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Während manche hierzulande von Diktatur faseln, wird unser Korrespondent in China tatsächlich von einer Corona-App umfassend überwacht. Ein Kontrollbericht

Mein Leben in Peking wird jetzt von einer App bestimmt: Ist sie gnädig, darf ich mich mit Freunden in einem Café treffen oder im Shoppingcenter einkaufen gehen. Dazu muss ich jedes Mal am Eingang mit meinem Smartphone einen Code scannen und darauf hoffen, dass auf dem Display die grünen Schriftzeichen erscheinen: "Kein abnormaler Zustand." Kein Corona also.

Ohne diese App kann ich nicht mehr zum Bäcker gehen, nicht mehr zur Bank und auch nicht in die meisten Restaurants. Ich kann nicht mit dem Zug fahren oder ein Flugzeug besteigen. Gerate ich in eine Polizeikontrolle oder checke in einem Hotel ein, wird mit Sicherheit von mir verlangt, die App vorzuzeigen. Beinahe über Nacht hat sich China dem Urteil eines Algorithmus unterworfen, der unbarmherzig Türsteher spielt.

Vor ein paar Tagen traf es mich: Ich war zum Frühstück in einem Hotel verabredet. Der Portier maß zuerst meine Temperatur. 36,1 Grad. "Und jetzt noch rasch die App", sagte er. Ich zog mein Handy hervor und scannte den Code, der auf ein Stück Pappe gedruckt worden war. Diesmal erschienen keine grünen Schriftzeichen, sondern gelbe: "Beobachtung zu Hause", zeigte die App an. Der Portier guckte betroffen. Nach ein paar Sekunden sagte er: "Sorry, leider kann ich Sie nicht reinlassen." Mir blieb nichts anderes übrig, als den Termin abzusagen und nach Hause zu laufen.

Wer nicht einverstanden ist, soll unter 12345 den Bürgermeister anrufen

Hatte ich etwa Corona? Unmöglich: Mein letzter Test lag erst eine Woche zurück, er war negativ. Und offiziell gab es seitdem keine Neuansteckungen in Peking. Wer mit dem Urteil der App nicht einverstanden ist, kann die Hotline des Pekinger Oberbürgermeisters anrufen. Die Nummer ist recht einprägsam: 12345. Leider habe ich noch niemanden getroffen, der jemals durchgekommen wäre, auch bei mir war die Leitung ständig besetzt. Am nächsten Tag zeigte meine App wieder Grün an, als wäre nichts gewesen. Ein Programmierfehler? Oder war es Absicht?

Die erste Version der App kam am 9. Februar auf den Markt, keine drei Wochen nachdem die chinesischen Behörden die Millionenstadt Wuhan abgeriegelt hatten. Die Idee: Ein digitales Gesundheitszertifikat, das entweder mit Alipay, dem Bezahldienst des Internetgroßhändlers Alibaba, verknüpft ist oder mit Wechat, dem wichtigsten Messenger des Landes. Anfänglich ging es vor allem darum, Reiseinformationen zu sammeln: Wer war in Wuhan, dem Ursprungsort des Virus? Grün bedeutet seitdem, dass man sich frei bewegen darf. Gelb: Quarantäne. Und Rot: Man hat ziemlich sicher Corona.

Auch in Deutschland wird viel darüber diskutiert, wie eine Tracing-App funktionieren könnte, nämlich anonym und freiwillig. Daten sollen ausschließlich gesammelt werden, um "die Nutzer wissen zu lassen, ob sie in engem Kontakt mit anderen, bereits infizierten Nutzern standen - ohne die jeweilige Identität zu offenbaren", heißt es in einer Selbstverpflichtung der beteiligten Konzerne. In China dagegen bin ich nachgerade gläsern.

Die App weiß sehr viel über mich: Name, Passnummer, Foto. Sie weiß, wo ich mich aufhalte, mit welchem Schnellzug ich gefahren bin, ja sogar auf welchem Sitzplatz ich gesessen habe. Wann und wie oft ich mich einem Corona-Test unterzogen habe (drei Mal in den vergangenen vier Wochen - immer negativ). Auf welche anderen Daten die App sonst noch zugreift, welche Informationen sie an wen und wie regelmäßig übermittelt, kann ich nur erahnen. Die App ist jedenfalls sehr aktiv. Ständig ist der Akku meines Smartphones leer.

Die Corona-Krise hat die Führung in Peking genutzt, um die ohnehin schon recht üppige Überwachung in China noch einmal kräftig auszubauen auf dem Weg zur Digitaldiktatur. Erst die Internetzensur, nun hat sich das ganze Land eine Überwachungsapp auf dem Handy installiert. Bis vor ein paar Wochen wäre das noch undenkbar gewesen, wobei man es hätte ahnen können.

In der Region Xinjiang, im Nordwesten Chinas, an der Grenze zu Kasachstan, hat der Staat ein gewaltiges Labor für Datenexperimente errichtet. Alles, was technisch machbar ist, wird dort an den Uiguren, einer muslimischen Minderheit, ausprobiert. Überwachungsdrohnen, Gesichtserkennung, Spyware. An Tankstellen in Xinjiang bekommt man nur Benzin, wenn man vorher sein Gesicht hat einlesen lassen. Bei Straßenkontrollen überprüft die Polizei das Smartphone, die Daten werden ausgelesen; jeder muss eine App installiert haben, die feststellt, ob man verbotene Videos angesehen hat.

"Ziel ist der vorauseilende Gehorsam"

Wer einen verschlüsselten Messenger wie etwa Whatsapp auf sein Smartphone geladen hat, muss damit rechnen, in einem der vielen Umerziehungslager zu verschwinden. Als einer der Ersten hat der Forscher Adrian Zenz den Aufbau dieses Überwachungsstaates in Xinjiang beschrieben: "Ziel ist der vorauseilende Gehorsam der Bürger, die Internalisierung der Kontrolle, die Selbstzensur." Nun erreicht sie - beschleunigt von Corona - den Rest des Landes.

Für den Sicherheitsapparat ist das Virus beinahe ein Himmelsgeschenk. Den Behörden geht es darum, die Kontrolle in die Köpfe der Menschen zu verlagern, es soll eine Gesellschaft entstehen, die sich selbst reguliert. Ein System, das zu seinem Machterhalt keine Hundertschaften der Polizisten mehr braucht, weil alle sich von alleine zensieren: Ich weiß, dass ich überwacht werde, also verhalte ich mich regelkonform. Und wem der Staat nicht traut? Ein Klick im Rechenzentrum genügt künftig, schon zeigt die App Gelb statt Grün an. Keine Reisen mehr, keine Restaurantbesuche, sondern Hausarrest.

Die meisten Chinesen scheinen die neue Diktatur der App zu akzeptieren, soweit man das überhaupt beurteilen kann. Keine Corona-Demonstrationen wie in Deutschland. Schon gar keine Transparente, auf denen Parteichef Xi Jinping oder Ministerpräsident Li Keqiang als Autokraten bezeichnet werden. Niemand, der "Freiheitsberaubung" oder "Diktatur" skandiert, wie an diesem Wochenende wieder in München, Stuttgart oder Berlin. In Deutschland ist das völliger Quatsch, in China wäre Protest tatsächlich angebracht, aber natürlich auch weitaus gefährlicher als hier.

Der Führung in Peking ist es in den vergangenen Wochen gelungen, einen neuen Deal auszuhandeln, der den alten Gesellschaftspakt zwischen der Kommunistischen Partei und der chinesischen Bevölkerung ersetzt. Bis Ende Januar, bis zur Abriegelung Wuhans, galt: Die Regierung sorgt dafür, dass die Wirtschaft rasant wächst, im Gegenzug mischen sich die Chinesen nicht in die Politik ein. Nun schrumpft die Wirtschaft, eigentlich müsste die Legitimation ins Wanken geraten, das Gegenteil ist aber der Fall.

Der Apparat verspricht jetzt Sicherheit anstelle von Wachstum. China sei das einzige Land, das das Coronavirus niedergerungen habe, der einzige Staat, der seinen Bürgern Schutz vor dieser heimtückischen Krankheit biete. Die Welt hustet und fiebert, nur China nicht.

Damit das auch so bleibt, ist im Kampf gegen das Virus jedes Mittel recht. Die Landesgrenzen sind dicht, pro Tag landen in ganz China nur noch gut 20 Flugzeuge aus dem Ausland. Und jeder, der aussteigt, muss in Quarantäne. Wochenlang. Noch mehr Kontrolle für den Staat.

Ich habe in diesem Jahr mehr als einen Monat in Isolation verbracht. Bis vor Kurzem galt: Wer Peking verlässt, muss danach für zwei Wochen in Quarantäne. Aus kurzen Dienstreisen wurden langwierige Expeditionen. Normalerweise hätte ich Mitte April drei, vier Tage in Wuhan verbracht, es wurden zwölf. Wer nach Peking zurück möchte, muss nämlich erst einen Antrag stellen - natürlich per App -, sich dann einem Corona-Test unterziehen und vor allem warten. Nach zehn Tagen bekam ich endlich eine SMS von der chinesischen Eisenbahnverwaltung, mit der Erlaubnis, ein Ticket zu buchen.

Unterwegs maß der Schaffner gleich zwei Mal Fieber, in Peking erwarteten mich in ABC-Schutzanzüge gehüllte Beamte, bis zur Wohnungstür wurde ich begleitet. 14 Tage durfte ich nicht aus dem Haus. Keine Jogging-Runde, kein Einkaufen. Stattdessen: Bücher, Crosstrainer, Fernseher. Meine Lebensmittel orderte ich online, ein Bote legte alles vor dem Eingang ab.

Bestellte ich mein Mittagessen, lag der Lieferung ein Zettel bei, vermerkt darauf der Name des Kochs und seine Körpertemperatur. Die Daten des Kellners. Und schließlich die des Fahrers, der auf seinem Elektrorad mein Essen gebracht hatte. Zwei Mal am Tag musste ich selbst Fieber messen. Bei mehr als 37,3 Grad Körpertemperatur wurde empfohlen, dass ich mich per Krankenwagen in eine Klinik bringen lasse.