Nord Stream 2: Die Suche nach dem "Hebel gegen Russland" und das Klima

Die Gaspipeline war seit Jahren ein geopolitischer Zankapfel: Bauteile im Hafen von Mukran im Herbst 2020. Foto: © Pedant01 / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Deutschland und die USA einigen sich im Streit um die Gaspipeline und wollen die Ukraine vor dem Bankrott retten. Doch das dürfte schwer werden

Deutschland und die USA haben sich im Konflikt um die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 geeinigt. Doch die Einigung ruft von verschiedenen Seiten enorme Kritik hervor: Die Außenministerien Polens und der Ukraine bezeichneten sie in einer gemeinsamen Erklärung als eine "politische, militärische und energietechnische Bedrohung für die Ukraine und Mitteleuropa".

Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis nannte sie einen Fehler, der "uns teuer zu stehen kommen" wird. Der Fehler könne behoben werden, wenn die Pipeline als Hebel gegen Russland eingesetzt werde. So könnte der Abzug russischer Truppen aus der Ukraine gefordert werden. Dem Land könne auch die Aussicht auf eine Nato-Mitgliedschaft gemacht werden - als Vorbedingung dafür, dass die Gasleitung in Betrieb genommen werden kann.

Grüne Prioritäten: nicht nur Klimaschutz, sondern vor allem Geopolitik

"Ich halte diese Pipeline nach wie vor für falsch, aus klimapolitischen Gründen, aber vor allem auch geostrategisch", sagte die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, am Donnerstag. Zuvor hatten ihre Fraktionskollegen Oliver Krischer und Manuel Sarrazin die Einigung kritisiert. Sie sei ein herber Rückschlag für den Klimaschutz, behaupteten beide. "Die Bundesregierung hat damit vor allem die Laufzeitverlängerung fossiler Infrastruktur besiegelt." Die Grünen nennen allerdings in ihrem Wahlprogramm selbst keinen konkreten Zeitpunkt, bis zu dem Deutschland klimaneutral sein soll - womöglich, weil sie eine Koalition mit den Unionsparteien nicht ausschließen.

Der Gasbedarf Europas

Ein stark beschleunigter Ausbau der Erneuerbaren Energien wäre mit solchen Regierungsbündnissen nicht zu erwarten. So gesehen dürfte die Prognose zutreffen, dass die Europäische Union in den nächsten Jahren auf größere Gasimporte angewiesen wäre. Das legt zumindest eine Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom April nahe.

In dem Papier heißt es: "Die Gasförderung in Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden und Deutschland hat sich zwischen 2009 und 2019 um mehr als die Hälfte auf 76,2 Milliarden Kubikmeter pro Jahr reduziert". Das Gasfeld Groningen in den Niederlanden werde im nächsten Jahr sogar die Förderung einstellen. Insgesamt sei die Förderung innerhalb der EU stärker zurückgegangen, als frühere Prognosen nahelegten.

Für 2020 hatte man Importe von insgesamt 376 Milliarden Kubikmetern prognostiziert (für die EU-28, die Schweiz und für die Versorgung der Ukraine); dieser Wert sei aber schon 2019 mit 407 Milliarden Kubikmetern übertroffen worden. 170 Milliarden Kubikmeter davon hat Russland geliefert.

In Zukunft wird sich an der Rolle Russlands für die Energiesicherheit Europas nicht viel ändern, ist sich die SWP sicher: "Künftig wird der europäische Bedarf überwiegend durch Pipelinegas aus Russland und durch LNG, hauptsächlich aus den USA, aus Russland und aus Katar gedeckt werden müssen, da die heimische, die algerische und auch die norwegische Förderung sinken bzw. abflachen werden. Einzig das LNG-Angebot aus Katar wird sich nach 2025 auf dem Weltmarkt signifikant erhöhen, von 110 auf 152 Milliarden Kubikmeter pro Jahr".

Ende 2019 hatten die Ukraine und Russland eine Vereinbarung über den Gastransit getroffen. Diese sichert der Ukraine bis 2024 Einnahmen aus dem Gastransit in Höhe von 7,2 Milliarden Euro über den gesamten Zeitraum. Bei der Vereinbarung handle es sich um "eine stabile und verbindliche Grundlage", die auch mit den Regeln der EU konform gehe, heißt es bei der SWP.

Auslastung der Gasleitung

Nun hat sich die Bundesregierung gegenüber den USA dazu verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Vereinbarung um weitere zehn Jahre verlängert wird. Das Wall Street Journal hatte am Mittwoch berichtet, der Ukraine sollen dadurch jährlich drei Milliarden US-Dollar an Transiteinnahmen zufließen. Das Bundesaußenministerium wollte diesen Punkt auf Anfrage nicht bestätigen, dementierte ihn aber auch nicht. Auch zu der Frage, was die Bundesregierung tun wolle, sollte es zu keiner entsprechenden Übereinkunft zwischen Russland und der Ukraine kommen, verwies das Ministerium lediglich auf den Text der gemeinsamen Erklärung.

Sollte der Bericht des Wall Street Journals zutreffend sein, dann dürfte das der Bundesregierung in den nächsten Jahren einiges Kopfzerbrechen bereiten. Denn diese Transiteinnahmen ließen sich nur erzielen, wenn der Durchfluss durch die Ukraine wieder erhöht wird oder wenn die Preise steigen. Ersteres scheint unwahrscheinlich, das Zweite dürfte den Transit wirtschaftlich unattraktiv machen. Für das Jahr 2020 hatte Gazprom Transportkapazitäten von 65 Milliarden Kubikmetern gebucht, für die Jahre 2021 bis 2024 dagegen nur noch jeweils 40 Milliarden Kubikmeter.

Für diese Mengen muss Gazprom zahlen unabhängig davon, ob das Unternehmen auch diese Mengen Gas durch die Röhren schickt. Das ist über die im Gasgeschäft üblichen "take or pay"-Klauseln geregelt. Die Kosten in der Ukraine liegen "um einiges höher als auf den Konkurrenzrouten Jamal-Europa oder der Nord Stream 1, da das Leitungssystem der Ukraine auf höhere Volumina ausgelegt ist", heißt es in der SWP-Analyse.

Die Stiftung geht davon aus, dass künftig kaum mehr als die bisherigen 40 Milliarden Kubikmeter Transportkapazitäten benötigt werden. Das liege einerseits daran, dass nun ein Teil des europäischen Bedarfs über die Pipeline Turkstream gedeckt wird. "Seit Januar 2021 können darüber mindestens 6 Milliarden Kubikmeter jährlich durch Bulgarien, Griechenland, Nordmazedonien und ab Oktober nach Serbien geliefert". Die Mengen, die Gazprom im letzten Jahr noch über die Ukraine nach Rumänien und Ungarn geliefert habe, könnten nun auch aus der TurkStream über die Trans-Balkan geliefert werden.

Ein weiterer Grund ist die Trans Adreatic Pipeline (TAP), die im Dezember ihre Lieferungen von aserbaidschanischem Gas durch Griechenland und Albanien nach Italien aufnahm. Es ist auch geplant, dass künftig über diese Leitung auch ein Drittel des bulgarischen Bedarfs gedeckt wird. Hinzu kommen noch verschiedene Terminals, über die Südeuropa mit verflüssigtem Gas (LNG) bedient werden kann. Zu nennen sind die Anlagen im griechischen Revithoussa und im kroatischen Krk. Weitere Anlagen sollen in den nächsten Jahren ihre Arbeit aufnehmen. Die SWP geht davon aus, dass dann nur noch ein Teil des Bedarfs für Südeuropa über die Leitungen in der Ukraine gedeckt werden müsste.

Eine zeitnahe Verlängerung des Transitabkommens ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil die Gastransporttarife für die nächste Regulierungsperiode (2025 bis 2029) noch nicht festgelegt wurden. Die Nationale Regulierungsbehörde der Ukraine (NEURC) beschließt diese voraussichtlich erst im Jahre 2024. Von Gazprom zu erwarten, jetzt schon Kapazitäten zu reservieren, ohne die Tarife zu kennen, sei schwer vorstellbar, heißt es in dem SWP-Papier weiter.

Aufbau erneuerbarer Energien

Die Regierungen Deutschlands und der USA haben sich in ihrer gemeinsamen Erklärung dazu verpflichtet, in der Ukraine und in anderen Ländern in Mittel- und Osteuropa die Energiewende voranzutreiben. Das beinhaltet für die Ukraine den Aufbau eines Grünen Fonds, der über mindestens eine Milliarde US-Dollar verfügen soll. Darüber hinaus will die Bundesregierung weiterhin "bilaterale Energieprojekte mit der Ukraine fördern, insbesondere im Bereich der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz sowie der Unterstützung für den Kohleausstieg". Eigens dafür soll ein Sondergesandter eingesetzt werden.

Grundsätzlich neu sind diese Gedanken für die Bundesregierung nicht. Die Ukraine hat in den Plänen einen festen Platz, nach denen die Europäische Union mit "grünem" und mit "kohlenstoffarmen" Wasserstoff versorgt werden soll. Eigens dafür hatte die Bundesregierung im August letzten Jahres eine Energiepartnerschaft mit der Ukraine geschlossen. Das hat die Regierung in Kiew so euphorisch gemacht, dass sie in fünf bis zehn Jahren "Europas Wasserstofflieferant Nummer eins" sein will. So hatte es jedenfalls Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Berlin, im Februar erklärt.

Allerdings birgt dieses Vorhaben enorme Schwierigkeiten und es wird sich zeigen müssen, ob die Ukraine nicht zu einem Fass ohne Boden wird. Denn das Energiesystem der Ukraine ist "nicht in der Lage, auch nur genug preisgünstigen Strom für die Produktion des zu exportierenden Wasserstoffs bereitzustellen, geschweige denn aus erneuerbaren Quellen", heißt es in einer Analyse des Tagesspiegels Dafür müsste das Land erst seinen Strommarkt tiefgreifend reformieren.

Die Ukraine hat demnach gleich mit mehreren Problemen zu kämpfen. Einmal sind die Kraftwerke des Landes alt, erreichen bald das Ende ihrer Lebensdauer oder haben dieses längst überschritten. Um diese zu erneuern und die einheimische Stromnachfrage decken zu können, muss viel investiert werden. Das führt zum nächsten Problem: Der Bau neuer Anlagen, vor allem von Anlagen der erneuerbaren Energien, ist in der Ukraine sehr teuer. In der Vergangenheit wurde bei den erneuerbaren Energien ein großer Schuldenberg aufgetürmt. Die Heinrich-Böll-Stiftung bezifferte ihn im März auf knapp eine Milliarde Euro.

Das Land wird darüber hinaus selbst große Mengen Wasserstoffs und regenerativer Energien benötigen. Die Stahlproduktion ist eine Kernindustrie des Landes und trägt mehr als zehn Prozent zur Wirtschaftsleistung bei; Stahl macht ein Viertel der Exporte des Landes aus. Aber die Branche muss selbst dekarbonisiert werden, zumal jetzt bei Importen in die EU eine CO2-Grenzabgabe entrichtet werden muss.

Der Ausbau der Wasserstoffwirtschaft könnte dazu führen, dass in der Ukraine die Strompreise für die Bevölkerung durch die Decke gehen. Als Grund dafür gibt der Tagesspiegel die wenigen einflussreichen Unternehmen an, die den ukrainischen Strommarkt kontrollieren. "Diese könnten zwar davon profitieren, ihren Strom in Form von Wasserstoff an betuchte Deutsche zu verkaufen anstatt ihren eher armen Landsleuten", heißt es im Tagesspiegel. Die Folge davon dürften höhere Strompreis "zum Nachteil einkommensschwacher Ukrainer" sein.

Ohne ausländische Investitionen wird es die Ukraine kaum schaffen, den Energiesektor zu reformieren. Doch in der Vergangenheit zeigte sich: Das Land verspielt seine Gunst bei den Investoren der erneuerbaren Energien.

Umweltschutz steht auch nicht mehr auf der nationalen Agenda: Im März 2020 wurde "Umweltschutz" aus den Zielen des Ministeriums für Energie und Umweltschutz gestrichen. Seitdem wechselte vier Mal der Minister, zwei von ihnen kamen direkt aus den Chefetagen der größten Kohlekonzerne DTEK und Donetzkwugillja, heißt es bei der Böll-Stiftung. Die erneuerbaren Energien seien der neuen Politik zum Opfer gefallen. Gleichzeitig wurden die Steuern und Pachtgebühren für Ölförderung gesenkt, Fracking-Öl und Gas erhielten die höchste Priorität. Ausländische Unternehmen hatten über zehn Milliarden Euro in die grünen Energien der Ukraine investiert.

Doch die Regierung des Landes sah sich nicht in der Lage, ihnen die gesetzlich garantierte "Einspeisevergütung" zu zahlen. Mitte November 2020 protestierten die Botschafter von elf Ländern und forderten die Rückzahlung der aufgelaufenen Schulden.

Bis zum Februar 2021 war die Angelegenheit nicht geklärt und zu diesem Zeitpunkt bestand auch wenig Hoffnung darauf. Die Heinrich-Böll-Stiftung hielt resigniert fest: "Wichtig bleibt, dass die chaotischen Maßnahmen von Selenskyj und seiner Regierung mit ihren ständigen Versuchen, unseriöse und korruptionsträchtige "Winkelzüge" zu vollziehen, anstatt vernünftige Energiepolitik zu machen, den Ruf der Ukraine in den Augen vieler internationaler und privater Akteure für Jahre ruiniert haben. Eben dieser Schaden, und nicht der milliardenschwere Schaden bezüglich des Erneuerbare Energien-Sektors, ist das schlimmste Ergebnis der verantwortungslosen und fachfremden Politik der Selenskyj-Regierung."