Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf!

Im Corona-Jahr 2020 lief die Suche nach menschlichen Versuchskaninchen für neue Psychopharmaka auf Hochtouren. Hier eine Werbetafel aus der Berliner U-Bahn. Foto: Telepolis / claw

Psychische Störungsbilder werden medikamentös behandelt, obwohl sie biomedizinisch gar nicht diagnostizierbar sind - zugleich werden immer mehr Fälle registriert

Nach Datenlage der Krankenversicherung KHH haben behandlungsbedürftige Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen allein im Jahr 2020 um rund 60 Prozent zugenommen, wie die ARD-tagesschau am 3. Juni berichtete. Schon zwischen 2009 und 2019 habe es hier einen Anstieg von 13 Prozent gegeben.

Bei anderen Störungsbildern sei die Zunahme in dieser Altersgruppe noch größer gewesen: Angststörungen plus 45 Prozent, Burnout plus 55 Prozent, Anpassungsstörungen plus 72 Prozent. Bei Depressionen sei zwischen 2009 und 2019 sogar ein Anstieg um 97 Prozent festgestellt worden, also beinahe eine Verdopplung. Experten seien sich einig, dass die Corona-Pandemie psychische Probleme verschärft habe. Dabei träten die Probleme nicht nur häufiger auf, sondern auch in immer früher im Leben der Betroffenen.

Alter Trend

Der Trend ist allerdings nicht neu: Im 2018 hatte die Barmer-Ersatzkasse ähnliche Zahlen über junge Erwachsene veröffentlicht. Die Entwicklung hält bereits seit den 1990ern an - und die Pharmaindustrie schlägt daraus Kapital. Bereits 1993 traf der US-Psychiater Peter D. Kramer mit seinem Buch über Antidepressiva, das auf Deutsch 1995 unter dem Titel "Glück auf Rezept" erschien, einen Nerv. 1997 schrieb dann der irische Psychiater David Healy über die "Ära der Antidepressiva" und zog damit den Zorn der Pharmaindustrie auf sich, die danach seine Karriere torpedierte. Healy ließ sich aber nicht beirren und veröffentlichte weiter kritische Artikel und Bücher.

1998 thematisierte der französische Soziologe Alain Ehrenberg in "Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart" den anhaltenden Anstieg von Depressionen. Meine inzwischen pensionierte Chefin Trudy Dehue schrieb 2008 ihren niederländischen Bestseller über die Depressions-Epidemie und erhielt dafür viele Auszeichnungen und Ehren, sowohl aus Wissenschaft als auch Gesellschaft.

2013 kritisierte dann der namhafte US-Psychiater Allen Francis die endlose Ausdehnung psychischer Störungen, das auf Deutsch im selben Jahr mit dem Titel "Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" erschien. Ihm war insbesondere die Pathologisierung natürlicher Trauer a beim Verlust eines nahestehenden Menschen als "Depression" ein Dorn im Auge. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Das medizinische Modell

Und jetzt, im Jahr 2021, ist schon wieder von einem sprunghaften Anstieg der Diagnosen die Rede. Das vorherrschende Modell in der Psychiatrie, wie es etwa der langjährige Leipziger Klinikdirektor und Vorsitzender der Deutschen Depressions Hilfe, Ulrich Hegerl, unermüdlich vertritt, betrachtet dabei Depressionen und andere psychische Störungen als Erkrankungen im medizinischen Sinn. Als gebe es einen Krankheitserreger, den man vorzugsweise medikamentös behandeln müsse.

Unter dieser Prämisse lässt sich gar nicht begreifen, warum immer mehr und mehr und mehr Menschen psychologisch-psychiatrische Diagnosen bekommen. Der biomedizinische Ansatz geht nämlich davon aus, psychische Störungen seien Gehirnerkrankungen. Warum soll es aber immer mehr defekte "Schaltkreise" in Gehirnen geben? Und warum lassen sich die nicht im Einzelfall nachweisen?

Zum Vergleich sei noch einmal an die Geschichte der Aufmerksamkeitsstörung ADHS erinnert: Früher sagte man schlicht, Kinder mit bestimmten Verhaltensauffälligkeiten hätten einen "Gehirnschaden" (Minimal Brain Damage, MBD). In den 1950er- und 1960er Jahren zog dieser Ansatz immer mehr Kritik auf sich - und man machte daraus eine weniger gravierend klingende "Gehirnstörung" (Minimal Brain Disorder, MBD). 1980 wurde dies dann zur Aufmerksamkeitstörung ADS beziehungsweise 1987 zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS umgetauft.

Bald darauf explodierte die Zahl der Medikamentenverschreibungen von Ritalin und anderen Stimulanzien. 2017 fanden führende Psychiater heraus, dass es im Prinzip keine strukturellen Gehirnunterschiede zwischen Menschen mit und ohne ADHS-Diagnose gibt.

Für die wissenschaftliche Veröffentlichung wurde der Befund aber genau umgedreht: Die minimalen statistischen Unterschiede zwischen beiden Gruppen würden endgültig beweisen, dass es sich bei ADHS um eine Gehirnstörung handle. So verlangt es das biomedizinische Paradigma. Komisch nur, dass sich ADHS - ebenso wie die vielen hundert anderen psychischen Störungen - nicht im Gehirn diagnostizieren lässt.

Ursachenlehre

Das medizinische Modell ist für medizinische Erkrankungen angemessen. Hierfür gibt es in der Regel eine körperliche Ursache beziehungsweise einen körperlichen Krankheitsherd. Mit dessen Beseitigung verschwinden dann auch die Krankheitssymptome. Bei einer bakteriellen Infektion verschreibt man beispielsweise Antibiotika. Oder eine - im Blutbild nachweisbare - körperliche Einschränkung der Insulinproduktion behebt man mit der künstlichen Zufuhr des Hormons zur Regulierung des Blutzuckerspiegels.

Nicht so aber bei psychischen Störungen. Als einflussreiche US-Psychiater die dritte Auflage ihres Diagnosehandbuchs DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) von 1980 vorbereiteten, wollten sie es auf ein wissenschaftliches Fundament stellen. Die erste Fassung war in den 1950er-Jahren auf Grundlage von Prozeduren entstanden, mit denen im Zweiten Weltkrieg die Wehrtüchtigkeit von Soldaten beurteilt worden war. Damals war die Psychiatrie noch stark von Sigmund Freuds Lehre beeinflusst. Als Ursachen der Störungen galten im Wesentlichen Eltern-Kind-Konflikte.

Das fand die neue Generation der Psychiater in den 1970er-Jahren aber immer weniger überzeugend. Deshalb wurde die Ursachenlehre im DSM-III entfernt, beziehungsweise erst in einen Anhang verschoben, weil es natürlich auch Widerstand von anderen Psychiatern gab.

Bis heute hat sich daran nichts geändert. Auch das DSM-5 von 2013, das im Lichte der Neurowissenschaften überarbeitet werden sollte, kennt allenfalls Risikofaktoren, keine Ursachen. Seit der Auflage von 1980 geht es um reine Symptombeschreibungen: abweichende Gefühls-, Denk- und Verhaltensmuster, die meist mit subjektivem Leiden oder Einschränkungen im Alltag einhergehen. Hält ein Psychotherapeut oder Psychiater diese für "klinisch signifikant", dann kann eine Diagnose erfolgen. Hausärzte diagnostizieren mitunter auch solche Störungen, sind dafür in der Regel aber nicht speziell ausgebildet.

Inzwischen sollte klar sein, dass wir es hier mit gesellschaftlichen und statistischen Normen zu tun haben. Bei Depressionen dreht sich, wie bereits gesagt, viel um die Frage, was normale Trauer von einer klinischen Depression unterscheidet. Laut DSM-5 sollen die Experten dabei berücksichtigen, was "kulturell angemessen" ist. Aha.

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