Vom neuen Leviathan

Unter dem Paradigma "Überleben ist alles" werden wir Bürger zu Untertanen einer Medizindiktatur. Freiheitsrechte und Lebenssinn zeigen sich arg verkürzt. Covid-19 als Staats- und Regierungskrise: Wie stimmig ist Agambens Zeitdiagnose?

Ist das nackte Leben das zu guter Letzt noch verbleibende Gut, welches unsere Gesellschaft verbindet? Das fragt - zugespitzt - ein zeitgenössischer Denker, der immer wieder gerne provoziert und dabei aktuelle rechtlich-politische Fragen nicht scheut, der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Er hat gerade seine Texte zur "Epidemie als Politik" in gesammelter Form auf den Markt gebracht.

Der Buchtitel setzt auf Innehalten (statt Durchstarten?), mit der Frage: "An welchem Punkt stehen wir?" Das "Social Distancing" nennt Agamben einen Euphemismus, den an Macht gewinnenden Staat sieht der Autor in einen entmündigenden Autoritarismus abgleiten. Die verordnete soziale Distanzierung führe, so sein Statement, in letzter Konsequenz zur Auflösung des öffentlichen Raumes.

Hier werden strukturelle Fragen aufgeworfen, die hinters Weltgetriebe gehen.

"Archäologische Untersuchungen zur westlichen Politik" nennt der Maestro denn auch seinen Beitrag zur Corona-Debatte, in dem es um Transformationsprozesse und letztlich um den Geltungsgrund des modernen Verfassungsstaats geht. Agambens Gegenwartsdeutung bleibt dabei nicht ohne Widerspruch, dazu später noch ein Wort.

Der Lockdown und das nackte Leben

Der Reihe nach: Anlass für Agambens Erwägungen waren die über Italien Februar 2020 verhängten Lockdown-Maßnahmen. Hier erkennt er den Ausgangspunkt für eine gefährliche Entwicklung, die seiner Auffassung nach in den Überwachungsstaat führe. Hintergrund dieser Transformation: Laut Agamben das "nackte Leben" und die Angst, es zu verlieren.

In eins mit der Virusgefahr formiert sich in Gestalt einer globalen Bewegung ein sozialer und existenzieller Strukturwandel: Diese Grundaussage zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, das eigentlich eine Zusammenstellung von Texten ist, die in den Monaten des Ausnahmezustands entstanden sind. Der ausgerufene Notstand ist dabei der Knackpunkt; er führt den Staatstheoretiker Agamben - hier übrigens mit Carl Schmitt - zur Figur des "Souveräns", der autoritativ darüber entscheidet, was "normal" und was "Ausnahme" ist.

Carl Schmitt (1888-1985), der umstrittene Philosoph der Macht, berief sich auf den politischen Philosophen Thomas Hobbes. Hobbes hatte in seinem "Leviathan" den Kernsatz formuliert:

Auctoritas, non veritas facit legem (Autorität, nicht Wahrheit macht das Gesetz)

Thomas Hobbes, Leviathan, 1651

Die Ausschließlichkeit und Unwiderstehlichkeit des leviathanischen Machtanspruchs untermauerte Hobbes seinerseits durch den Bezug auf das Bibelbuch Hiob: "Auf Erden gibt es also nichts und niemanden, der sich kräftemäßig mit dem Leviathan messen könnte" (vgl. dazu Hiob, Kap. 41).

In diesem Zusammenhang schrieb Schmitt in seiner "Politischen Theologie" (1922) den immer wieder zitierten Ausspruch nieder:

Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. (…) Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten (…).

Agamben vermeidet es verständlicherweise, sich näher auf den Rechts-Intellektuellen einzulassen, hebt jedoch hervor, der Begriff des Ausnahmezustands habe sich in der deutschen Rechtslehre durchgesetzt.

"Gesundheit sticht Freiheit"

Der Leviathan, das gefräßige Fabelwesen, markiert die Ausbildung des staatlichen Souveränitätsbegriffs am Wendepunkt der Neuzeit. Für die gegenwärtige Krise bietet das Bild Zündstoff. In Agambens Sicht nutzt der moderne Staat kraft seiner Souveränität das Element "Ausnahme", um die politische Ordnung dauerhaft zu verändern. Agamben formuliert:

Die Epidemie bringt die Tatsache zum Vorschein, (dass) der Ausnahmezustand, auf den uns die Regierenden seit geraumer Zeit einschwören, längst zu unserem Normalzustand geworden ist.

Giorgio Agamben

Mittels durch Covid-19 geschürter Furcht vor ihrem eigenen Tod seien die meisten Bürger zu jeder Art von Verzicht motivierbar. Und so rechtfertigt plötzlich die absolut gesetzte Erhaltung des - biologischen - Lebens undemokratische Übergriffe der politischen Macht, die immer deutlicher auf Dauer gestellt sind. "Gesundheit sticht Freiheit".

Sci-Fi? Der Mensch als "Biomasse"

Johannes Scheu geht in einem Reader 2006 ("Überleben in der Leere") auf die schon ältere Theorie des "Lagers" ein und damit auf den "Homo Sacer", eine Figur aus dem römischen Recht. Agamben fasst in dem Doppelsinn des Wortes sacer beide Sinnaspekte: heilig und ausgesondert ("gebannt"):

In der Struktur des "Lagers" sieht Agamben den Ausnahmezustand materiell lokalisiert: Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt. In ihm erhält der Ausnahmezustand [ .. ] eine permanente räumliche Anordnung.

Johannes Scheu, Überleben in der Leere

Im Lager erfährt der Mensch als Homo Sacer seine radikale Reduktion auf ein nacktes Leben. Guantanamo und Abu Ghraib, die internationalen Zonen auf Flughäfen, aber auch die Intensivstationen moderner Medizin: all dies sind solche Räume innerhalb der politischen Ordnung, im Kern Produktionsstätten von Homines Sacri. Räume, die das heilige (und zugleich gebannte) Leben in seiner ganzen Ohnmacht bewohnt.

Konkret heißt das in der Pandemie: Die Menschen werden in ihren Häusern eingeschlossen. Sozialkontakte gelten als verzichtbar, ja als gefährlich. Die neue Logik fordert die Unterordnung des Lebens unter die Statistik, die den Menschen als zu verwaltende Biomasse ansieht. Der Staat verwandelt sich in eine Medizindiktatur.

Laut Agambens Diagnose geht die Staatsentwicklung dahin, dass eine "totalitäre Medizin" immer mehr an Macht und Einfluss gewinnt.

Eine neue Religion - ohne Aussicht auf Erlösung

Die Medizin als neue Religion (Agamben spricht geradezu von einer Liturgie) greift ihm zufolge ein paulinisches Motiv auf und predigt: Betet ohne Unterlass. Die Religion in Gestalt der Medizin übernimmt die eschatologische Dimension aus einem degenerierten Christentum; bereits der Kapitalismus, so Agamben, habe die Idee vom Ende der Zeit beseitigt und durch einen permanenten Krisenzustand ohne Aussicht auf Erlösung säkularisiert.

Es ist die Religion einer Welt [gemeint ist die Religion namens Medizin], die sich am Ende fühlt und doch, im Unterschied zum hippokratischen Arzt, nicht zu entscheiden vermag, ob sie überleben oder sterben wird.

Giorgio Agamben

Der Gott dieser neuen Religion ist "das nackte Leben" (Loc. cit., 99). Der künstlich zwischen Leben und Tod schwebende Körper ist zum neuen politischen Paradigma geworden, an dem die Bürgerinnen und Bürger ihr Verhalten orientieren sollen. Das nackte, vom sozialen Kontext abgespaltene Leben, ist der Kernpunkt dieses medizinischen Kultus.

Die Pandemie offenbart auf die Weise den Typus einer "biopolitischen Bevölkerung", die keinen politischen Körper mehr darstellt. Der Security State (der Sicherheitsstaat) wandelt das Recht auf Gesundheit in eine "Verpflichtung zur Gesundheit" um (95). Die Idee der Staatsbürgerschaft ist zum passiven Gegenstand von Pflege, Überwachung und Misstrauen geworden (106).

Die Pandemie hat zweifellos gezeigt, dass der Bürger auf das nackte biologische Dasein reduziert wird.

Giorgio Agamben

Die Art Medizin ist dabei, die Macht der Souveränität (oder die Illusion davon) zu gewähren. Der politische Körper wird zum biologischen Körper.

Liegt Giorgio Agamben falsch?

Stefanie Graefe kann den biopolitischen Ausnahmezustand, wie ihn Agamben skizziert, nicht erkennen und fordert zur "Entdramatisierung" auf. Graefe lehrt Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Sie beschäftigt sich mit aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozessen.

Dem totalitären Charakter der Krisenpolitik samt seinem entmündigenden Autoritarismus stellt sie - mit anderen Kritikern - den pragmatischen Aspekt gegenüber. Das Gefährliche der gegenwärtigen Situation liege weniger, so argumentiert sie etwa mit Roberto Esposito, in einer totalitären Unterströmung, "als vielmehr in der sichtbar werdenden Fragilität der staatlichen Institutionen und Krisenverwaltung".

Auch der Schweizer Hochschullehrer (emerit.) und politische Publizist Georg Kohler mag nicht auf Agambens Linie einschwenken und sieht die Philosophie des "nackten Lebens" kritisch. Kohler hält dagegen: Was wir erleben, ist nicht die Normalität des Ausnahmezustands, der uns alle bedroht. Es verhalte sich genau anders herum: Wir sähen nämlich eine Welle zwischenmenschlicher Solidarität in einer einzigartigen pandemischen Ausnahmesituation.

"Die aristotelische Frage kehrt zurück"

So bleiben Agambens Thesen nicht unwidersprochen. Und doch ist es vielleicht gerade die provokante Schärfe, mit der Agamben bei seinen Überlegungen zu Werke geht, die an seiner philosophischen Suchbewegung beeindruckt. Die Verkürzung des Lebenssinns auf pures Überleben erweist sich jedenfalls als tödliche Begrenzung jeder Art Horizont und beraubt das moderne Subjekt nicht zuletzt seiner politischen Existenz; im Hintergrund das Staatswesen als Chimäre mit Drohpotenzial:

Man könnte meinen, dass die Menschen an nichts mehr glauben - außer an das nackte Leben, das es um jeden Preis zu retten gilt. Aber auf der Angst, das Leben zu verlieren, lässt sich einzig und allein eine Tyrannei errichten, der monströse Leviathan mit dem gezückten Schwert.

Giorgio Agamben

Last but not least geht es aber an die Wurzel unseres modernen Staatsverständnisses. Im Gespräch mit Dimitra Pouliopoulou für die griechische Zeitschrift "Babylonia" (Mai 2020, im Band enthalten S. 92-113) liest sich das so: "Die aristotelische Frage über die beste Regierungsform - vom Triumph der liberalen Demokratie lange in den Schatten gestellt - kehrt nun vorsichtig zurück" (ibd., S. 109).

Fragwürdig: Eine "Gesellschaft des Überlebens"

Letztlich wird in der gegenwärtigen Zäsur ein zentrales Tabu berührt: der Umgang mit dem Tod. Im Übergang zur Moderne höre der Tod auf, eine ständige Bedrohung zu sein, meinte wohl Foucault; aus seiner Sicht nicht zuletzt durch den Rückgang von Epidemien und Pandemien (Foucault 2014). Das war vor Corona.

Das Virus mache den Tod wieder sichtbar, den wir ins Unsichtbare verbannt zu haben glaubten, behauptet dagegen der Philosoph Byung-Chul Han. Angesichts der drohenden Gefahr des Todes opferten wir bereitwillig alles, was das Leben doch lebenswert mache. Nur "überleben" ist für ihn aber kein Ziel.

Die "Gesellschaft des Überlebens" ist feindlich gegenüber dem Genuss, führt Han weiter aus - und fürchtet um unser Lebenskonzept nach der Pandemie: "Dann gleichen wir selbst dem Virus, diesem untoten Wesen, das sich nur vermehrt, nur überlebt, ohne zu leben."