Recherche schafft Relevanz

Medienkritik zum Corona-Journalismus (Teil 7)

Nach den Qualitätskriterien Richtigkeit, Vollständigkeit, Meinungsvielfalt, Repräsentativität und Objektivität geht es im vorletzten Teil der Serie um Relevanz und Recherche.

Relevanz

Die erste und alles entscheidende Frage in der Berichterstattung ist die nach der Relevanz. Das klingt so selbstverständlich, dass der Relevanzfrage nur sehr selten in der Medienkritik nachgegangen wird. Auch die Medienforschung hat erstaunlicherweise bis heute kein überzeugendes Verfahren der Relevanzmessung entwickelt. So legt das größte Projekt im deutschsprachigen Raum, das Schweizer Jahrbuch Qualität der Medien, dogmatisch fest:

Beitragsrelevanz ist gegeben, wenn über die wichtigen Gesellschaftsbereiche Politik, Wirtschaft und Kultur (inklusive Kunst, Medien, Religion, Wissenschaft) berichtet wird. Innerhalb dieser Hardnews-Kategorien wird Politik etwas höher gewichtet, weil die politische Öffentlichkeit die zentralen Forums-, Integrations- und Kontrollleistungen für die demokratische Selbststeuerung erbringt. Sport und Human Interest können ebenfalls relevant sein, insofern sie im Hinblick auf die Integrationsfunktion einen Beitrag leisten. Schwerpunktmäßig befassen sich diese Softnewskategorien aber mit für das demokratische Gemeinwesen weniger relevanten und partikulären Aspekten.

(fög: Jahrbuch 2019 Qualität der Medien, (Seite 172)

Entsprechend vergeben die Züricher Forscher um Prof. Mark Eisenegger (vgl. Teil 1 dieser Serie) schematisch für Berichte zur Politik 10 Punkte und für "Human Interest" nur 3 Punkte. Dieses Scoring soll letztlich "Aufschluss [geben] über das Verhältnis von Hardnews gegenüber Softnews sowie über das Gewicht von Beiträgen über institutionelle Vorgänge gegenüber Personenberichterstattung" (S. 25).

Neben der Themenkategorie wird noch eine sog. "Akteursrelevanz" für den Inhalt erfasst. Die höchste Relevanz wird dabei Beiträgen zugerechnet, die auf der "Makroebene" spielen, der Gesellschaft insgesamt. Volle Punktzahl erhalten hier Beiträge, die sich "auf die gesamte Bevölkerung oder ganze geografische Körperschaften" beziehen (z.B."die Schweiz'), auf Handlungssystem wie die Schweizer Wirtschaft oder auf "das Abstraktum aller in gleicher Weise Handelnder (z.B. 'alle Bahnfahrer' usw.), auf Merkmalsträger ('ältere Menschen', 'Männer' usw.) oder auf Funktionsträger in ihrer Gesamtheit ('Manager', 'Politiker' usw.)". Die wenigsten Relevanz-Punkte gibt es für "das Handeln von einzelnen Personen", die sog. Mikroebene.

Weiter unterschieden wird hierbei, ob die Personen "rollennah", anonym oder "rollenfern" thematisiert werden. Ein Politiker in seiner politischen Rolle bringt dem journalistischen Beitrag mehr Punkte als eine Homestory. Im Jahrbuch heißt es dazu (S. 172):

Während bei einer rollennahen Personalisierung eine vergleichsweise gute Qualität vorliegt, weil in dieser Akteursperspektive Personen als Repräsentanten übergeordneter Einheiten dargestellt werden, besitzen rollenferne Thematisierungen die geringste Qualität.

Entsprechend heißt es in der ersten Sonderauswertung zur Corona-Berichterstattung (siehe Teil 1):

Einzelschicksale und spezifische Fälle können helfen, Vorgänge zu erklären. Medien haben aber vor allem die Aufgabe, vom Einzelfall zu abstrahieren und möglichst frühzeitig, d.h. bevor hoheitliche Beschlüsse gefällt werden, für gesamtgesellschaftliche Aspekte wie die Folgen bestimmter Maßnahmen zu sensibilisieren.

Mark Eisenegger, Franziska Oehmer, Linards Udris, Daniel Vogler: Die Qualität der Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie, S. 3

Die Relevanzbewertung der Schweizer Forscher richtet sich also ganz nach der mutmaßlichen Orientierungsleistung der Berichterstattung, insbesondere nach ihrer Bedeutung für die Demokratie, ausgehend von der "Einsicht, dass die Qualität der Demokratie von der Qualität der Medien abhängt" (Jahrbuch 2019, S. 25).

Nachrichtenwert

Einer begründet der Orientierung und damit der Demokratie dienenden Nachrichtenauswahl und ‑präsentation steht ein anderes Relevanzverständnis der Medien teilweise entgegen, das mit der "Nachrichtenwerttheorie" beschrieben wird. Medienunternehmen selektieren aus offenen Fragen (s.u. "Recherche") und News-Angebot das, was ihnen besonders verwertbar erscheint. Aber wie bei allen Produkten ist Kundennachfrage keineswegs ein Qualitätsbeweis. Und die Mutmaßung über Kundeninteressen muss auch nicht der Wirklichkeit entsprechen.

Wenn alle Medien von einer "BILD-Kampagne gegen Drosten" berichten, geht es nicht um die Diskussion einer für alle Menschen wichtigen und damit relevanten Studie, sondern um eine gut verkäufliche Inszenierung, letztlich also um Unterhaltung des Publikums.

Jede Skandalisierung lebt von ihrem Nachrichtenwert; ob sie auch relevant ist, steht auf einem anderen Blatt. Deshalb skandalisieren Medien jede möglicherweise außerhalb der offiziellen Reihe erfolgte Impfung (z.B. Saalekreis, Trier, Erzgebirge, Halle, Minden-Lübbecke.

Es wird nicht als erstes in Ruhe recherchiert, ob es sich dabei überhaupt um eine Vorteilsnahme im Amt oder eine andere Rechtswidrigkeit handeln könnte: mit Neid lässt sich zuverlässig skandalisieren, und für einige Tage ist ein Berichterstattungsthema gesichert.

Skandalisierung

Ein aktuell immer noch allgegenwärtiges Beispiel für Skandalisierung statt Aufklärung ist der sog. "Masken-Skandal". Die Skandalisierung basiert auf der moralischen Behauptung, es sei unanständig, mit dem Leid von Menschen in der Corona-Krise Geld zu verdienen. Wenn es in einzelnen Fällen tatsächlich Bestechung und ähnliche Delikte gab, ist das selbstverständlich ein Thema.

Doch die Skandalisierung begann völlig unabhängig davon. Dabei ist die moralische Position, niemand dürfe Profit aus der Pandemie schlagen, wohl objektiv kaum haltbar, schließlich arbeiten praktisch alle "Helden" der Corona-Bekämpfung nur gegen Vergütung; sie leben davon, dass es Corona-Leid gibt, so wie der Bestatter vom Tod lebt, ohne dass dies irgendwie als anrüchig gilt.

Noch deutlicher ist die ausschließlich durch mediale Skandalisierung geschaffene Relevanz bei #allesdichtmachen. Um die filmischen Kommentare geht es nicht, das journalistische Interesse gilt dem Eklat. Stimme in den Medien bekommt, wer sich am lautesten und wortstärksten echauffiert. Ein Paradebeispiel dafür ist die mediale Verwertung beim Spiegel.

Schon im ersten Artikel wird die eigentliche Kunstaktion nur sehr kurz gestreift, dann folgen Applaus aus der falschen Ecke und jede Menge Gegenstimmen. Noch deutlicher ist das Skandal-Framing im zweiten Beitrag, Teaser:

Hans-Georg Maaßen ist begeistert, aus der AfD kommt Zustimmung - aber viele Prominente zeigen sich entsetzt über die Aktion #allesdichtmachen etlicher Künstler. Nora Tschirner und andere finden deutliche Worte.

"Echt ja, Leude? Unfuckingfassbar", Spiegel.de, 23.04.2021

Der Inhalt von 51 Videos wird so zusammengefasst:

Ulrich Tukur fordert die Schließung aller Lebensmittelgeschäfte, Meret Becker betet von einem überdimensionalen Zettel einen ironischen Text über Schutzmasken vor, Richy Müller atmet abwechselnd in zwei Tüten.

Die positiven Reaktionen werden so zusammengefasst:

Begeistert reagierte etwa der frühere Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen. Der CDU-Rechtsaußen bezeichnete die Aktion auf Twitter als "großartig". Der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit sprach von einem "Meisterwerk", das "uns sehr nachdenklich machen" sollte. Und die AfD-Bundestagsabgeordnete Joana Cotar twitterte, sie feiere Jan Josef Liefers für dessen Medienkritik: "Das ist intelligenter Protest."

Alles Weitere ist Kritik an der Aktion. Und dieser Kritik wird auch in den folgenden Beiträgen die mit Abstand größte Aufmerksamkeit geschenkt. (Zur medialen Debattenverkürzung an diesem Beispiel siehe den Podcast ?Macht:Los!)

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