Wann ist hierzulande "Freedom Day?"

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Boris Johnson setzt auf Eigenverantwortung und Risiko. Chef der Intensivmediziner in Deutschland sieht Corona zu einer "normalen Grippe" werden und fordert gleichzeitig, Maskenpflicht und Maßnahmen aufrechtzuerhalten, bis 85 Prozent der Erwachsenen geimpft sind

Der britische Premierminister Johnson will den 19. Juli zum "Freedom Day" machen. Es gab heftige Spontan-Reaktionen, als das Gespräch im privatem Umfeld des Autors auf Johnsons Ankündigung kam. Die Aggressionen waren erstaunlich, sie richteten sich speziell gegen das Wagnis mit der "Eigenverantwortung". Das sei unverantwortlich und gefährlich, könne nicht gutgehen. Es gibt also nicht nur das Misstrauen gegen Politiker, sondern auch gegen Mitbürger.

Man werde sich die Lage am 12. Juli genau anschauen und dann definitiv entscheiden, kündigte Johnson am vergangenen Montag an: Eine Woche später, zum "Freiheitstag", sollen dann die Corona-Maßnahmen in England1 aufgehoben werden (vgl. Sinnvoller Appell an Eigenverantwortung oder Vabanquespiel?).

Der Staat soll nicht länger bestimmen, wie sich die Bürgerschaft zu verhalten habe, so der Premier, sondern die Einzelnen können dies selbst entscheiden. Es sei nicht sinnvoll, per Gesetz festzulegen, dass ein Fahrgast, der zu später Stunde allein im Zug sitzt, eine Maske aufhaben muss. Dieses Beispiel erwähnte Johnson bei seiner Pressekonferenz öfter. Das vorsichtige Verhalten, zu dem der Regierungschef eindringlich riet, sollte aus eigenem Entschluss kommen, so seine Prämisse.

Dabei setzt er auf die hohe Impfquote. Den steigenden Fallzahlen der Infizierten durch die Delta-Varianten stellte er gegenüber, dass durch die Impfungen der Zusammenhang zwischen Infektionen und schweren Verläufen einer Covid-Erkrankung geschwächt sei. Hohe Zahlen von Corona-Infizierten würden nicht länger darauf hinauslaufen, dass dem auch eine große Zahl schwer Erkrankter folgt, die ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen und das staatliche Gesundheitssystem mit seinen Krankenhäusern an Belastungsgrenzen kommen.

Es werde zwar weiter Infizierte und Tote geben, so die "Wette" Johnsons, aber angesichts der großen benefits durch mehr Freiheiten sei das Risiko vertretbar. Sekundiert wurde er bei seiner Ankündigung von zwei Wissenschaftlern, Chris Whitty (England's Chief Medical Officer) und Patrick Vallance (UK Science Chief), die das Wagnis wegen des "geschwächten Links zwischen Ansteckung und schweren Krankheitsverlauf" für vertretbar halten.

Sie appellierten bei der Pressekonferenz daran, dass das Tragen von Masken in Innenräumen, die mit Menschen gefüllt sind, unbedingt zu einem vorsichtigen Verhalten gehören. Einer der beiden belebte die Tradition englischer Höflichkeit mit der Bemerkung, dass er das Tragen der Maske auch dann empfehle, wenn sich jemand im Raum ansonsten unkomfortabel fühle.

Wir müssen die Risiken abwägen. Die Risiken der Krankheit, die die Impfstoffe zwar reduziert, aber noch lange nicht beseitigt haben. Und die Risiken der Fortsetzung der gesetzlich erzwungenen Einschränkungen, die unweigerlich ihren Tribut für das Leben und die Lebensgrundlage der Menschen fordern - für die Gesundheit und die psychische Gesundheit. Und wir müssen ehrlich zu uns selbst sein: Wenn wir nicht in den nächsten Wochen wieder öffnen können, wenn uns die Ankunft des Sommers und die Schulferien helfen, dann müssen wir uns fragen, wann werden wir jemals wieder zur Normalität zurückkehren können? Und an diejenigen, die sagen, wir sollten wieder verzögern: Die Alternative ist, im Winter zu öffnen, wenn das Virus einen Vorteil hat, oder gar nicht in diesem Jahr.

Das englische Wagnis kommt im Tenor der deutschen Medien nicht besonders gut an, umso weniger als die Menge an Fußballfans, die zur EM in Wembley auf Fernsehbildern ohne Maske und dicht gedrängt zu sehen sind, viele Befürchtungen wecken.

Eine Ausnahme bildete ein Artikel im Spiegel der dem Obelix-Satz "Die spinnen die Briten" erwidert, dass "gute Gründe für die Rückkehr zu einer Art Normalität sprechen. Aufgeführt werden dazu die eben erwähnten Gründe: die hohe Impfquote, die im Verhältnis zu den Ansteckungen geringere Rate der Krankenhauseinweisungen und der Corona-Toten: "anders als zu Beginn des Jahres landen die erkrankten Menschen nicht mehr massenhaft in den Krankenhäusern". Und dass Covid-19 "keine dominierende Todesursache mehr" sei.

Covid-19 ist im Vereinigten Königreich schon seit Längerem nur noch eine Todesart unter vielen. Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde starben etwa im Mai insgesamt 35.401 Menschen im Land - darunter 3780 an Herzversagen, 3711 an Demenz und 1012 an Grippe oder Lungenentzündung. Covid-19 rangierte auf dieser Liste mit 355 Todesfällen auf Platz 24. Aber es ist nach wie vor die einzige Krankheit, deren Verlauf akribisch und flächendeckend veröffentlicht wird.

Der Spiegel

Als weiterer Grund wird die Annäherung an die "Herdenimmunität" (viele Geimpfte, Ausbreitung der Delta-Variante in Nicht-Risikogruppen, wie z.B. Jugendlichen) genannt. Zudem sichere sich die Regierung Johnson damit ab, dass strenge Maßnahmen wieder eingesetzt werden, falls dies nötig sein werde.

Das könnte durchaus der Fall sein, warnen über 100 Wissenschaftler in einem aktuellen Artikel in der Fachzeitschrift The Lancet. Darin bezeichnen sie die Beendigung der Maßnahmen am "Freedom Day", die steigende Infektionszahlen bewusst in Kauf nehme, als "gefährlich, verfrüht und unethisch".

"Es werden angemessene Abhilfemaßnahmen erforderlich sein, um Hunderttausende von Neuinfektionen zu vermeiden, bis viel mehr geimpft sind."

Die Verfasser befürchten, dass die Ansteckung durch die Delta-Variante exponentiell verlaufen könnte und die Impfquote bis zum Freedom Day keinen ausreichenden Schutz "für Millionen" bieten werde. (Am 7. Juli waren es laut Regierungsangaben 64,9 Prozent, die zweifach geimpft sind). Ungeimpfte Kinder und Jugendliche würde dies unverhältnismäßig stark treffen, so ihre besondere Sorge. Auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen, die stärker von Covid-19 betroffen und gefährdet seien, würden durch die Aufhebung der verpflichtenden Maßnahmen einem größeren Risiko ausgesetzt.

Darüber hinaus würden "vorläufige Modelldaten" darauf hindeuten, "dass die Strategie der Regierung einen fruchtbaren Boden für das Auftreten von impfstoffresistenten Varianten bietet. Dies würde alle gefährden, auch die bereits Geimpften, sowohl in Großbritannien als auch weltweit. Zwar können die Impfstoffe aktualisiert werden, dies erfordert jedoch Zeit und Ressourcen, sodass viele in der Zwischenzeit gefährdet sind".

Zwar sei der Zusammenhang zwischen Infektion und Tod abgeschwächt, aber "nicht durchbrochen". Infektionen könnten "immer noch eine erhebliche Morbidität sowohl bei akuten als auch bei langfristigen Erkrankungen verursachen", so der Aufruf in Lancet, der von 122 Wissenschaftlern unterzeichnet wurde (auch dazu gibt es eine Pressekonferenz auf YouTube).

Nicht alle setzen die Risiken derart hoch an. So sieht der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, für Deutschland "mit Respekt, aber nicht mit Panik auf den Herbst und eine mögliche vierte Welle" Sie werde dank des Impffortschritts "grundlegend anders verlaufen als die Wellen zuvor". Corona werde aus intensivmedizinischer Sicht "tatsächlich zu einer normalen Grippe". Gleichzeitig fordert er, Maskenpflicht und Maßnahmen aufrechtzuerhalten, bis 85 Prozent der Erwachsenen geimpft sind.