Der ganz normale Antisemitismus

Auf Spurensuche zwischen Vorurteil und Eskalation

Judesein hat etwas mit Tod zu tun.

Yaacov Ben-Chanan

"Antisemitismus ist mitten im Alltag", heißt es 2017 in einem Studienbericht des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (IKG) ("Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland").

Eine Mehrheit von 85 Prozent der im Rahmen der Studie Befragten äußern Ängste vor einer Zunahme von Antisemitismus. Insbesondere die rechtspopulistischen Strömungen in Deutschland rufen bei rund drei Viertel der befragten jüdischen Mitbürger Sorgen wach.

Mehr als die Hälfte der Befragten äußert auch Sorgen aufgrund der Zuwanderung (antisemitische Einstellungen unter Flüchtlingen). Ein Drittel sieht jedoch auch positive Folgen durch die Zuwanderung, rund 84 Prozent meinen, auch ohne Geflüchtete sei Antisemitismus in Deutschland ein Problem.

Das gibt umso mehr Anlass, an die eigene Aufarbeitung zu denken. "Deutsch" und "Jüdisch" ist ein bleibendes Spannungsfeld. Es ist eine ureigene Aufgabe damit verbunden; am wenigsten als Deutsche haben wir Grund, mit dem Finger auf andere zeigen. Das jetzt wieder aufgeflammte Thema berührt nicht nur grundsätzlich die Problematik von Fremdenhass und Antisemitismus, sondern auch: das nationale Problem, das spezifisch "deutsch" ist. Und etwa bleibt?

Antisemitismus – salonfähig geworden

Nochmal zu neueren Befunden: Es ist festzustellen, dass Antisemitismus seit 2014 zugenommen und die Art des Antisemitismus sich geändert hat. Antisemitismus wird von ganz unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft viel offener und salonfähiger geäußert. Besonders der auf Israel bezogene Antisemitismus ist seit 2014 unter der Verschleierung als "legitime Kritik" sehr verbreitet. Einige Experten weisen darauf hin, dass die Parolen, wie auf den Demonstrationen 2014 "Juden ins Gas!" vor zehn Jahren auf der Straße in Deutschland undenkbar gewesen wären.

Die Bielefelder Studie schlussfolgert:

Das Wort "Jude", jüdische Identität und jüdische Präsenz in Deutschland bleiben weder Selbstverständlichkeiten noch neutrale Begriffe. Dadurch sind die gesellschaftliche Teilhabe und Zugehörigkeit, Kommunikation zwischen Juden und Nichtjuden sowie Normalitätsvorstellungen gefährdet.

Und ja, da sind tief eingeschliffene Muster am Werk: "Antisemitismus" wird geradezu auf einer Kontinuitätsskala der Geschichte des jüdischen Volks eingeordnet; das heißt, er wird oft als selbstverständliches Phänomen naturalisiert, das es auch weiterhin geben wird. Allein "mehr Bildung", wie in Sonntagsreden gefordert, nützt da nicht viel, wie die Bielefelder Befragung deutlich macht: Die Frage nach einer überzeugenden Bildung und Erziehung ist überdies nicht nur "nach Auschwitz", sondern, wie ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, ganz grundsätzlich und überdies im Kontext aktueller Ereignisse je neu zu stellen.

Zusammenhänge sehen!

An Debattenbeiträgen mangelt es nicht. Nur, wenn man Zusammenhänge kenne, ließen sich Vorurteile und Eskalationen nachvollziehen, sagt Greta Ionkis (83), Tochter einer russischen Jüdin und eines deutschen Protestanten, aktuell bezogen auf die Gewalt zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Streifen oder - im erweiterten Blick - auf den Antisemitismus von rechter, linker oder arabischer Seite hier in Deutschland. Sie bezieht konsequent den rückwärtigen Blick in ihre Haltung mit ein – ohne Hass, Ressentiment und Rechthaberei.

Die Kulturwissenschaftlerin und Historikerin Ionkis lebt seit 1994 in Köln. "Deutsch", "jüdisch" - diese beiden Worte hatten in ihrem Leben immer Macht. In einer Reihe von Essays, die sie ursprünglich auf Russisch verfasste, befragt sie die Geschichte, beschreibt, welchen Einfluss Luthers antijüdische Haltung hatte und wie diese Jahrhunderte später den Nazis als Argument für ihre Rassenideologie diente.

Ionkis untersucht jüdische Bezüge in den Werken von Goethe, Lessing, Heine, Böll und Grass; letzteren nimmt sie gegen Vorwürfe des Antisemitismus, die in Grass' letzten Lebensjahren lauter wurden, in Schutz.

Ionkis ordnet auch Willy Brandts Kniefall von Warschau ein; sie erklärt, warum es in der aktuellen Debatte um ein kollektives Gedenken und nicht um Kollektivschuld gehen sollte. Eine eigene Abhandlung widmet sie dem Stolperstein-Projekt des Künstlers Gunter Demnig, der mit bislang mehr als 75 000 Stolper-Steinen an Opfer des Nationalsozialismus erinnert.

Die Grundfrage, die sie nach eigenem Bekunden antreibt, lautet: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem historisch gewachsenen geistigen Reichtum Deutschlands und der Brutalität und Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus?

Solche Fragen, sagt die Autorin, haben sie bei ihren Recherchen angetrieben, gerade veröffentlicht sie die Ergebnisse als Buch1: "Juden und Deutsche im Kontext von Geschichte und Kultur". Unterstützung erhielt die Publikation u.a. durch das NS-Dokumentationszentrum in Köln, die christlich-jüdische Gemeinschaft sowie die Bibliothek Germania Judaica.

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