Der Antisemitismusvorwurf in Aktion

Beim Staat Israel gilt ein Kritikverbot

Wer sich als Deutscher mit Bedenken zum Staat Israel und dessen politisch-militärischen Aktivitäten äußert, läuft rasend schnell Gefahr, als Antisemit abgestempelt zu werden. Denn immer wieder wird die Kritik an Israel mit einer rassistischen Kritik an Juden, mit Judenhass, gleichgesetzt.

Dann hören die Differenzierungen, die die Experten natürlich kennen, sofort auf. In der hiesigen Öffentlichkeit wird dann der Unterschied zwischen der generellen Verurteilung von Juden - gleich Antisemitismus - und einer kritischen Beurteilung israelischer Politik oder der Räson dieses Staates - gleich Antizionismus - zielstrebig zum Verschwinden gebracht. So gerade in den letzten Wochen, als der Konflikt im Nahen Osten eskalierte und auf Deutschlands Straßen Demonstrationen und Kundgebungen stattfanden.

Warum das so ist, sollte man einmal genauer prüfen, und zwar ohne die prinzipielle Parteilichkeit, die bei dem Thema hierzulande vorgeschrieben ist.

Der Ausgangspunkt: Protest gegen eine Kriegspartei

Nach der Provokation Israels in der Al-Aksa-Moschee, der Behinderung palästinensischer Muslime bei ihrer Teilnahme am dortigen Gebet und der Vertreibung von Palästinensern aus ihren Häusern in Ost-Jerusalem kam es zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas. Dies löste auch eine Reihe von Demonstrationen in Deutschland aus - u.a. mit Aufmärschen und Steinwürfen vor Synagogen, mit Reden gegen Juden und mit dem Verbrennen von Israel-Fahnen.

Dabei war aus der Presse wenig darüber zu erfahren, was Juden vorgeworfen wurde, man wurde vor allem über das Faktum von Hassreden informiert. Worauf sich gleich die Politiker zu Wort meldeten, so auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier:

"Judenhass - ganz gleich von wem, wollen und werden wir in unserem Land nicht dulden", sagte Steinmeier der Bild-Zeitung. Nichts rechtfertige die Bedrohung von Jüdinnen und Juden in Deutschland oder Angriffe auf Synagogen in deutschen Städten.

tagesschau.de, 23.5.2021

Unverkennbar war in der aktuellen Situation, dass sich der Protest gegen die Politik Israels im Nahen Osten richtete. Wer Steine auf eine Synagoge warf oder Kippaträger belästigte, gab dem natürlich eine besondere Wendung. Solche Demonstranten griffen Juden im Allgemeinen an, behandelten sie als Vertreter, ja als individuelle Verkörperungen des israelischen Staates.

Zweifellos eine verrückte nationalistische Logik! Denn wie jeder wissen müsste, der sich mit dem Konflikt befasst, sind nicht alle Juden Parteigänger der betreffenden staatlichen Linie, können also für die dortige Politik gar nicht haftbar gemacht werden. Und bekanntlich gibt es auch in Israel entschiedene Gegner des Kriegskurses.

Juden - wo auch immer auf dem Globus - als leibhaftige Vertreter Israels zu betrachten und Judentum mit der Parteilichkeit für diesen Staat gleichzusetzen, ist allerdings keine Erfindung einer blindwütigen Protestszene. Das beherrschen auch die Vertreter der hiesigen Politik, allen voran der Bundespräsident, der den Protest auf der Straße als Verbrechen identifizierte: "Unser Grundgesetz garantiert das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Wer aber auf unseren Straßen Fahnen mit dem Davidstern verbrennt und antisemitische Parolen brüllt, der missbraucht nicht nur die Demonstrationsfreiheit, sondern begeht Straftaten, die verfolgt werden müssen", erklärte er laut Tagesschau.1

Aufschlussreich, wie das deutsche Staatsoberhaupt keine Unterschiede mehr zwischen nationalen Symbolen und wirklichen Menschen kennen will! Volk und Führung sind ihm eins. Dabei ist das Verbrennen einer Nationalflagge eindeutig ein politisches Signal, das auch überall auf dem Globus so verstanden wird: Es wird das Symbol einer (verhassten) Herrschaft angegriffen - wobei es durchaus vorkommen kann, dass es das der eigenen ist.

So gab es in Deutschland nach der Wende eine "antideutsche Bewegung", die gegen die Nationalideologie und ihre Symbole Sturm lief. Interessant ist ja auch, dass das Strafgesetzbuch nicht alle Flaggen-Verbrennungen in gleicher Weise als Straftat bewertet. Hier hat der Gesetzgeber schon zwischen Freund und Feind unterschieden.

Der Bundespräsident wollte aber im vorliegenden Fall gerade nicht differenzieren. Flaggenverbrennungen und antisemitische Parolen waren im gleich: als Straftaten nämlich. So folgte aus der Entdeckung des Antisemitismus auch nicht einfach die Aufforderung, sich mit der rassistischen Vorstellungswelt von Judenfeinden auseinanderzusetzen, sondern der Aufruf zur Solidarität - mit Israel!

Vertreter der verschieden Parteien versammelten sich bei einer Gegenveranstaltung zu den Protesten auf einer Solidaritätskundgebung für Israel: "Vertreter von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat waren da, Olaf Scholz, Christian Lindner, Christine Lambrecht und Anton Hofreiter, Dietmar Bartsch und Reiner Hoffmann, der Chef des DGB. Cem Özdemir hielt eine exzellente, kurze Rede."2

Wie die besagten Demonstranten, die Menschen nur als lebendes Nationalfähnchen ihres (wirklichen oder ideellen) Heimatstalls kennen, wollten auch die Vertreter aus Politik und Gewerkschaft keine Differenzierung zwischen Solidarität mit Israel und Solidarität mit Juden vornehmen. Denn wäre es deutschen Politikern mit ihrer Brandmarkung des Antisemitismus ernst gewesen, hätten sie nicht als Reaktion auf den kritisierten Judenhass zu einer staatlichen Solidaritätskundgebung aufgerufen. Wäre es ihnen um den Schutz von Juden gegangen, hätten sie zu einer Solidaritätsaktion für diese aufrufen können.

Oder zu einer antirassistischen Aktion! Da gäbe es nämlich in puncto Antisemitismus einiges zu tun - nicht nur am rechten Rand der bundesdeutschen Gesellschaft, wo die Judenfeinschaft ihre Heimat hat und zudem die meisten antisemitischen Straftaten ausgebrütet werden. Sondern auch in akademischen Kreisen, wo etwa das geistesgeschichtliche Erbe des Abendlands mit seinem judenfeindlichen Traditionsbestand (siehe Spengler, siehe Heidegger) voller Nachsicht aufbewahrt wird, während man beim Antizionismus keine Gnade kennt (siehe: Neues von der deutschen "Universitätshure").

Die führenden Vertreter der politischen Parteien und Vertreter der Gewerkschaften blieben bei ihrer Veranstaltung weitgehend unter sich, sie gingen aber selbstverständlich davon aus, dass es die Pflicht eines anständigen Deutschen sei, an solchen Aktionen teilzunehmen.

Das Bekenntnis zu den Verbrechen an den Juden und die Parteinahme für Israel gehören nämlich seit Bestehen der Bundesrepublik zur hiesigen Staatsdoktrin, die Sicherheit Israels gilt als "Teil der Staatsräson meines Landes" (Merkel). Demzufolge ist Solidarität mit Israel Pflicht eines jeden Deutschen, auch wenn viele Bürger dies anders sehen und sich im Rahmen der - natürlich weiter garantierten - Meinungsfreiheit ihr eigenes Urteil bilden dürfen.

Das deutsche Nationaldogma steht also fest. Doch auch hier sollte man sich nicht davon abhalten lassen, die Beschwörung der Verantwortung für Juden und den Staat Israel einmal genauer zu prüfen.

Wir Deutschen…

Die Beschwörung der besonderen Verantwortung der Deutschen gehört bei verschiedenen Anlässen zum politischen Ritual. Dann wird die Güte der Nation aufgerufen, die "dem Bösen" eine grundsätzliche Absage erteilt (siehe "Kulturkampf von rechts"). Programmatisch vorgetragen wurde der Verantwortungsgedanke vom Bundespräsidenten anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung:

Ich wünschte, ich könnte heute sagen, dass wir Deutschen ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt haben… Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten… Unsere deutsche Verantwortung vergeht nicht. Ihr wollen wir gerecht werden.

Wenn der Bundespräsident von "wir" spricht, dann redet er nicht im Pluralis Majestatis, also von sich in der Mehrzahl, sondern bezieht von vornherein alle Deutschen mit ein - ob sie wollen oder nicht. Als Deutsche sollen sie Verantwortung tragen für das, was der Vorgängerstaat der Bundesrepublik Juden angetan hat. Dabei haben sich die meisten Deutschen ihr Deutschsein gar nicht ausgesucht. Sie sind in Deutschland von deutschen Eltern geboren worden, die nach der Geburt ihr Kind pflichtgemäß den Behörden meldeten.

So wurden sie, bevor sie auch nur einen Gedanken fassen konnten, vom deutschen Staat als Untertanen verbucht. Nur wenige haben selber entschieden, Deutsche zu sein. Sie stellten einen Antrag auf Einbürgerung, was ihnen übrigens in der Regel nicht besonders hoch angerechnet wird. Man begegnet ihnen eher mit Misstrauen, sind sie doch Bürger mit Migrationshintergrund, also irgendein nationaler Sonderfall.

Unterm Verantwortungsgedanken werden sie aber - hier geht die Integration ruckzuck - selbstverständlich eingemeindet. Als Deutsche sollen sich alle Bürger zu Taten bekennen, an denen sie nicht beteiligt waren und die zu einer Zeit stattfanden, als sie noch gar nicht auf der Welt waren. Man muss sich eben für die Taten (und Untaten) der Nation verantwortliche fühlen.

Aber nicht nur das! Selbst die späteren Ereignisse - dass es zu einer israelischen Staatsgründung in Palästina kam, dass dies zu kriegerischen Auseinandersetzung mit den Anrainern führte etc. - sollen jedem Deutschen Auftrag und Verpflichtung sein. Das ist schon ein bemerkenswertes Haftungsverfahren, das hier mit der deutschen Verantwortung für Juden und den Staat Israel praktiziert wird!

...tragen geschichtliche Verantwortung für…

Nicht nur die Art und Weise der Vereinnahmung, auch der Inhalt der Verantwortung, die eingeklagt wird, kann einem zu denken geben. Was soll ihr Inhalt sein? Wiedergutmachung? Nach 1945 hätte man den überlebenden Juden ein angenehmes Leben bereiten können, das wäre eine praktische Aufgabe gewesen.

Die Wiedergutmachung unter Adenauer ging aber bekanntlich ganz andere Wege: Sie war eine Affäre von Staat zu Staat, mit eigenen Kalkulationen. Holocaust-Gedenken war in der unmittelbaren Nachkriegszeit jedenfalls nicht angesagt; es ging um politisch-diplomatische Maßnahmen zum staatlichen (Wieder-)Aufstieg.

Gefordert ist auch heute kein praktisches Anliegen, sondern eine Haltung. Deutsche sollen sich ganz grundsätzlich positiv gegenüber Juden oder Israel stellen, ganz unabhängig davon, ob sie einen Juden oder eine Jüdin kennen, was diese tun und denken oder was Israel politisch unternimmt. Judenfreundschaft statt -feindschaft ist aber kein vernünftiges Programm.

Normalerweise entscheidet sich das Verhältnis zu einem anderen Menschen doch gerade an der Besonderheit der Person, also daran, was der oder die Betreffende im Blick auf Überzeugungen, Neigungen oder Interessen vorzuweisen hat. Die Frage danach soll hier aber keine Rolle spielen.

Hinzu kommt, dass der Schutz von Juden gleichgesetzt wird mit dem Schutz oder der Parteinahme für Israel, ganz so, als ob dies dasselbe wäre: "Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels!" Das verkündet der höchste Vertreter der deutschen Nation, erklärt damit Anti-Antisemitismus und Parteinahme für Israel als identisch und gleichzeitig zum Bestandteil des deutschen Nationalismus. Auf diese Art und Weise tritt die deutsche Politik für das Existenzrecht Israels ein.

...das Existenzrecht des Staates Israel

Rechte werden bekanntlich von Staaten oder übergeordneten Mächten verliehen. Das Recht für die Schaffung des Staates Israels nahmen sich die Zionisten zunächst selber; sie erwarben Land und vertrieben die Palästinenser aus ihren angestammten Gebieten. Dass dies die Reaktion auf die massenhafte Vernichtung der Juden durch die Nazis gewesen sei, ist eine Legende, ein nationales "Narrativ", dem schon die Chronologie widerspricht: Der Zionismus hat seine staatsgründerischen Aktivitäten früher begonnen und die Landnahme bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in die Wege geleitet.

Dabei erhielten die zionistischen Staatsgründer natürlich gewaltige Unterstützung von Staaten, die nach 1945 einiges zu bieten und zu sagen hatten - sonst wären sie (wie etwa die Palästinenser heute) auf dem Status einer nationalen Befreiungsbewegung verblieben, die mit Anklagen und Terrorakten auf sich aufmerksam macht.

Dank der prominenten Unterstützer waren sie bereits bei der Gründung des Staates Israel 1948 in der Lage, einen Krieg mit mehreren arabischen Staaten, die das neue Staatsgebilde nicht dulden wollten, erfolgreich zu führen.

Von palästinensischer Seite wird das als nationales Unrecht, als "Nakba", beklagt. Doch den heutigen Bewohnern Israels die Terrortaten ihrer Gründungsväter und -mütter zur Last zu legen, ist ebenfalls abwegig. Zudem könnte man einmal grundsätzlich fragen: Wie sollte denn ein Staat anders zustande kommen? Noch jede nennenswerte Staatsgründung ist Resultat eines landesweiten Gewaltaktes - sei es als Aufstand und Bürgerkrieg wie in Frankreich, USA, Russland oder China, sei es als Putsch wie in Ägypten, Myanmar oder Mali, sei es als Ergebnis eines verlorenen Krieges wie in Deutschland.

Die jetzigen Bewohner Israels sind genauso wenig für die Vertreibung und Terrorisierung der Palästinenser in der Vergangenheit verantwortlich zu machen wie die Nachfahren Nazideutschlands. Es macht jedoch einen Unterschied, ob man die Existenz des Staates Israels zur Kenntnis nimmt und damit die Tatsache, dass jetzt Israelis in Palästina leben, oder ob man, im Stil der Bundesregierung, kategorisch für das Existenzrecht Israels votiert.

Wer eine erneute Vertreibung in Palästina verhindern will, muss sich um die Opfer der früheren Vertreibung kümmern, wenn ein friedliches Zusammenleben von Juden und Nichtjuden dort stattfinden soll. Dem steht jedoch der Staat Israel entgegen.