Optimieren wir die Wahlen!

Wieso nicht einen Teil der Abgeordneten gleich Schöffen aus der Bevölkerung bestimmen? Ein Gedankenspiel gegen die Demokratiemüdigkeit

Wahlen in einer repräsentativen Demokratie sind eine sehr schwierige Optimierungsaufgabe - sowohl für den Einzelnen wie auch für die demokratische Gesellschaft insgesamt. Die Gemeinschaft steht daher vor der Herausforderung, das Wahlverfahren so zu gestalten, dass die Bedürfnisse und Anliegen aller Bürger optimal repräsentiert sind.

Es sollte also

  • über lange Zeiträume, auch unter veränderten Bedingungen, noch gute - also näherungsweise optimale - Lösungen liefern können;
  • den Lösungsraum nicht unnötig einschränken.

Der Einzelne ist gefordert, die individuellen Bedürfnisse und Anliegen repräsentieren zu lassen – wodurch in Summe erst ein optimales Abbild der Bedürfnisse und Anliegen der Gemeinschaft insgesamt entstehen kann.

Komplexe, analytisch nicht lösbare Optimierungsprobleme sind wiederum ein wichtiges Anwendungsgebiet der Informatik.1 Es ist also nur konsequent, mit deren Mitteln nach Lösungsansätzen zu suchen.

Vertrauen in die Wahlen stärken

Solides und robustes System-Design beginnt nach meiner Erfahrung mit der Betrachtung der Border- und Worst Cases, also der Extremfälle. Dies beugt katastrophalem Systemversagen durch Zufall oder Böswilligkeit vor, vermeidet frustrierende User Experience (Nutzererfahrung, UX) und steckt den Denkrahmen ab, in dem brauchbare Lösungen gefunden werden können.

Der Worst Case der repräsentativen Demokratie tritt ein, wenn eine Wählerin oder ein Wähler nach Lektüre des Stimmzettels zu dem Schluss kommt: "Ich traue niemandem auf dem Wahlzettel zu, mich zu repräsentieren!"

Das ist zumindest schon mal ganz schlechte UX: Der User steckt ausweglos in einer Sackgasse der Implementierung fest - aus der lustvollen Qual der Wahl wird eine frustrierende Wahl der Qual. Schlechte UX führt zu Frustration, Akzeptanzproblemen und vor allem zu erratischen Verzweiflungstaten der User.

Systemseitig gibt es auch keine Vorkehrungen eine gewisse Mindestqualität der Lösungsvorschläge im Sinne der Repräsentativität zu garantieren.

Das könnte dem Wähler den verzweifelten Ausruf entlocken "Lieber die nächstbeste ehrliche Haut, die um die Ecke kommt …" Zufall ist bei der Generierung von Lösungsvorschlägen und Lösungsvarianten für komplexe Optimierungsprobleme ein bewährtes Instrument. Tatsächlich steckt in diesem Verzweiflungsruf die Lösung:

Die Idee: Jeder Wahlzettel führt an erster Position den offenen Eintrag "Zufallsrepräsentant" an.

Bei einer Verhältniswahl werden die auf diese Position entfallenden Sitze ausgelost unter allen Personen, die zwei Kriterien erfüllen:

  • Sie sind wahlberechtigt, also im Besitz des aktiven Wahlrechts - dies stellt einerseits die Repräsentation der Wahlberechtigten sicher und fordert dem Wähler eine gewisse Ernsthaftigkeit ab, da es ihn selbst treffen könnte;
  • Sie sind wählbar, also im Besitz des passiven Wahlrechts - dies soll die Amtstauglichkeit gewährleisten. Sofern mit dem Grundgesetz vereinbar, scheint eine schärfere Fassung der Ausschlussgründe geboten, da es keine Filterung durch Gremien bei der Kandidatenaufstellung gibt. Hier sind dieselben Anforderungen wie beim Schöffenamt, §§32-35 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz) angemessen.

Die Parallelität zu den Schöffen am Gericht geht noch weiter. Die Schöffen gelten als sichtbarer Ausdruck der Volkssouveränität und sollen zu einer Qualitätssicherung der Rechtsprechung beitragen sowie ein Instrument zur Rechtserziehung des Volkes darstellen. Die Beteiligung von Schöffen sei ein wichtiges Element des demokratischen Rechtsstaates, da sie ein Bindeglied zwischen Staat und Bürger schaffen können."

Zwei klassische Optimierungsalgorithmen

Bei ausgelosten Zufallsrepräsentanten gelten exakt dieselben Vorteile und Gründe in der Legislative. Bezeichnen wir sie also als "Schöffenabgeordnete".

Die Gesamtheit dieser "Schöffenabgeordneten" erhält automatisch den Status einer Fraktion mit allen zugehörigen Arbeitsmitteln und der Repräsentation in Ausschüssen, damit sie politisch wirksam sein kann.2

Handelt es sich um eine Personenwahl, so wird - wenn die virtuelle Person des Zufallsrepräsentanten die Mehrheit gewinnt - das Amt von einem "Schöffenabgeordneten" besetzt.

Das Schöffenabgeordneten-Verfahren implementiert gleich zwei klassische Optimierungsalgorithmen: Zum einen den "Great Deluge"- oder Sintflut-Algorithmus.

Es wird statistisch ein Mindestqualitätsniveau von Amts- oder Sitze-Inhabern auf dem Niveau der Durchschnittsbevölkerung garantiert - also ein Wasserspiegel im Lösungsraum eingezogen.

Im Idealfall steigt dieser Wasserspiegel im Laufe der Zeit durch politische Bildung aber auch durch das Verfahren selbst. Der Optimierungsalgorithmus verhindert jedenfalls, dass die Lösungen nach unten "entarten", da sie durch den Wasserspiegel begrenzt werden.

Dadurch wird gleichzeitig das demokratische System robuster gegen Manipulationsversuche, etwa durch eine Oligarchie. Die Wählerschaft hat immer die Möglichkeit auf die Default-Lösung einer reinen Schöffen-Repräsentanz zurückzufallen und einen Neuaufbau zu initiieren - unter Security-Aspekten eine wertvolle Härtungsmaßnahme …

Zum anderen werden auch die positiven Effekte evolutionärer Algorithmen integriert: Schöffenabgeordnete, die sich in ihrem Amt bewährt haben, können natürlich bei der nächsten Wahl als Kandidaten antreten, gemeinsam mit Gleichgesinnten neue Parteien gründen, etc. Die Menge der Lösungsvorschläge wird als evolutiv durch praktisch bewährte Lösungen ergänzt.

Ziel: weniger Protestwahl, höhere Beteiligung

Darüber würde das Verfahren folgende Vorteile bieten:

  • Das Protestwahl-Risiko wird reduziert: Statt Protest durch die Wahl radikaler Parteien auszudrücken, kann gefahrlos der Zufallsrepräsentant gewählt werden.
  • Die Wahlbeteiligung könnte gesteigert werden, weil bei diesem Verfahren nicht nur jede Stimme zählt, sondern auch eine Entscheidung über die wahrgenommene Kandidatenqualität ist - also eine "Fitness Function" für den Optimierungsalgorithmus. Dies sollte wiederum die Parteien motivieren, bessere Kandidaten auszuwählen.
  • Die derzeitigen Parlamente sind hochgradig nicht-repräsentativ. Das Verfahren bietet eine statistisch faire repräsentative Partizipationsmöglichkeit für alle und alles, ohne Quotierung (die nur diejenigen benachteiligen, die für sich keine Quote durchsetzen können). Pflegekräfte⚥, Busfahrer⚥, Kindergartenerzieher⚥ wären sicherlich eine Bereicherung für die Parlamente - sowohl hinsichtlich der Wahrnehmung von Lebenswirklichkeiten als auch hinsichtlich der diesen Berufsbildern immanent innewohnenden Übernahme persönlicher Verantwortung.
  • Es sorgt für eine Durchmischung - ein Teil der Bevölkerung wird das System aus der Sicht von Amtsträgern oder Abgeordneten kennenlernen, umgekehrt werden Amtsträger und Abgeordneten durch die "Schöffenabgeordneten" in intensiveren Kontakt mit deren Alltagsrealität kommen. Die Hoffnung wäre, dass auf allen Seiten mehr wechselseitiges Verständnis wächst.
  • Die Beeinflussung von Schöffenabgeordneten ist für Lobbyisten ein unkalkulierbares Risiko.
  • Bei knappen Mehrheitsverhältnissen müssen Schöffenabgeordnete überzeugt - also argumentativ gewonnen - werden. Damit wird die überzeugende argumentative Rede und der parlamentarische Diskurs wiederbelebt.

Um Erfahrungen zu sammeln, kann das Verfahren in gesetzlich nicht geregelten Bereichen – Klassensprecherwahlen, Wahlen in Vereinen, etc. – unmittelbar ausprobiert werden.

Im Politischen bieten sich als erste Ausbaustufe Kommunalwahlen an. Beim Ausbleiben negativer Konsequenzen folgen Landtags- und schließlich Bundestags- sowie Europawahlen.