Nato, Russland, China: Die wilden Zwanziger der Aufrüstung

Der UN-Atomwaffenverbotsvertrag interessiert Nato, Russland und China nicht: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin beim Besuch der Atomstreitkräfte am 2. Mai in Nebraska. Foto: Brittany A. Chase / CC-BY-2.0

Angesichts des Gipfeltreffens von Putin und Biden lohnt ein Blick auf das geopolitische Spiel der Akteure im Hintergrund, in dem es nur scheinbar um Menschenrechte und Demokratie geht

In Verlautbarungen nach Gipfeln der westlichen Staatschefs unter sich - sei es im Rahmen der G7 oder der Nato - ist stets von einer "Eindämmung" Russlands und Chinas die Rede, vom "in Schach halten" einer Bedrohung. Ein neues strategisches Konzept der Nato müsse deshalb entworfen werden, von einer Steigerung der Rüstungsausgaben ist fortgesetzt die Rede. Diese Sicht auf die Geopolitik, die in einigen deutschen Medien als allumfassende Wahrheit verkauft wird, ist eine sehr subjektive westliche Perspektive - und eigentlich wissen sogar die betroffenen Politiker es besser.

Sogar bei der recht transatlantisch orientierten Sicherheitskonferenz in München Anfang 2020 war die Rede davon, dass die Welt objektiv gesehen einfach immer weniger westlich wird. Aufstrebende Mächte wie China oder auch Indien spielen eine größere Rolle - hinzukam damals das innerwestliche Zerwürfnis der Ära Trump. Nicht etwa eine Aggressivität anderer Staaten ist ursächlich für den Bedeutungsverlust des Westens, sondern dessen reduzierte Rolle in der Weltwirtschaft, die sich nun mit Verzögerung und Widerstand auch geo- und sicherheitspolitisch zeigt.

Der Westen will das Rad zurückdrehen

Nach dem Regierungsantritt von Joseph Biden in den USA haben sich die transatlantischen Partner aufgemacht, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Nach eigener Überzeugung ist eine Dominanz der westlichen "Wertegemeinschaft" das Beste für die Welt. Außerhalb von ihr ist man davon nicht überzeugt, vor allem in den Staaten, die zum neuen Feindbild dieser Gemeinschaft gehören.

Der russische Geopolitik-Analyst Andrej Kortunow vom dortigen Rat für Internationale Beziehungen spricht in der Zeitung Wegljad von einer Weigerung der westlichen Führer, die Realitäten der modernen Welt anzuerkennen. Kortunow gehört dabei nicht zu den antiamerikanischen Hardlinern in Moskau. Er sieht etwa in der EU laut einem Interview mit dem Freitag durchaus einflussreiche Gruppen, die eine Normalisierung der besonders angespannten Beziehungen zwischen Russland und den USA wünschen. Das Verhältnis muss seiner Meinung nach auf eine neue Grundlage gestellt werden.

Auf dieser neuen Grundlage sehen nicht nur russische Fachleute angesichts des schlechten Verhältnisses zur Nato keine Wiederherstellung einer globalen westlichen Hegemonie. Vielmehr werden Alternativen zur westlichen Weltsicht, die die dortige Führung als selbstverständlich ansieht, aktiv weiterentwickelt.

Etwa in einem Sonderprojekt von Kortunows Rat und der Moskauer Higher School of Economics. Eine ganze Gruppe namhafter Wissenschaftler erforscht hier aktiv nichtwestliche Theorien der internationalen Beziehungen, die die Dominanz der klassischen Grundlagen, meist aus dem Westen stammend, ablösen sollen. Die westlichen Sichtweisen sollen einer kritischen Reflexion unterzogen werden - in der Theorie wie in der praktischen Politik entwickelt sich das Zentrum der Interessen und Einflüsse vom Westen weg.

Einigkeit und Zwietracht

Um gegen diesen Lauf der Welt seine Dominanz zu erhalten, gilt es für den Westen - neben hochgerüsteter Stärke - die eigene Einigkeit zu demonstrieren und in den Reihen der wichtigsten Gegner Zwietracht zu säen. Beides klappt jedoch trotz vieler großer Worte in gemeinsamen Erklärungen nicht. Aus dem Verband des Westens schert beispielsweise immer wieder die Türkei aus, die im Bezug auf eine Hegemonie im Nahen Osten ganz eigene Ziele hat, die mit Nato-Strategien nichts zu tun haben. Selbst dem zahmen Deutschland ist die eigene Liefersicherheit von günstigem Erdgas wichtiger als der Ärger der USA über das oft diskutierte Pipeline-Projekt Nordstream 2.

Auch bei der gemeinsamen Klammer "Wertegemeinschaft" ist deren Interpretation sehr unterschiedlich, wenn man etwa die Innenpolitik in Ungarn oder Polen anschaut. Von Verbündeten des Westens wie Saudi-Arabien ganz zu schweigen. Fast ein Glück ist es da für die Nato und G7, dass es bei den Hauptrivalen Russland und China wirklich große Demokratiedefizite gibt, die man im geopolitischen Spiel einfach nur wesentlich stärker betonen muss als die Defizite der eigenen Verbündeten, um den Status eines Gut-Böse-Spiels zu erhalten. Den Demokratiebewegungen vor Ort tut man damit keinen Gefallen, aber dazu später.

Die Spaltung der wichtigsten Gegner, die jetzt mit China und Russland klar definiert sind, ist als Projekt jedoch gescheitert. Donald Trump versuchte hier zaghaft, Moskau auf seine Seite zu ziehen, um sich dem chinesischen "Hauptgegner" zu widmen. Dennoch war am Ende seiner Amtszeit das chinesisch-russische Verhältnis wesentlich besser als das beider Staaten zu den USA. Weitere Versuche in dieser Richtung hält der russische Experte Fjodor Lukjanow im russischen Fernsehen für aussichtslos, das sei nur "Trump goldener Traum" gewesen. Biden hat das Projekt aufgegeben und setzt an seine Stelle das der zwei Gegner, die dem gefühlt moralisch überlegenen Westen entgegenstehen. Das birgt die Gefahr eines auch militärischen Bündnisses zwischen Russland und China, die schon auf vielen anderen Feldern durch westlichen Druck trotz nicht identischer Interessen zusammenrücken.

Wozu die Konfrontation führt

Das Konzept der stärkeren Konfrontation zwischen dem Westen auf der einen und China und Russland auf der anderen Seite führt zu einem neuen Wettrüsten, das längst begonnen hat. Dessen ist man sich auch in Russland bewusst - dortige Fachleute bezeichnen das neue Jahrzehnt bereits als die "Wilden Zwanziger", eine Zeit zunehmender Instabilität.

Die aktuell zunehmend restriktive russische Innenpolitik unter Wladimir Putin speist sich unter anderem aus dem Gefühl einer "belagerten Festung", das Russlands Mächtige in Folge des westlichen Verhaltens empfinden, wo man bei jeder oppositionellen Meinung Verrat und fremde Einflussnahme wittert und dadurch einen notwendigen gesellschaftlichen Wandel verschläft. Auch aggressive Aktionen der russischen Außenpolitik, wie die Unterstützung der Donbass-Rebellen oder die - nach westlicher Lesart - Annexion der Krim sind aus russischer Sicht Reaktionen auf die Aggression der Gegenseite. Ob diese Sicht berechtigt ist oder nicht, spielt für Russlands praktischen Anteil an der Eskalation keine Rolle.

So führt der westliche Konfrontationskurs, der sich ja eigentlich die Verbreitung der Menschenrechte und Demokratie auf die Fahnen geschrieben hat, durch geopolitische Mechanismen eher zu mehr Unfreiheit und Druck dort, wo man den Gegner jetzt endgültig ausgemacht hat. Der Weg zu einer wirklich freieren Welt führt nicht über eine Politik zur Erhaltung von Machtdominanz, sondern eher über die Akzeptanz der Tatsache, dass die Welt nicht nach einer Regierung durch die Nato und G7 ruft - auch außerhalb von Russland und China.