Frühling für Kinofans - falls getestet, geimpft oder genesen

Apokalyptischer Klassiker gratis nach dem Lockdown: Koyaanisqatsi im Berliner Programmkino Babylon. Foto: Neue Babylon Berlin GmbH

Nach dem Corona-Lockdown erwacht die analoge Kulturszene. Das Berliner Kult-Kino Babylon hat seine Tore am Wochenende für kostenlose Vorführungen geöffnet

Die Entscheidung fiel ganz schnell. Nicht mal zwei Tage überlegte der Kino-Betreiber Timothy Grossman vom Berliner Kult-Kino Babylon, ob er öffnet oder nicht. Die örtliche Politik hatte wider Erwarten dem sehnsuchtsvollen Hoffen entsprochen und kurzfristig die Öffnung der Kinos in Berlin unter bestimmten Auflagen zum Schutz vor Corona-Infektionen erlaubt, und zwar ab Freitag, dem 4. Juni 2021. Und Grossman legte los: "Moderne Zeiten", der Klassiker von und mit Charlie Chaplin, flimmerte am Freitag über die Leinwand.

"Koyaanisquatsi", ästhetische Apokalypse-Filmkunst mit Musik von Philipp Glass folgte am Samstagabend, und die unverwüstlich humoristisch-tiefsinnige Filmkomödie "To be or not to be" von Ernst Lubitsch stand ratzfatz am Sonntag auf dem Programm. Weltpolitik und Ehedrama mischen sich darin zu einer bissigen Hitler-Parodie im Shakespeare-Format. 1941, als der Film gedreht wurde, standen die Nazis bereits vor Moskau - der Filmstoff war brandheiß. Prompt kam auch gestern heftiger Applaus nach der Vorführung.

Eintritt frei zur Feier des Tages

Der Clou: Grossman verlangte angesichts der Umstände des Lockdowns, die nicht nur für ihn, sondern auch für sein Publikum eine Belastung darstellen, nicht einmal Eintrittsgeld. Man saß maskiert und mit großen Abständen in den Reihen, aber: Es war ein festliches Wochenende aus Sicht der Kinofans - und Grossman kann zufrieden feststellen: "Die Leute waren entspannt und haben sich gefreut, dass es wieder losgeht." Das Gefühl, etwas Langentbehrtes wiederzuhaben, mag jede:r individuell genossen haben. Für sich und seine Mitarbeiter:innen konstatiert Grossman: "Wir sind glücklich, wenn unser Publikum es ist, und das war am letzten Wochenende der Fall."

Für groß angelegte Werbung war so rasch allerdings gar keine Zeit. Nur über die sozialen Medien, von Facebook über Instagram bis zu Telegram, verbreitete sich die gute Nachricht vom Neubeginn. Genau 110 Gäste kamen am Freitagabend, 300 hätten es den Corona-Bestimmungen nach im Babylon sein dürfen.

Nach sieben Monaten Kino-Abstinenz hätte man auf größeren Andrang tippen können. Dass er bescheidener ausfiel, lag wohl eher an den zur Zeit noch vorgeschriebenen Hürden als an mangelndem Interesse: Alle, die kamen, waren ordnungsgemäß geimpft, getestet oder genesen und legten bereitwillig die Unterlagen dazu vor. Grossman und sein Team, das durch die Corona-Krise von zehn auf acht Mitarbeiter:innen geschrumpft ist, mussten niemanden wegschicken.

Besonders freute ihn: Auch Familien kamen am Freitag, denn der Chaplin-Film ist schließlich nicht nur gut für die Bildung, sondern auch für das Bedürfnis nach Vergnügen. Und so reichte das Alter der Anwesenden von sieben bis 93 Jahre. Kinderfilme sind für die Zukunft im Babylon allerdings nicht eingeplant, sodass in der Regel die maskierten Erwachsenen unter sich bleiben dürften.

Familiärer Bezug zur McCarthy-Ära

Der absolute Senior am Freitag war der Vater von Timothy Grossman, der sich den großen Abend nicht entgehen lassen wollte. Victor Grossman ist gebürtiger US-Amerikaner und musste genau wie Charles Chaplin seine Heimat wegen der Kommunistenhatz von Joseph McCarthy 1952 verlassen. Jetzt staunte er, wie gut gelaunt und höflich das Berliner Publikum des Neuanfangs war. Die meisten jungen Leute kamen direkt auf die Bekanntgaben im Internet. Ihnen stand die Überraschung noch im Gesicht geschrieben: Endlich wieder Kino!

Für die kommenden Wochenenden plant Grossman ähnliche Aktionen. Dass er dabei nicht gerade gute Geschäfte im finanziellen Sinn machen wird, sorgt ihn weniger als der allgemeine Zustand der Kulturlandschaft: "Nicht alles in der Welt trägt sich", sagt er, "und es muss sich auch nicht immer alles tragen." Man kann das erklären: Während Konzerne ein langfristig geplantes Sponsoring betreiben, um dann die eingesetzten Beträge lukrativ von der Steuer absetzen zu können, investiert jemand wie Grossman lieber spontan und vor Ort in seine eigene Klientel. Was nicht heißt, dass ihm das nicht auch nützt.

"Es ist ein Geben und Nehmen, und es ist doch wichtig, dass auch was zurückkommt, für beide Seiten", so Grossman über seine Unternehmensphilosophie. Wenn es wieder richtig losgehen wird, werden die Leute wiederkommen und zahlen, da ist er sich sicher: "Es geht sowieso immer um eine Mischkalkulation im Kino." Doch nicht wenige Kulturinteressent:innen kämpfen noch mit Ängsten, sich überhaupt in geschlossene öffentliche Räume zu begeben.

Demnächst wieder Stummfilm-Konzerte

Da ist die Verunsicherung manchmal größer als der Appetit auf Kultur. Trotzdem wird das Babylon die Kinofans weiter anlocken. Zumal das Risiko, sich in einem solchen Kunsttempel anzustecken, bei angemessenem Verhalten laut Studien aus der Schweiz definitiv nicht gravierend sprich kaum vorhanden ist. Und das Programmkino steigert sich noch. Für Freitag, den 2. Juli 2021 hat Grossman - dann allerdings gegen Eintrittsgeld - den Stummfilm "Metropolis" von Fritz Lang mit Live-Musik eingeplant. Das expressive Schwarz-Weiß-Werk aus dem Jahr 1927 ist der erste abendfüllende Sci-Fi-Klassiker der Filmgeschichte. Die restaurierte Fassung von 2011 lässt kaum Wünsche offen, wenn man ästhetische Spannung und politisch deutbare Inhalte im Kinofilm erwartet.

Gerade heute, in einer sich zunehmend in Arm und Reich spaltenden Gesellschaft, hat "Metropolis" eine erschreckende Aktualität gewonnen. Da sich die sozialen Gräben durch die Corona-Krise noch verstärken, steigt auch die beklemmende, dennoch erhabene Wirkung des Films. Die bewegte symphonische Musik von Gottfried Huppertz wird dabei fast zum romantischen Träumen bringen, zumal durch die Live-Darbietung vom Babylon Orchester Berlin unter Dirigent Miguel Pérez Iñesta. Aber die futuristische Wolkenkratzer-Szenerie auf der Leinwand bindet einen gedanklich schnell wieder in der Großstadt an. Es wird wohl ein spannender zweiter festlicher Neuanfang sein, der da auf das Berliner Publikum zukommt.

Als Programm- und Repertoire-Kino hat das Babylon den Vorteil, nicht direkt von der Filmindustrie und den großen Verleihfirmen abhängig zu sein. Timothy Grossman: "Wir haben rund hundert Jahre Filmgeschichte im Rücken, wir können unseren Blick ins Ausland richten - nach Indien, Kanada, wohin auch immer - und wir können uns auch viele Rückschauen leisten."

Der kulturelle Gehalt seines Programms ist von daher nicht Zufall, sondern Absicht. Er erreicht damit ein Publikum, das mehr will, als sich nur irgendwie laut und bunt berieseln zu lassen. Während andere Kinobetreiber vielleicht insgeheim die Hoffnung hegen, ein neuer James Bond möge auftauchen und die Besucher:innenzahlen in die Höhe schnellen lassen, kann Grossman sich auf seinen Qualitätsinstinkt verlassen.

Lesungen, Konzerte, weitere Zusatz-Events machen aus dem denkmalgeschützten Kinobau eine Stätte der Kulturpflege: mitten im Großstadtdschungel, an historischem Ort. Denn in der Nachbarschaft lebte einst der junge Ernst Lubitsch, jener jüdische Filmregisseur, der dann als Emigrant in den USA Karriere machte - und der heute als Skulptur in der dritten Reihe des Babylons als Dauergast sitzt. Für Grossman ist Lubitsch der bedeutendste deutsche Filmregisseur, und langfristig hofft der Kinochef, dass sein Idol Lubitsch mit einer Straßenumbenennung im Kiez geehrt werden wird.

"Wir haben jetzt ein anderes Gefühl für die Dinge"

Aber das sind fast Luxusforderungen. "Ich beschwere mich nicht", sagt Grossman im Hinblick auf die gegenwärtige Situation seines Kinos. Noch ist es zwar nicht einfach, Menschen mit einem der vorgeschriebenen "G"s - geimpft, getestet oder genesen - ins Kino zu bekommen. Aber Grossman weiß auch: "Wir haben jetzt ein anderes Gefühl für die Dinge, und das hat auch sein Gutes. Es gibt eine neue Bewusstheit, eine neue Intensität im Erleben." Im Verlauf des Sommers wird er, so hofft er, den Kinobetrieb weiter dem eigentlichen Kulturalltag angleichen können. Um zwar nicht täglich, aber voraussichtlich an drei Abenden pro Woche aufregende Filme vor Publikum laufen zu lassen. Im September, wenn alles gut geht, wird seiner Schätzung nach womöglich so etwas wie Normalität in Deutschland einkehren - auch und gerade im Kinoleben.

Gisela Sonnenburg ist Magistra Artium unter anderem der Theaterwissenschaft. Sie lebt seit den 1980er-Jahren in Berlin, gründete 2014 das Online-Portal www.ballett-journal.de und ist neben der journalistischen Arbeit auch choreografisch tätig.