wieder mit uns.

Aber wie kann ich an Menschenrechte glauben, wie kann ich Humanist sein, wenn das Recht auf Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung nicht für alle Menschen dieser Welt gelten würde? Wie soll ich hinnehmen können, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser den Preis dafür bezahlen, dass die Europäer uns diskriminiert haben und die Nazis uns Juden vernichten wollten?

Wie könnte ich als Jüdin in Deutschland leben, wenn die Deutschen ihre Schuld nicht mehrheitlich anerkannt hätten? Deutsche Politiker machen den großen Fehler zu glauben, die deutsche Nazi-Schuld könne gesühnt werden durch blinde Loyalität dem israelischen Staat gegenüber. Ist das der Grund, warum wir aus den deutschen Medien zu wenig erfahren über Kontext, Ursache und Wirkung der Gewalt im Nahen Osten?

Fürchtet man sich in Deutschland davor, Juden bzw. jüdische Israelis nicht mehr ausschließlich als Opfer und Palästinenser nicht ausschließlich als Terroristen sehen zu müssen? Das wird auf Dauer nicht funktionieren. Die Wahrheit ist wie Löwenzahn: Man kann sie beschneiden und versuchen, sie auszurupfen und zu unterdrücken – sie wird ihren Weg an die Oberfläche finden, so wie der Löwenzahn Asphalt durchbricht.

Wer zu diesem Unrecht schweigt, wer es als "Konflikt" verharmlost und wer resigniert mit den Schultern zuckt, trägt zur weiteren Eskalation dieser fortwährenden Katastrophe bei. Wir können uns nicht wohlfeil gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren und gleichzeitig zur systematischen Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser schweigen.

Und allen, die uns Juden in Deutschland pauschal für die Aktionen Israels mitverantwortlich machen, sage ich: Nehmt bitte zur Kenntnis, dass es in Deutschland sehr diverse jüdische Stimmen gibt!

Als Mitglied des Vereins Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost stehe ich auf der Seite der Unterdrückten, lehne jede Form von Gewalt ab, betrauere jedes Todesopfer und alle Verletzten und deren Familien auf beiden Seiten, und ich weiß: Wir können nur dann in Frieden und Sicherheit als Nachbarn leben, wenn wir das Problem an der Wurzel packen. So schmerzlich das ist: ohne die Anerkennung des systematischen Unrechts, das den Palästinensern seit 1947 angetan wird, ohne gleiche Rechte für alle Menschen in Israel und Palästina kann es keinen Ausgleich, kann es keinen Frieden geben.

James Baldwin sagte: "Nicht alles, was konfrontiert wird, kann geändert werden. Aber nichts kann geändert werden, bis es konfrontiert wird."

Die Sängerin und Schauspielerin Nirit Sommerfeld hielt diese Rede am 17. Mai in München.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.