"Wir haben weniger Zeit"

Bild: G-R Mottez/Unsplash

Die Energie- und Klimawochenschau: Von Scheingefechten, Kipppunkten, kritischen Wechselwirkungen und Chinas rasantem Ausbau der Erneuerbaren

Es gibt wirklich genug Gründe, die Grünen nicht zu mögen. Unter anderem ihre Vorliebe für Aufrüstung und Kriege, Hartz IV oder auch die Tatsache, dass sie wo immer sie in einer Landes- oder Bundesregierung saßen, sie herzlich wenig für den Klimaschutz getan haben. Erinnert sei nur an das Dulden der Vorbereitungen für den Tagebau Garzweiler 2 in Nordrhein-Westfalen oder an das Hamburger Kraftwerk Moorburg, das zu verhindern man im Wahlkampf 2008 versprochen hatte, nur um dann mit der CDU zu koalieren und den Weiterbau mitzutragen.

Doch all das scheint niemanden ihrer Kritiker wirklich zu interessieren, wie man ohnehin im anlaufenden Wahlkampf den Eindruck bekommen kann, dass Sachargumente irgendwie aus der Mode gekommen zu sein scheinen. Besonders deutlich wird dies unter anderem an der absurden Diskussion über den Spritpreis, über die wir bereits an anderer Stelle schrieben.

Hier soll nur kurz noch die aktuelle Gesetzeslage nachgereicht werden. In dem im vergangenen Jahr von Union und SPD und nicht etwa von den Grünen ausgehandelten und durch den Bundestag gebrachten Brennstoffemissionshandelsgesetz heißt es in Paragraph zehn Absatz zwei:

In der Einführungsphase werden die Emissionszertifikate zunächst zum Festpreis verkauft. Für die Dauer des Verkaufs beträgt der Festpreis pro Emissionszertifikat

1. im Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis zum 31. Dezember 2021: 25 Euro,
2. im Zeitraum vom 1. Januar 2022 bis zum 31. Dezember 2022: 30 Euro,
3. im Zeitraum vom 1. Januar 2023 bis zum 31. Dezember 2023: 35 Euro,
4. im Zeitraum vom 1. Januar 2024 bis zum 31. Dezember 2024: 45 Euro,
5. im Zeitraum vom 1. Januar 2025 bis zum 31. Dezember 2025: 55 Euro.

(…) Für das Jahr 2026 wird ein Preiskorridor mit einem Mindestpreis von 55 Euro pro Emissionszertifikat und einem Höchstpreis von 65 Euro pro Emissionszertifikat festgelegt.

Brennstoffemissionshandelsgesetz

Umgerechnet auf einen Liter bedeuten 65 Euro pro Tonne CO2 für Benzin ein Aufschlag von 15 und für Diesel von 17 Cent. Also haben die Regierungsparteien, die die Grünen gerne wegen ihrer Forderung nach einer Steigerung des Spritpreises auf 16 Cent pro Liter als unsozial kritisieren, diese schon längst in Gesetzesform gegossen.

Und sie waren ansonsten so sozial, dass sie nennenswerte Erhöhungen des Mindestlohns verhinderten, Pflegekräften zeitweise 60 Stunden Wochen und 10-Stunden-Arbeitstage verordneten und als besonderes Dankeschön an alle "Systemrelevanten" zurzeit mal wieder die weitere Erhöhung des Rentenalters diskutieren.

Wechselwirkungen

Können wir uns nun also bitte wieder ernsthaften Themen widmen? Zum Beispiel der derzeitigen lebensbedrohlichen Hitzewelle am Persischen Golf, die vielleicht dem einen oder anderen vor Augen führt, dass nun wirklich langsam etwas passieren muss?

Wir könnten uns auch mit einigen Wissenschaftlern fragen, was passiert, wenn systemische Schwellenwerte in der Arktis oder Antarktis überschritten werden?

Das Klimasystem ist nämlich eine ziemlich komplexe Angelegenheit. Zahlreiche seiner Bausteine wie Meeresströmungen, großräumige Muster der atmosphärischen Zirkulation, Meereis, Landoberflächen, Wälder, Permafrost und so weiter werden von noch viel zahlreicheren nicht linearen Prozessen gesteuert, die zudem auch noch oft in Wechselwirkung miteinander stehen.

Diese können negativ oder auch positiv sein. Das heißt, zum Teil dämpfen sie einander, was stabilisierend ist, zum Teil wirken sie aber auch verstärkend aufeinander, was bei der Verschiebung des gegenwärtigen Klimas auch schnell destabilisieren kann.

Emiliania huxleyi. Foto (Cover von PLoS Biology, Juni 2011): Alison R. Taylor (University of North Carolina Wilmington Microscopy Facility)/CC BY 2.5

Wenn etwa die Erwärmung der Meeresoberfläche das Wachstum des weitverbreiteten Algen-Einzellers Emiliana huxleyi fördert und dieser dann durch seine Ausscheidungen und Skelette Kondensationskerne in der Luft über dem Meer bildet.

Dadurch entstehen dort mehr Wolken, die die Sonnenstrahlung blockieren, was wiederum das Oberflächenwasser abkühlt. Das führt wiederum dazu, dass weniger Wasser verdunstet und die Wolken sich schließlich auflösen. Die Wissenschaftler nennen dies eine negative Wechselwirkung oder auch negative Rückkoppelung, da sich die involvierten Prozesse gegenseitig dämpfen.

Negative Rückkoppelungen sind also harmlos, da sie das System stabilisieren. Anders die positiven Rückkoppelungen. Wenn sich involvierten Prozesse gegenseitig verstärken, dann schlagen sie an gewissen Punkten um, das heißt, sie erreichen Kipppunkte, hinter denen sie kaum mehr aufzuhalten sind. Ein Beispiel dafür ist die Rolle des Meereis auf dem arktischen Ozean.

Ist das Nordmeer im Sommer mit Eis bedeckt, reflektiert es ungefähr 60 Prozent des einfallenden Sonnenlichts zurück in den Weltraum. Das ist nicht wenig, denn immerhin scheint die Sonne hoch im Norden und tief im Süden jeweils für einige Monate um die Sonnenwenden herum ununterbrochen. Ohne das Meereis würde also erheblich mehr Wärmenergie in den arktischen Ozean eindringen.

Zieht es sich nun, wie in den letzten Jahrzehnten zu beobachten im Sommer immer früher und immer weiter zurück, wird das Meer stärker erwärmt und noch mehr Eis abgetaut. Außerdem bildet sich im Winter weniger Neueis, sodass die Eisdecke dünner und im nächsten Sommer noch anfälliger für Stürme und Sonnenschein wird, sich also noch früher und noch weiter zurückzieht.

Natürlich sind das vereinfachte Betrachtungen, die das Wesentliche verdeutlichen sollen. Wenn es um den Ablauf wechselwirkender Prozesse geht, spielen meist auch noch andere Faktoren rein. In den beiden genannten Beispielen sind es nicht zuletzt die Winde, also die Verteilung von Hoch- und Tiefdruckgebieten.

Und man sollte sich vor Augen halten, dass das Klimasystem aus zahlreichen derartiger Subsysteme zusammengesetzt ist, die sich gegenseitig beeinflussen. Um also abschätzen zu können, wo im Falle positiver Rückkoppelung die kritischen Kipppunkte liegen und wie sie sich vielleicht gegenseitig beeinflussen, muss man auch diese Faktoren in Simulationen einbeziehen.

Das Eis und der Golfstrom

Genau das haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung sowie der Universität von Stockholm, der Berliner Humboldt-Universität und der Labotschewski Universität von Nischni Nowgorod (Gorki) kürzlich gemacht. Vier Subsysteme haben sie dafür ausgewählt, von denen man seit Längerem weiß, dass sie Kipppunkte haben, deren Überschreiten weitreichende globalen Auswirkungen hätte.

Zum einen sind das die Eisschilde in der Westantarktis und auf Grönland, die den globalen Meeresspiegel um etliche Meter steigen lassen würden, sollten sie sich auflösen. Dann ist da der Golfstrom und das mit ihm verbundene Strömungssystem im Nordatlantik und schließlich der Regenwald im Amazonasbecken, der große Mengen Kohlenstoffs speichert, die andernfalls als Treibhausgas CO2 in der Atmosphäre landen würden. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden letzte Woche im Fachmagazin Earth Systems Dynamics der Europäischen Geowissenschaftlichen Union veröffentlicht.

Durchgeführt wurde die Untersuchung mit einer neuartigen Netzwerkanalyse, bei der zahlreiche Simulationen ausgeführt und deren Ergebnisse statistisch ausgewertet wurden. Die Frage war, wie die genannten Subsysteme auf unterschiedliche globaler Mitteltemperaturen reagieren und ab welchen Werten der erste Kipppunkt erreicht wird, also der erste Dominostein fällt der dann auch die anderen Subsysteme destabilisiert.

Eins kommt zum anderen

Herauskam, dass schon bei einer Erwärmung um zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau in einem Drittel der über eine Million durchgeführten Simulationen Kaskaden von Kipppunkt-Überschreitungen ausgelöst werden. Je stärker die Temperatur darüber hinaus steigt, desto wahrscheinlicher werden derlei Kaskaden.

Die vier untersuchten Rückkopplungssysteme, die wiederum miteinander in Wechselwirkung treten. Graphik: European Geoscience Union. Bild aus Wunderling, N., Donges, J. F., Kurths, J., and Winkelmann, R.: Interacting tipping elements increase risk of climate domino effects under global warming, Earth Syst. Dynam., 12, 601-619, 2021

Aussehen könnte es zum Beispiel so, dass als Erstes das grönländische Eis destabilisiert wird und im größeren Umfang unaufhaltbar zu schmelzen beginnt. Der Prozess würde viele Jahrhunderte dauern aber nicht einmal mit der Rückkehr der Treibhausgaskonzentration in der Luft zum vorindustriellen Niveau aufzuhalten sein.

Das Schmelzwasser ergießt sich in den Nordatlantik und verlangsamt dort die Meeresströmungen, zu denen der Golfstrom gehört. Diese werden unter anderem dadurch angetrieben, dass hoch im Norden das Wasser zu Meereis gefriert, wobei das Salz im Wasser bleibt und sich dort konzentriert. Da salziges Wasser schwerer ist, sinkt es schließlich ab. Genau dieser Prozess könnte durch den Eintrag größerer Mengen salzfreien Schmelzwassers von Grönland abgeschnitten oder zumindest abgeschwächt werden.

Schwächen sich aber die Strömungen im Nordatlantik ab, so Studien-Erstautor Nico Wunderling vom PIK, dann führt das zu einer Erwärmung im südlichen Ozean rund um die Antarktis, was wiederum einen Teil der dortigen Eisschilde destabilisieren würde.

Wir liefern eine Risikoanalyse, keine Vorhersage. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Wechselwirkungen zwischen den vier hier betrachteten Kippelementen diese langfristig vulnerabler machen können: Durch die Rückkopplungen werden tendenziell die kritischen Temperaturschwellen des westantarktischen Eisschildes, der Atlantikzirkulation und des Amazonasregenwaldes gesenkt, wohingegen die Temperaturschwelle für ein Kippen des grönländischen Eisschildes bei einer deutlichen Verlangsamung des Nordatlantikstroms auch angehoben werden kann. Alles in allem könnte dies bedeuten, dass wir weniger Zeit haben, um unseren Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern und Kipp-Prozesse noch zu verhindern.

Ricarda Winkelmann, Leiterin FutureLab "Earth Resilience in the Anthropocene", Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Ko-Autorin der Studie

Ansonsten hatten wir bereits von den Autobahnaktionstagen berichtet, an denen sich am vergangenen Wochenende Zehntausende Menschen in rund 70 Städten im ganzen Land beteiligten.

Passend dazu bestätigt eine repräsentative Umfrage, über die die Berliner Tageszeitung taz schreibt, dass 41 Prozent der Befragten gegen den Bau weiterer Autobahnen sind und 75 Prozent meinen, dass es bereits genug Straßen gibt.

93 Prozent wünschen sich von der nächsten Bundesregierung, dass sie den Schwerpunkt bei den Autobahnen auf die Instandhaltung statt auf den Neubau legt. Der Bundesverkehrswegeplan sieht hingegen bis 2030 den Bau von über 800 weiteren Kilometern Autobahn vor.

Rechtsaußen

Einige sehen das ziemlich anders: "Räder müssen Rollen" heißt es im Programm der rechtsextremen AfD. In der Bundespressekonferenz bestätigte AfD-Chef Chrupalla letzte Woche, dass die Anspielung auf eine Nazi-Kampagne von 1942 ist, in der es hieß: "Räder müssen Rollen für den Sieg", "kein Zufall ist".

Ob ihm das nun Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst einbringt? Aber wahrscheinlich ist der in Chrupallas Heimatland zu sehr mit der Beobachtung des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Landtagsabgeordneten beschäftigt, die sich antifaschistisch geäußert hatten.

Aber noch einmal zurück zum Thema Verkehr: Umstellung kostet Zeit, auch das sollte bedacht werden, wenn es um die Vermeidung von Emissionen geht. Selbst wenn heute bereits alle Neuwagen elektrisch angetrieben würden, würde es immer noch zehn bis 20 Jahre dauern, bis alle mit Verbrennungsmotoren angetriebenen Fahrzeuge von den Straßen verschwunden wären.

Daher ist die Förderung des Fahrradverkehrs zehnmal so wichtig wie die Einführung elektrischer Pkw, wenn es darum geht, Treibhausgasemissionen in den Städten zu vermeiden. Diese Einschätzung vertritt ein Beitrag im britischen Magazin The Conversation.

In Großbritannien sei annähernd die Hälfte des Emissionsrückgangs während der Pandemie auf den Verkehrssektor zurückzuführen. Mehr Wege würden seitdem zu Fuß zurückgelegt. Der Fahrradverkehr habe außerdem Wochentags um neun und an den Wochenenden um 58 Prozent gegenüber den Zahlen vor der Pandemie zugenommen.