Kleine Frau mit großer Wirkung: Baruch dayan ha'emet, Esther Bejarano!

2012 erhielt Esther Bejarano das Bundesverdienstkreuz. Dabei musste sie sich in früheren Jahren der BRD mit der Polizei anlegen, die einen NPD-Infostand vor ihrer Tür schützte. Foto: Birgit Gärtner

Als die vielseitige Künstlerin am frühen Samstagmorgen starb, hatte sie die Shoa um gut 76 Jahre überlebt. Ein Nachruf

Ein eiserner Überlebenswille ließ Esther Bejarano Todeslager und Todesmarsch überstehen. Denn sie hatte nur eines im Sinn: Sich an den Nazis rächen, indem sie überlebt. Das tat sie nicht mit Gewalt, sondern mit Musik. Ehemals Mitglied des "Mädchenorchesters von Auschwitz", trat sie später als "Künstlerin für den Frieden" mit "Liedern für das Leben" oder "Per la Vita" auf. Diese "Rache", eine musikalische Botschaft gegen das Vergessen, wurde ihr Lebenselixier, Esther Bejarano eine wichtige Stimme gegen Antisemitismus, Krieg und Faschismus. In den frühen Morgenstunden des 10. Juli 2021 ist diese Stimme für immer verstummt. Im Alter von 96 Jahren starb die kämpferische Zeitzeugin in Hamburg.

41948 - diese fünf Ziffern waren der damals 18-jährigen Jüdin im Konzentrationslager Auschwitz in den Arm geritzt worden. Von da an war sie nicht mehr eine junge Frau namens Esther Loewy, später Bejarano, sondern nur noch eine Nummer. Ihre Herkunft aus einer hochmusikalischen Familie rettete ihr in Auschwitz das Leben, ihre "arische" Großmutter war der Grund für die spätere Verlegung von Auschwitz in das Frauen-KZ Ravensbrück im Rahmen eines Programms des Internationalen Roten Kreuzes.

Düstere Wolken zogen auf - und kamen im Saarland zeitversetzt an

An ihre behütete Kindheit in Saarbrücken erinnerte sich Esther Bejarano, geboren am 15. Dezember 1924, Zeit ihres Lebens gern. Anfang der 1930er-Jahre war sie ein fröhlicher kleiner Wildfang, ging vormittags zur Schule und brauste nachmittags mit einem viel zu großen Fahrrad durch die Gegend oder stiftete ihre Spielkameradinnen zu allerlei Unfug an. Die düsteren Wolken, die sich am politischen Himmel zusammen brauten, nahm sie nicht wahr. Noch nicht, denn schon bald sollten die menschenverachtende faschistische Ideologie und die damit verbundene antisemitische Hetze auch die jüdische Bevölkerung im Saarland mit aller Härte treffen.

Doch da das Saarland damals noch nicht zum Deutschen Reich gehörte, fand diese Entwicklung dort etwas zeitversetzt statt. Während im benachbarten Deutschland der faschistische Mob bereits tobte, wienerte Esthers Vater seine Uniformknöpfe. Voller Stolz hatte er seinem Vaterland im Ersten Weltkrieg gedient. Er machte sich zwar so seine Gedanken, wähnte sich und seine Familie aber in Sicherheit, denn schließlich war der Kriegsveteran Träger des Eisernen Kreuzes. Was sollte ihm schon passieren?

Kaum vorstellbar schien, dass die Ernennung des geltungssüchtigen kleinen Österreichers namens Adolf Hitler zum Reichskanzler im benachbarten Deutschland mit der millionenfachen fabrikmäßigen Vernichtung menschlichen Lebens enden würde. Selbst wenn Esthers Angehörigen die Konsequenzen klar gewesen wären, hätten sie die Auswanderung finanziell nicht ohne Weiteres stemmen können. "Die Ernennung Hitlers habe ich nicht hautnah miterlebt", sagte Esther später. "Erstens war ich im Januar '33 gerade mal acht Jahre alt, zweitens lebten wir ja im Saarland".

1919, nach dem 1. Weltkrieg, war das Saargebiet durch den Versailler Vertrag unter französische Verwaltung gekommen. Das Abkommen sah vor, dass nach 15 Jahren eine Volksabstimmung stattfinden solle, in der die Bevölkerung sich zwischen Frankreich und Deutschland zu entscheiden hätte. Dieses Votum fand am 13. Januar 1935 statt: Mehr als 90 Prozent der Stimmberechtigten entschieden sich für eine Angliederung an das faschistische Deutschland. Am 1. März 1935 fuhr Adolf Hitler unter großem Jubel der Bevölkerung in Saarbrücken ein und holte das Gebiet "heim ins Reich"

Damit nahm ihre behütete Kindheit ein jähes Ende: Die am 15. September 1935 erlassenen "Nürnberger Rassegesetze" galten dementsprechend auch für das Saarland. Als die ersten Schulkameradinnen nicht mehr mit ihr spielen durften, verstand die kleine Esther die Welt nicht mehr. Sie hatte sich nicht verändert, die Freundinnen hatten sich nicht verändert - nur die politische Wetterlage und die gesellschaftliche Stimmung hatten sich geändert. Doch wie sollte das ein zehnjähriges Mädchen begreifen? Wenig später durfte sie nicht mehr in ihre alte Schule gehen. Ihre Erinnerung daran schilderte sie mir für die Biographie "Wir leben trotzdem! Esther Bejarano - vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden" so:

Jüdischen Kindern wurde verboten, die allgemeinen Schulen zu besuchen, da es den christlichen Kindern nicht zuzumuten sei, mit den jüdischen Kindern auf einer Bank zu sitzen. Mein Bruder Gerhard musste das Gymnasium abbrechen und fing eine Schneiderlehre an. Auch meine Schwester Tosca musste die Schule verlassen, sie lernte Sekretärin. Eine jüdische Schule wurde gegründet, in die meine andere Schwester Ruth und ich dann gingen. Ich weiß heute nicht mehr, wie viele Klassen diese Schule hatte, ich erinnere mich nur noch, dass vier Lehrer dort unterrichteten, unter anderem auch mein Vater.

Hinzu kam auch die soziale Isolation:

Wir durften nicht mehr ins Theater gehen und nicht ins Café. Da hat überall dran gestanden: "Juden ist der Zutritt verboten" oder "Juden unerwünscht". Wir durften auch nicht mehr einkaufen gehen, nur in jüdische Geschäfte." Auf der anderen Seite wurde die deutsche Bevölkerung mit Sprüchen wie "Kauft nicht bei Juden" zu antisemitischer Hetze aufgestachelt.

Die jüdische Bevölkerung durfte kein Radio mehr besitzen, und kein Fahrrad. Auch die kleine Esther musste sich von ihrem immer noch viel zu großen Drahtesel trennen. Ebenfalls völlig unbegreiflich für das kleine Mädchen. Der aufkeimende Faschismus hinterließ seine Spuren auch in der jüdischen Gemeinde in Saarbrücken. Wer eben konnte, verließ das Land. "Viele fühlten, dass sie in Deutschland keine Zukunft haben würden", so Esther. "So gingen sie nach Frankreich, Belgien, Holland, Amerika oder nach Palästina, um sich eine neue Heimat zu suchen. Mein Vater, der glaubte, dass die Judenhetze nur eine vorübergehende Sache sei, dachte noch nicht ans Auswandern. Er war wie viele Juden ein deutscher Patriot, der glaubte, dass es nicht so lange dauern könne, bis die Hitlerregierung wieder abgelöst würde."

Die Saarbrücker Gemeinde wurde jedoch immer kleiner und für Rudolf Loewy gab es bald keinen Wirkungskreis mehr. Er bewarb sich bei der jüdischen Gemeinde in Ulm und die Familie zog Anfang 1936 dorthin um.