Frankreich: Rekord bei Covid-Impfungen

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Die kalte Impfpflicht zeigt schnelle Wirkung. Diskutiert wird, ob sie gesundheitliche und gesellschaftliche Risiken rechtfertigt

Die Aussicht auf eine "kalte" Impfpflicht in Frankreich zeigt Wirkung. Eine Rekordzahl von knapp 800.000 Impfungen, meldete Premierminister Jean Castex für den gestrigen Dienstag, dem Tag nach den Ankündigungen von Präsident Macron.

Das Online-Buchungssystem Doctolib verzeichnete gestern bis 16 Uhr 800.000 Anfragen für einen Impftermin. Am Dienstagmorgen meldete Doctolib 926.000 Buchungen für Montag. Welcher Anteil der Buchungen nach der Rede Macrons am Montagabend erfolgten, wird nicht aufgeschlüsselt. Gemeldet wurde aber, dass es nach der Ansprache zu einem regelrechten Run auf die Plattform kam.

In den Medien wird die Summe von 1,7 Millionen Anfragen für einen Impftermin als Erfolg für die Impfkampagne der Regierung ausgewiesen (Nachtrag: Aktuell meldet Doctolib, dass es zu zwei Millionen Anfragen für Impftermine seit der Rede Macrons gekommen ist). Sie wird von zwei großen Neuerungen bestimmt.

Erklärte Impfpflicht für Pflegepersonal

Die erste Neuerung ist die erklärte Impfpflicht für Pflegepersonal: Mitarbeiter von Krankenhäusern, Kliniken und Altenheimen sowie Fachkräfte und Freiwillige, die mit älteren Menschen arbeiten. Ab dem 15. September dürfen die Ungeimpften unter ihnen nicht mehr arbeiten und sie bekommen auch kein Geld mehr, erklärte Gesundheitsminister Véran.

Präsident Macron kündigte in seiner Rede an, dass das Einhalten der Impfpflicht für das Pflegepersonal kontrolliert werde und Verstöße bestraft würden. Das ist, wie man aus Erfahrung mit bisherigen Kontrollen zur Einhaltung von Corona-Maßnahmen in Frankreich schließen kann, kein Lippenbekenntnis, sondern ein ernsthaft verfolgtes Druckmittel. In den vergangenen Monaten tauchten verschiedentlich Meldungen auf, die auf eine auffällige Ablehnung der Impfung durch das Pflegepersonal hindeuteten. Dann hieß es wieder, die Sache sei geklärt.

... und die andere Seite der Geschichte

Ob sie nun mit der Impfpflicht geklärt ist? Erste Reaktionen von Ärzten und Klinikleitungen, wie sie von französischen Medien übermittelt werden, sind im Tenor eher positiv. Anzumerken ist allerdings, dass es unter dem Personal auch abweichende Haltungen gibt. Die Entrüstung einer Krankenschwester, deren Video derzeit in vielen Medien kursiert, ist kein "Einzelfall".

Dazu kommt das große Personalproblem: Erschöpfung. So berichtete der Leiter einer Intensivstation Anfang der Woche, dass mittlerweile 40 Prozent des Personals gekündigt habe - wegen der Arbeitsbedingungen. Manche sprechen von einer Kündigungswelle.

Die Impfpflicht für das Pflegepersonal macht dennoch Schule. Großbritannien will sie nun ebenfalls einführen und auch in Deutschland werden solche Pläne geäußert.

Die "verschleierte Impfpflicht"

Die ausgeprägtere Kontroverse dreht sich um die zweite Neuerung, was eingangs als "kalte Impfpflicht" bezeichnet wurde. In Frankreich kursiert dazu der Begriff "verschleierte Impfpflicht".

Gemeint ist damit der Zwang, demnächst einen Gesundheitspass ("passe sanitaire") vorzuzeigen, um in ein Café zu gehen, was auch den Außenbereich einschließt, oder in ein Restaurant, ein Einkaufszentrum zu besuchen, kulturelle Veranstaltungen, die für mehr als 50 Besucher konzipiert sind, worunter auch Kino-, Konzert und Theaterbesuche fallen, sowie längere Reisen mit Bus und Bahn.

Der "passe sanitaire" verlangt nicht ausschließlich den Nachweis einer Zweifach-Impfung. Für Genesene einer Covid-Erkrankung genügt eine Impfung und es gibt spezielle Fälle, in denen ein medizinisches Attest vorgelegt werden kann, z.B. ein "Covid-19 Genesungszertifikat", das zeigt, dass die Infektion weniger als sechs Monate alt ist. Der Pass wird auch ausgestellt, wenn ein aktueller negativer Test vorliegt.

Allerdings hat Macron angekündigt, dass die Tests bald kostenpflichtig sein werden. Das genaue Datum steht noch nicht fest. Sicher ist, der Druck, sich impfen zu lassen, mit der Beschränkung von kostenlosen Testmöglichkeiten. Das ist Absicht.

Wir müssen uns für die Impfung aller Franzosen einsetzen, denn das ist der einzige Weg, um zum normalen Leben zurückzukehren.

Emmanuel Macron

Noch ist nicht sicher, welche Tests anerkannt werden - ob dies etwa auch für Schnelltests gilt, die zu Hause durchgeführt werden. Das ist nur eine von vielen Fragen, die mit der versteckten Impfpflicht aufgeworfen werden.

Die Jugendlichen

Wie heikel die Idee ist, mit der generellen Zwangseintrittskarte "Gesundheitspass" Impfpolitik zu machen, schwant auch der Regierung. Gestern Abend präzisierte Gesundheitsminister Véran, dass sich Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren "schnell" impfen lassen sollten, dass sie aber bis zum 30. August an Orten, an denen der Gesundheitspass ab dem 21. Juli vorgeschrieben ist, davon befreit sind.

Ab dem 21. Juli wird der Gesundheitspass zur unbedingten Eintrittskarte für kulturelle und Freizeitveranstaltungen, die eine Teilnehmerzahl von über 50 haben.

Der Druck auf die Jugendlichen, sich impfen zu lassen, wird also auf die Zeit kurz vor Schulbeginn verlagert. Man kann damit rechnen, dass er sich zum Schulbeginn noch einmal deutlich erhöht. Das könnte noch eine interessante Diskussion ergeben, weil man bisher noch kaum die Nebenwirkungen der Impfungen auf Jugendliche zum Thema gemacht hat.

Dass die Nebenwirkungen, wenn es um Impfungen der Altersgruppe Unter-18 geht, bei der Risikoabwägung eine bedeutende Rolle spielen, zeigt sich allein schon daran, dass die Stiko in Deutschland und das Joint Committee on Vaccination and Immunisation (JCVI) in Großbritannien trotz des wachsenden politischen Drucks bislang noch keine Empfehlung abgegeben haben, 12-bis 17-Jährige in eine Impfkampagne einzuschließen.

Die Jugendlichen sind derzeit zu Haupt-Adressaten von Impfforderungen geworden. Weil sie, wie es etwa in Deutschland das Papier des RKI zeigt, miteinkalkuliert werden, um einen möglichst hohen Prozentsatz an Durchgeimpften zu erreichen, damit eine effektive Abwehrmauer gegen die Infektionen mit der Delta-Variante steht. Man glaubt diese mit einer Impfkampagne, die mögliche Nebenwirkungen (Herzmuskelentzündung: EMA sieht Zusammenhang mit Impfung) - bei der Impfung von Jugendlichen - als nebensächlich behandelt, aufbauen zu können.

Das ist ein Fokus, der von anderen neuralgischen Punkten ablenkt.

Die Bewohner von ärmeren Wohngegenden

So zeigt sich in Frankreich beispielsweise, dass die Risikogruppen der Bewohner von prekären Wohngebieten etwa im Großraum Paris zu denen gehören, die hohe Infektionszahlen haben, häufiger schwere Krankheitsverläufe und zugleich eine niedrige Impfquote.

Die Erfahrung zeigt, dass es viel Überzeugungsarbeit braucht und eine angepasste Infrastruktur, um dort eine erfolgreiche Impfkampagne durchzuführen. Kostenpflichtige Tests sind in den Vororten und ärmeren Wohngegenden ebenfalls ein Problem.

Die Spaltung

Das ist nur ein Ausschnitt der Kritik an der kalten Impfpflicht der Regierung, die über einen Schleichweg generalisieren will, was nicht ohne größere Schäden zu generalisieren ist. Statt sich bei der Impfung zunächst hauptsächlich auf Risikogruppen zu konzentrieren, wird durch die allgemeine Erfordernis, einen "Gesundheitspass" für Café-Besuche, Veranstaltungen und Reisen vorzuweisen, die Spaltung in der Bevölkerung vertieft. Diesmal in Ungeimpfte und Geimpfte. Diese Spaltung kommt zu anderen hinzu, die schon schwere Zerreißproben darstellen.

Dass man sich nicht mehr "einfach so" auf eine Café-Terrasse setzen kann oder zusammen ins Kino gehen, ist ein bedeutender Eingriff ins soziale Leben, das Verständigungen über Lager hinweg ermöglicht.

Dass es - wie es etwa ausführlich bei Mediapart, einem Medium, das links von der Mitte positioniert ist, geschildert wird - bedeutende rechtliche Beschränkungen für eine Impfpflicht gibt, hat gute Gründe. Das weiß auch die Regierung. Und Macron weiß auch, dass die Verpflichtung zu einem Gesundheitspass ethisch und rechtlich problematisch ist.

"Der Gesundheitspass wird nie ein Zugangsrecht sein, das die Franzosen gegeneinander abgrenzt. Für den Zugang zu Orten des täglichen Lebens wie Restaurants, Theatern und Kinos oder für den Besuch von Freunden ist er nicht zwingend erforderlich", erklärte er noch im April dieses Jahres.

Auf der Website der Regierung stand eine gleichlautende Erklärung ("Nein, der Gesundheitspass ist nicht verpflichtend. Er darf kein Zugangsrecht sein, das die französischen Bürger gegeneinander abgrenzt.") Inzwischen wurde sie gelöscht.