Redispatch 2.0

Will man ein komplexes System durch erhöhte Komplexität optimieren? Ähnelt die deutsche Energiewende zusehends einer OP am offenen Herzen ohne Betäubung?

Die Welt der leitungsgebundenen Energieversorgung befindet sich seit geraumer Zeit im Umbruch. Aus einem System mit wenigen Großkraftwerken und vielen gleichförmig abnehmenden Stromkunden, wird ein Netz mit zahllosen Einspeisern zumeist auf der Verteilnetzebene und Abnahmesituationen, die nicht mehr dem Standardlastprofil entsprechen.

Die gewünschten schnellen Ladungen von E-Mobilen sind an dieser Entwicklung nicht ganz unbeteiligt. Wer sich jetzt nach einer Rückkehr der Atomkraftwerke sehnt, sollte berücksichtigen, dass die Atomwirtschaft von Anfang an nur mit Subventionen des Steuerzahlers realisierbar war. Selbst das Unfallrisiko war nur zu einem vergleichbar geringen Teil über die gewerbliche Versicherungswirtschaft sowie einen Haftungspool der Betreiber abgesichert. Größere Schäden sind vom deutschen Steuerzahler zu tragen, ebenso wie Schäden, die von AKW-Anlagen im Ausland herrühren. Das Risiko trägt immer das Land, in welchem sich der Schaden auswirkt.

Wer ganz einfach mehr Speicher fordert, sollte sich die Geschichte des Netzboosters der TransnetBW in Kupferzell anschauen oder die des über lange Zeit geplanten Pumpspeicherwerks Atdorf im Hotzenwald oder das gescheiterte Werk Johanneszeche in der Gemeinde Lam im Bayerischen Wald.

Dass die Energiewende kaum kompatibel zum Jahre zuvor etablierten Unbundling (Trennung zwischen Netzbetrieb und Stromhandel) ist, wird zwar nicht mehr grundsätzlich bezweifelt, aber die Entwicklung des Stromhandels hat inzwischen eine solch große Bedeutung und damit Macht erlangt, dass Zweifel an einer Zukunftsfähigkeit des Unbundlings konsequent vom Tisch gewischt werden.

"Redispatch" und Einspeisemanagement

So beschreibt die Bundesnetzagentur den Redispatch-Vorgang:

Unter Redispatch versteht man Eingriffe in die Erzeugungsleistung von Kraftwerken, um Leitungsabschnitte vor einer Überlastung zu schützen. Droht an einer bestimmten Stelle im Netz ein Engpass, werden Kraftwerke diesseits des Engpasses angewiesen, ihre Einspeisung zu drosseln, während Anlagen jenseits des Engpasses ihre Einspeiseleistung erhöhen müssen. Auf diese Weise wird ein Lastfluss erzeugt, der dem Engpass entgegenwirkt.

Bundesnetzagentur

Die gesetzliche Grundlage für Redispatch 2.0, das alle Erneuerbaren ab einer Kraftwerksleistung von 100 kW betrifft, findet sich im Netzausbaubeschleunigungsgesetz Übertragungsnetz (NABEG). Die Idee, die Redispatch 2.0 zugrunde liegt, klingt erst einmal ganz vernünftig. Ab dem 1. Oktober 2021 wird das Einspeisemanagement, das bisher die Reduzierung von EE(Erneuerbare Energie)- und KWK(Kraftwärmekopplung)-Strom eigenständig regelt, in das neue System des Redispatch 2.0 integriert.

Damit wird die Anpassung von konventioneller Erzeugung und der EE- und KWK-Stromerzeugung in einem System zusammengefasst. Ziel ist es, auf der Basis der von den Anlagenbetreibern bereitgestellten Daten eine netzübergreifend optimierte Auswahlentscheidung zu treffen. Kriterien sind die Wirksamkeit der Anlagen zur Engpassentlastung und die Kosten, die dabei zulasten der Stromkunden anfallen.

Damit EE- und KWK-Strom-Kapazitäten je nach ihrer Wirksamkeit berücksichtigt werden können und ihr Einspeisevorrang grundsätzlich gewahrt bleibt, möchte man sogenannte Mindestfaktoren vorgeben. Die von der Bundesnetzagentur (BNetzA) festgelegten Mindestfaktoren bestimmen, um wie viel besser die Abregelung von vorrangberechtigtem EE- und KWK-Strom gegenüber der Abregelung von konventioneller Erzeugung in der Regel wirken muss, um in die Fahrweise dieser vorrangberechtigten Erzeugung aus EE und KWK eingreifen zu dürfen.

So wird im Redispatch 2.0 der Einspeisevorrang von EE und KWK sichergestellt. Wenn eine Abregelung von konventioneller Erzeugung zur Entlastung eines Engpasses geeignet ist, dürfen die Netzbetreiber eine Abregelung von EE- oder KWK-Strom nur in solchen Situationen vornehmen, wenn diese um ein Vielfaches wirksamer ist. Dieses "Vielfache" wird durch den erwähnten Mindestfaktor vorgegeben.

Das Redispatch 2.0 betrifft in erster Linie EE- und KWK-Anlagen ab einer Leistung von 100 kW, was in etwa der Motorenleistung eines Minis der aktuellen Generation entspricht. Jedoch können auch Anlagen mit weniger als 100 kW Leistung, die jederzeit durch den Verteilnetzbetreiber fernsteuerbar sind, in den Redispatch 2.0 einbezogen werden. Die im Netzbetrieb einzuführenden Änderungen erfolgen bei laufendem Betrieb und dabei kann das Risiko, dass es zu Fehlentscheidungen kommt, nicht vollständig ausgeschlossen werden.

Für kleinere Einspeiser, die etwa eine Wasserkraftanlage nebenberuflich betreiben, stellen die teilweise sehr kurzfristig, innerhalb weniger Tage etablierten Maßnahmen und die daraus folgenden Verpflichtungen zur Lieferung von Daten wie auch die kurzfristigen Prognosen der Erzeugung ihrer Anlage eine kaum zu bewältigende beachtliche Herausforderung dar.

Größere Unternehmen, die in der Lage sind, kurzfristig eigenes Personal für diese Aufgaben abzustellen, sind hier deutlich im Vorteil. Für die kleinen bleibt praktisch nur die Option, einen einschlägigen Dienstleister zu beauftragen und damit auf einen Teil des Erlöses zu verzichten. Hilfestellung bekommen sie bislang auch von ihren eigenen Verbänden meist nur sehr schleppend.

Zellulare Netze auf der Verteilnetzebene werden derzeit weitgehend ausgeblendet

Die dem bundesweiten Stromhandel über die Börse zugrundeliegende Fiktion, dass Deutschland technisch einer Kupferplatte entspreche und bei Stromlieferungen überall die gleichen Bedingungen ohne mögliche Netzverluste herrschen, ist so etwas wie das "goldene Kalb" der Energiepolitik, das man öffentlich nicht infrage stellen darf.

Im Stromhandel lässt sich mehr als ausreichend Geld verdienen und daher werden die Annahmen, die den Handel ermöglichen, keinesfalls außer Kraft gesetzt. Mit dem Redispatch 2.0 versucht man jetzt mit zusätzlicher Komplexität die bestehende Komplexität der leitungsgebundenen Energieversorgung in den Griff zu bekommen.

Es ist jedoch damit zu rechnen, dass Gerichte in diese Prozesse eingreifen werden, was dann die Komplexität weiter steigern dürfte. Ein Blick zurück auf die Anfänge der Stromversorgung, die sich damals aus lauter kleinen überschaubaren Netzen entwickelte, hätte durchaus Potential mit Hilfe kleiner zellularer Netze mehr zu erreichen als mit zusätzlichem bundesweiten Datensammeln.