Covid-19: Haben Inzidenzwerte als Entscheidungskriterium ausgedient?

Krankenhäuser müssen demnächst genauere Angaben über Covid-19-Patienten machen, damit die durch Impfungen veränderte Lage besser eingeschätzt werden kann

Angesichts steigender Impfquoten gegen Covid-19 wird in Regierungskreisen die Abkehr von Inzidenzwerten als Entscheidungskriterium in der Corona-Krise vorbereitet. "Da die gefährdeten Risikogruppen geimpft sind, bedeutet eine hohe Inzidenz nicht automatisch eine ebenso hohe Belastung bei den Intensivbetten", twitterte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) an diesem Wochenende. "Die Inzidenz verliert zunehmend an Aussagekraft, wir benötigen nun noch detailliertere Informationen über die Lage in den Kliniken."

Künftig müssten alle im Krankenhaus behandelten Covid-19-Patienten sowie deren Alter, die Art der Behandlung und ihr Impfstatus gemeldet werden, kündigte Spahn an. So ließe sich "zeitnah abschätzen, wie hoch die Belastung für das Gesundheitssystem wird und wie gut die Impfungen wirken". Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der registrierten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche lag zuletzt bundesweit bei 6,2 und ist damit leicht gestiegen. Eine Woche zuvor hatte der Wert bei 5,0 gelegen.

Freiheiten, "wenn alle ein vollständiges Impfangebot erhalten haben"

Mehrere Politiker aus Unionsparteien und SPD haben sich aber inzwischen dafür ausgesprochen, die Corona-Maßnahmen zurückzunehmen, sobald alle Gelegenheit zur Erst- und Zweitimpfung hatten. "Wenn alle ein vollständiges Impfangebot erhalten haben und die Impfung vor schweren Verläufen auch neuerer Varianten schützt, müssen wir unsere Corona-Maßnahmen schrittweise wieder zurücknehmen", sagte Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) der Welt am Sonntag.

Ähnlich argumentierte CSU-Generalsekretär Markus Blume: "Sobald jeder Bürger ein komplettes Impfangebot erhalten hat und der Impfschutz auch wirksam bleibt, geht die Gesamtverantwortung vom Staat wieder auf den einzelnen Bürger über. Das heißt: Mit dem Impfschutz für alle endet auch die Zeit der Beschränkungen für alle. An diesem Punkt sind wir aber noch nicht."

Außenminister Heiko Maas (SPD) hatte sich für eine Aufhebung aller Corona-Einschränkungen ausgesprochen, sobald alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot bekommen haben. Damit sei im Laufe des Monats August zu rechnen.

Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts sind bisher 42,1 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. 58,2  Prozent haben mindestens eine Impfdosis erhalten.

Covid-19 mit einer "normalen Grippe" zu vergleichen, hat dadurch inzwischen auch für Intensivmediziner einen anderen Klang als zu Beginn der Impfkampagne oder gar davor. Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, hatte am Donnerstag dem Handelsblatt gesagt, er blicke "mit Respekt, aber nicht mit Panik auf den Herbst und eine mögliche vierte Welle". Sie werde "grundlegend anders verlaufen als die Wellen zuvor, da deutlich mehr Menschen geimpft sein werden und es deswegen weniger schwere Fälle geben wird - also auch deutlich weniger Patienten mit Covid-19 auf den Intensivstationen". Dort befänden sich derzeit etwas mehr als 500 Corona-Patienten aus der vorangegangenen Welle. Die Belegung normalisiere sich. Corona werde daher "aus intensivmedizinischer Sicht tatsächlich zu einer normalen Grippe".

Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sieht den Punkt, ab dem Corona als ganz normale Erkrankung angesehen werden kann, erst dann gekommen, wenn 85 Prozent der Bevölkerung durch Impfung und Durchmachen der Erkrankung immunisiert seien. "Wir werden aber Corona nie wieder los", betonte Montgomery. In bestimmten Situationen müssten wohl immer Masken getragen, Hände gewaschen und Abstand gehalten werden - "und wir werden regelmäßig nachimpfen müssen, wie wir das von der Grippe ja auch kennen".

Mit Blick auf den deutlichen Anstieg der Ansteckungszahlen in Großbritannien und die dort geplante Aufhebung der Corona-Beschränkungen sagte Montgomery, er halte solche "Lockerungsübungen" für unverantwortlich. Er frage sich, wie viele Menschen sich am Abend beim EM-Finale im Wembley-Stadion anstecken würden. "Und mir graust ein bisschen davor."