Die zerkämpfte Wahl und die linke Perspektive

Wieso bewegt sich in der Politik so derart wenig?

Der Philosoph Axel Honneth hat in der Zeit kürzlich einen Essay verfasst, in dem er daran erinnert, wie sehr Corona die Grundfeste unserer gesellschaftlichen Ordnung erschüttert hat.

Eine Rückkehr zur zuvor gelebten Normalität ist für Honneth daher rational kaum begründbar. Die Mängel der Vergangenheit treten unweigerlich zutage. Die Kräfte der Verdrängung aber sind stark. Allenthalben haben Intellektuelle die Pandemie diskutiert. Über eine andere mögliche Zukunft nach der Krise wurde kaum gesprochen:

Vollkommen unbekannt scheint diesen Intellektuellen der Gedanke zu sein, dass eine soziale Erschütterung von solcher Tragweite, indem sie die Routinen und Praktiken des sozialen Miteinanders außer Kraft setzt, immer auch danach verlangt, innezuhalten und besonnen zu überlegen, ob es nach Beendigung der Ausnahmesituation nicht anders, besser weitergehen könnte.

Axel Honneth

Bei den Einlassungen eines Daniel Kehlmanns oder einer Thea Dorn schwang in der Tat immer eine Sehnsucht nach der Zeit vor der Pandemie mit. Nie ging es um Verbesserungen. Nie um eine Veränderung der Verhältnisse. Das große, das alles bestimmende Thema war die Einschränkung der Freiheit. Die liberale Seele war gekränkt. Sie ist es bis heute.

Nun wird es kaum jemanden geben, der Konzerte, gesellige Abende und Restaurantbesuche nicht vermisst. Eine solche unmittelbare Sehnsucht nach Freiheit ist nachvollziehbar. Wir alle haben unsere individuellen Bedürfnisse. So viel steht fest. Corona aber ist keine individuelle Angelegenheit. Wir sind existentiell aufeinander verwiesen.

Die Pandemie ist also auch eine soziale Krankheit, die uns in die Isolation treibt und unerbittlich aufzeigt, wie sehr Gesellschaft eine Verwobenheit ist und Solidarität benötigt. Hätten wir nur einmal den Begriff der Systemrelevanz ernst genommen, statt ihn als bloßes Feigenblatt der bürgerlichen Sphäre zu missbrauchen. In der zweiten Welle hat niemand mehr geklatscht.

Nein, es gibt kein Zurück. Der starre Glaube daran ist eine ungeheuerliche Kurzsichtigkeit. Denn der Weg zur Normalität ist der unweigerliche Weg nach vorne, hinein in eine unsichere Zukunft. Es schwelen die Probleme unserer Zeit. Und diese Probleme sind nicht mit uns in den Lockdown gegangen: Die wachsende soziale Ungleichheit, die massiven Fluchtbewegungen und ihre humanitären Katastrophen und schließlich der Klimawandel, gegen den es keine Impfung geben wird.

Axel Honneth sieht in Corona die Forderung, unsere gesellschaftliche Ordnung zu hinterfragen und Ausschau nach neuen Wegen zu halten, die uns in eine bessere Zukunft führen können. Wieso aber scheitern wir an diesen offensichtlichen Herausforderungen der Zukunft?

Wieso bewegt sich in der Politik so derart wenig? Kann es sein, dass die Strukturen unserer politischen Debatte, die Art und Weise wie Parteien arbeiten und Wahlkämpfe geführt werden, den Problemen der Zeit nicht mehr angemessen sind?

Alle auf ihre Positionen. Und dann … Stillstand

Als Annalena Baerbock als Spitzenkandidatin der Grünen feststand, twitterte der bayerische Landesverband der Linkspartei ein Bild der Politikerin. Vor dem Hintergrund ihrer Person war zu lesen: "Grüne nominieren Vize-Kanzlerin für Schwarz-Grün."

Wer Schwarz-Grün verhindern will, darf nicht die Grünen wählen. So hat es Dietmar Bartsch auf eine der Universalformeln des Wahlkampfes gebracht, die im politischen Satzbaukasten jeder Partei nicht fehlen darf. Auch die Union findet für ebendiese Logik gute Verwendung. So wird fröhlich vor einem drohenden Bündnis der Grünen mit der Linkspartei gewarnt. Alle auf ihre Positionen. Dort ist es gemütlich. Dort gibt es Stillstand in angestrengter Geschäftigkeit des Wahlkampfes.

Vielleicht ist dies genau der passende Begriff, um diesen Stillstand zu erklären: Gemütlichkeit. Gemütlichkeit und Identität. Die goldene Formel der deutschen Politik. Alles ist so unerträglich gemütlich.

Die medialen Inszenierungen, rhetorische Verrenkungen, all der Streit und die Attacken auf den politischen Gegner können kaum darüber hinwegtäuschen, dass sich im Grunde das immer gleiche Schauspiel wiederholt. Eingeübte Aufregung und Konzentration auf die kleinsten Differenzen. Jeder Wahlkampf folgt einem Muster der Identität. Jede Partei will bei ihrem Markenkern bleiben. Mag dieser auch noch so unscharf sein wie bei der Union.

Irgendwas mit Konservativ zieht immer. Am Ende gibt es ja noch Friedrich Merz, die gute alte Werteunion und den Rechtsaußen-Frontmann Hans-Georg Maaßen. Die Grünen lackieren sich mit ökologisch abbaubaren Farben, während die FDP wie auf Knopfdruck das Mantra des freien Marktes abspielen kann. Und die Linkspartei kann Hartz IV vorwärts und rückwärts buchstabieren. Alle nehmen ihre Positionen auf einem Spielfeld ein und agieren aus ihrer gemütlichen Ecke den jeweiligen Gegner. Das alles ist letzten Endes sehr vorhersehbar und gut verwaltet.

Es mag Zeiten gegeben haben, da machte dieser Agonismus durchaus Sinn. Diese Zeiten der absoluten Mehrheiten sind allerdings vorbei. Das politische Feld ist unübersichtlich geworden. Keine Partei kann allein eine Regierung stellen. Dennoch ist der Wahlkampf weiterhin eine Simulation dieser Möglichkeit. Wenn es gerade in den strategischen Kram passt, wird das Gespenst möglicher Koalitionen heraufbeschworen.

Grundsätzlich scheint es aber eine politische Tugend zu sein, sich bloß nicht auf eine Option festzulegen. Sicherlich, manche politischen Konstellationen schließen sich aus. Doch selbst jene Parteien, die sich eigentlich in ihrer Grundausrichtung nahestehen, bekämpfen sich. Es gibt keine Partner. Und genau an diesem Punkt wird die Sache ärgerlich.

Baut Lager! Bildet Banden!

Fridays for Future mögen vielleicht keine politische Position im klassischen Sinne vertreten. Sie legen aber die Karten auf den Tisch. Sie zeigen, was die junge Generation erwartet. Und sie verweisen auf wissenschaftliche Tatsachen. Gerne wird dann der Unterschied zwischen dem Raum der Fakten und dem politischen Raum aus dem Hut gezaubert: Aus den nackten Zahlen müssen in einem mühsamen Prozess politische Schritte erarbeitet werden. Wolfram Eilenberger argumentierte in einem Gespräch mit Luisa Neubauer in diese Richtung:

Wir leben in einer extrem komplexen Welt, in der jede Handlung vielfältige Auswirkungen hat, und zwar keineswegs nur solche, die sich einfach berechnen ließen. Man kann nicht wissen, welche destabilisierenden Faktoren es für das politische System bedeuten würde, wenn Frau Merkel beispielsweise vieles von dem, was jetzt gefordert wird, wirklich sofort umsetzen würde. Und das macht das ganz praktische Geschäft der Politik auch so schwierig.

Wolfram Eilenberger

Eilenberger irrt und legt gleichzeitig den lähmenden Mechanismus der Gegenwart offen. Das derzeitige Handeln der Politik folgt einer Tautologie: Politik ist so, weil Politik so ist. Dabei liegt das Problem genau darin, dass wir mit einer Situation konfrontiert sind, in der wir das bekannte Terrain politischen Handelns verlassen müssen.

Der Klimawandel wird alle politischen Felder, von der Sozial- bis zur Finanzpolitik betreffen. Doch alle tun so, als würde es so etwas wie Klimapolitik geben, die man in ein Ressort packen kann und dann kleinteilig verwaltet. Wie Herr Schäuble mit all der Autorität seiner großartigen Erfahrung festhält: "Wir haben doch größere Probleme auch schon bewältigt."

Es wäre an der Zeit, einer solchen Weltsicht eine andere praktische Vernunft entgegenzustellen.

Statt sich gegenseitig aus dem Rennen zu nehmen, sollten die Grünen, die SPD und die Linkspartei bereits vor der Wahl zusammenkommen. Man kann dafür den angestaubten Begriff "Lagerwahlkampf" verwenden. Aber im Grunde spielt es keine Rolle.

Die Parteien des linken Spektrums sollten einen Fahrplan skizzieren und folgende Losung ausgeben: Wenn wir die Wahl gewinnen, wenn wir zusammen die Mehrheit erringen, dann haben wir uns auf folgende Ziele geeinigt. A-B-C.

Es wäre so etwas wie ein Vorvertrag zu einem Koalitionsvertrag. Anstelle vieler guter Ideen, die auf mehrere Wahlprogramme verteilt sind, wird den Wählern eine echte Option gegeben. Vorbei die Zeit der Koalitionsgespenster.