Soldatische Ethik und Atomwaffen: Was niemals legitim sein kann

Büchse der Pandora: Am 15. Juli 1945 wurden in der Wüste von New Mexico die Vorbereitungen für den "Trinity"-Atomtest abgeschlossen. Foto: Los Alamos National Laboratory / CC0 1.0

Kollektiver Massenmord: Reflexionen zur Delegitimation des Militärischen aus weltlicher und kirchlicher Sicht

Oberstleutnant a. D. Jürgen Rose befasst sich als Publizist mit friedens- und sicherheitspolitischen Themen. Als Soldat der Bundeswehr verweigerte aus Gewissensgründen seine Beteiligung am Tornado-Einsatz in Afghanistan. Er ist Mitglied im Vorstand des Förderkreises der kritischen Soldatenvereinigung Darmstädter Signal.

Wie der Militärtheoretiker und Friedensforscher Wolf Graf von Baudissin herausstellte, markiert die Erfindung und Verbreitung der Massenvernichtungswaffen und hier wiederum die der Nuklearwaffen den entscheidenden Punkt, die Gretchenfrage schlechthin für den Soldaten sowie die Legitimation seiner Existenz und seines Handelns nach dem 16. Juli 1945 dar.

Am Morgen jenes Tages fand kurz vor Sonnenaufgang in der Wüste von New Mexico unter der Bezeichnung "Trinity" ("Dreifaltigkeit") die erste Detonation eines nuklearen Sprengsatzes statt.

Wenn im folgenden von Nuklearwaffen die Rede ist, so stehen diese symbolisch für jeden Waffeneinsatz mit potentiellem Massenvernichtungscharakter. Die Bombardierung von Anlagen der Chemieindustrie oder kerntechnischer Anlagen mittels konventioneller Munition dürfte natürlich regelmäßig Massenvernichtung zur Konsequenz haben, ebenso wie der Einsatz biologischer oder chemischer Waffen.

Schon 1795 schreibt Immanuel Kant in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden":

Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen (...) Das sind ehrlose Strategemen. Denn irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte, und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg (bellum internecinum) ausschlagen würde (...).

Woraus denn folgt: dass ein Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beide zugleich, und mit dieser auch alles Rechts treffen kann, den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung statt finden lassen würde. Ein solcher Krieg also, mithin auch der Gebrauch der Mittel, die dahin führen, muss schlechterdings unerlaubt sein.

(Kant / "Zum Ewigen Frieden" / Ausgabe 1953, S. 20f)

Zudem verstieße dieser laut Kant gegen die "allgemeine Regel (…), nach der überhaupt nur diejenige Gewaltanwendung erlaubt ist, die ‚mit der Erhaltung des menschlichen Geschlechts zusammen bestehen kann‘." (Geismann 1974, S. 374, Fußnote 48). Dieses Grundprinzip des "Ius in bello", des Rechts im Kriege, "verpflichtet die Staaten, sich - wenn es denn schon überhaupt zu einem Kriege kommt - strikt solcher Mittel der Kriegsführung und solcher Kriegsziele zu enthalten, die den Abschluss und die Einhaltung eines Friedensvertrages notwendig unmöglich machen würden" (Geismann 1974, S. 373f).

Auch jener sechste Präliminarartikel des kantischen Friedensvertragsentwurfes bildet somit eine unverzichtbare Grundbedingung jedes denkbaren Weltfriedens.

Nun waren zu Lebzeiten Kants bekanntlich noch keine Nuklearwaffen in der Welt, doch trifft sein Verdikt nachgerade idealtypisch auf diese zu: atomare Massenvernichtungswaffen zählen zweifelsohne zu den schlechterdings unerlaubten Mitteln des Krieges, ihr Einsatz fällt unbestreitbar unter die Kategorie der "ehrlosen Strategemen"; sie stehen dessenthalben kategorisch auf der "kantischen Verbotsliste" (Geismann 1974, S. 374, Fußnote 48). Für jeden Welt- oder Staatsbürger, der die Ideale des Menschenrechts - Freiheit, Menschenwürde, Recht auf Leben - vertritt und verwirklicht sehen will, muss dies als die größte denkbare Barbarei erscheinen.

Im Übrigen ist dies nicht nur ein kategorischer Imperativ der praktischen Vernunft, sondern ebenso eine Norm des kodifizierten Völkerrechts, das den Einsatz von Waffen, die unterschiedslos töten und vernichten, verbietet; zudem kollidiert der Einsatz von Massenvernichtungswaffen auch mit den ersten beiden Artikeln des deutschen Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährleistet ist. Ist etwas Entwürdigenderes vorstellbar als die Tatsache, dass sich ein Staat Handlanger zum Verbrennen und Vergiften von Menschen hält und ist etwas Würdeloseres vorstellbar als wenn Menschen gleich Ungeziefer vernichtet werden?

Kollektiver Suizid kann nicht die ultima ratio sein

Die Apologeten des Systems wechselseitiger nuklearer Abschreckung verweisen in der Debatte über dessen Legitimation - notabene nicht ohne gewisse empirische Plausibilität - stets auf die kriegsverhindernde und konfliktdämpfende Wirkung desselben und beharren daher auf dessen inhärenter Rationalität. So zum Beispiel Josef Joffe, Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, der im Mai 2020 die Forderung der SPD nach einem Abzug der US-Atombomben vom Bundesluftwaffenfliegerhorst Büchel als "Fahnenflucht der Deutschen" sowie als "fatalen deutschen Sonderweg" geißelte - ganz nach der nihilistischen Devise: Völkerrecht und Moral - völlig egal!

Die Tatsache jedoch, dass sich menschliche Vernunft ein Ziel setzt - die Bewahrung von Frieden und Freiheit - und zur Realisation dieses Ziels bereit ist, sich Mittel zu bedienen, deren Anwendung die Aufhebung ebendieser Vernunft impliziert - diese Tatsache erscheint indes nicht nur höchst irrational, sondern zudem in höchstem Grade illegitim. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen hat auch nicht mehr das Geringste mit Verteidigung zu tun - der kollektive Suizid kann nicht die ultima ratio darstellen.

Die Rolle der Weltkirchen

Die von Kant formulierte absolute Bedingung für jeglichen Weltfrieden fand ihren Widerhall mittlerweile auch in den sich als moralisch-ethische Instanzen begreifenden christlichen Weltkirchen. Als während des Kalten Krieges der erbitterte Streit um den sogenannten Nachrüstungsbeschluss der Nato tobte, bestätigten die katholischen Bischöfe in den USA, die sich am ausführlichsten und gründlichsten mit den verschiedenen Aspekten der Doktrin der nuklearen Abschreckung befasst hatten, aus der Perspektive ihrer christlichen Ethik den kantischen Imperativ.

In ihrem Hirtenwort nämlich beurteilte die US-amerikanische Bischofskonferenz nicht nur den Einsatz von Nuklearwaffen, sondern schon ihren Besitz schlechthin sowie die Drohung mit ihrem Einsatz, also das Prinzip der Abschreckung durch "mutual assured destruction", als nicht legitimierbar:

Unter keinen Umständen dürfen Kernwaffen oder andere Massenvernichtungsmittel zum Zweck der Vernichtung von Bevölkerungszentren oder anderen vorwiegend zivilen Zielen benutzt werden ... Auch Vergeltungsaktionen, seien sie nuklearer oder konventioneller Art, müssen verurteilt werden, sofern sie unterschiedslos vielen völlig unschuldigen Menschen das Leben nehmen würden, Menschen, die in keiner Weise für rücksichtslose Handlungen ihrer Regierung verantwortlich sind ... Diese Verurteilung gilt nach unserem Verständnis sogar für den Einsatz von Vergeltungswaffen gegen feindliche Städte, nachdem unsere eigenen Städte bereits angegriffen wurden ... Ins­besondere ist die Absicht, Unschuldige zu töten, im Rahmen einer den Nuklearkrieg abschreckenden Strategie moralisch nicht akzeptabel.

(Katholische Bischofskonferenz der USA 1983)

Mit dieser Stellungnahme gingen die katholischen Bischöfe in den USA über die damals herrschende offizielle kirchliche Friedenslehre hinaus, die den Staaten ein begrenztes Recht zur Selbstverteidigung einräumte, solange die Voraussetzungen für eine gesicherte Kriegsvermeidung fehlten oder nicht ausreichten. Freilich blieb hierbei stets zu beachten, dass dieses Verteidigungsrecht keineswegs alle denkbaren Mittel und Maßnahmen erlaubte, denn auch für die legitime Verteidigung galt das Prinzip, wonach der Zweck nicht jedes Mittel heiligte. Insbesondere musste das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Schutz der Zivilbevölkerung bei jedem Waffeneinsatz gewahrt werden.

Auf dem Höhepunkt der weltweiten Debatte über die nukleare Rüstung Anfang der 1980er-Jahre wiederholten und bekräftigten eine ganze Reihe von nationalen Bischofskonferenzen die Position des Zweiten Vatikanischen Konzils, das 1961 den Einsatz von von chemischen, biologischen und atomaren Kampfmitteln, rigoros abgelehnt und eine fundamentale "Umkehr" der Sicherheitspolitik eingefordert hatte.

Damals hatte Papst Johannes XXIII. einen Bann der Atomwaffen vorgeschlagen. Zugleich erklärte das Lehramt der katholischen Kirche jedoch abweichend von der Überzeugung vieler Katholiken die Strategie der atomaren Abschreckung für bedingt verantwortbar und akzeptabel, weil und wenn sie ausschließlich der Kriegsverhütung diente.

Dementsprechend trug katholischen Kirche weltweit jahrzehntelang, gleichwohl stets besorgt und zur Abrüstung mahnend, die Strategie der nuklearen Abschreckung letztlich mit, so wie dies Papst Johannes Paul II. in seiner Rede vor den Vereinten Nationen 1982 exemplarisch zum Ausdruck brachte, als er jene zwar als "notwendiges Übel" bezeichnete, aber zugleich relativierend anfügte, dass unter "den gegenwärtigen Bedingungen (…) eine auf dem Gleichgewicht des Schreckens beruhende Abschreckung - natürlich nicht als Ziel an sich, sondern als ein Abschnitt auf dem Weg einer fortschreitenden Abrüstung - noch für moralisch annehmbar gehalten werden" könne.

In diesem Sinne als nur mit schwersten Bedenken befristet hinnehmbar betrachtete die römisch-katholische Lehrmeinung die nukleare Abschreckungsstrategie vor allem deshalb, weil sie mit dem moralischen Dilemma belastet ist, glaubwürdig mit einem notfalls massiven Einsatz von Nuklearwaffen drohen zu müssen, der sich indessen keinesfalls rechtfertigen und verantworten lässt.

Demzufolge war die atomare Abschreckung losgelöst vom Ziel der Kriegsverhütung und vollständigen Abrüstung nach katholischer Friedenslehre eindeutig zu verurteilen und die lehramtlichen Äußerungen hierzu ließen keinerlei Zweifel daran, dass der atomar gesicherte Friede eben kein sicherer Friede sein konnte, und von sich aus dazu nötigte, mit aller Kraft eine Weltfriedensordnung aufzubauen, die den Verzicht auf Atomwaffen ermöglicht.

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