Corona-Krise in Tunesien: Robocops Einsatz

Der tunesische Präsident Kaïs Saïed. Bild (2019): Houcemmzoughi/CC BY-SA 4.0

Der Präsident entmachtet die Regierung und schließt das Parlament für 30 Tage

Die Corona-Krise ist eine gute Gelegenheit für Politiker, die an der Macht sind, sie mit autoritären Mitteln auszubauen, heißt es. Nicht selten setzt es hierzulande gereizte Reaktionen auf diese Behauptung. Es gehe den Regierenden doch vor allem um den Schutz der Gemeinschaft und in besonderen Notfällen seien besondere Maßnahmen angebracht.

Tunesien ist aktuell ein solcher besonderer Fall. Präsident Kaïs Saïed hat die Regierung entmachtet, den Premierminister und dazu zwei weiter Minister entlassen und das Parlament aufgelöst. Das bewacht nun die Armee.

Kaïs Saïed beschloss, den Regierungschef Hichem Mechichi zu entlassen, die Arbeit des Parlaments für dreißig Tage auszusetzen und die parlamentarische Immunität der Abgeordneten aufzuheben, während er die Leitung der Staatsanwaltschaft übernahm. Das sind spektakuläre Ankündigungen, die das Land spalten und die junge tunesische Demokratie ins Ungewisse stürzen.

Le Monde

Die Corona-Krise, die vielen Corona-Toten im Land, haben bei diesem autoritären Vorgehen eine Rolle gespielt. Das sei ein akuter Trigger gewesen, heißt es etwa in einer Analyse des US-Think Tanks Middle East Institute (MEI).

Das Gesundheitsministerium gab bekannt, dass bei 17.694 Tests am 23. Juli 5.359 Fälle von Coronavirus-Infektionen festgestellt wurden, was einer Positivrate von 30,29 Prozent entspricht. Darüber hinaus wurden am selben Tag 231 neue Todesfälle registriert, sodass die Zahl der Todesopfer seit Beginn der Pandemie auf 18.600 gestiegen ist. (Die Einwohnerzahl von Tunesien wurde 2020 auf rund 11,9 Millionen geschätzt, Anm. d. Verf.).

webdo.tn

Aber, was man zu Beginn der Corona-Pandemie, in den ersten Analysen oft lesen konnte, dass die Pandemie sich auf Krisen und Probleme setzt und sie verstärkt, gilt auch für den besonderen Fall Tunesien.

Dort bekommt das autoritäre Durchgreifen Kaïs Saïeds - das nicht nur von politischen Gegnern als "Putsch" bezeichnet wird - besonders bei Jüngeren Beifall. Die Entmachtung der Regierung wurde von ihnen gefeiert, wie das MEI pathetisch berichtet:

Der Präsident (…) stellte die vielen zufrieden, die anschließend in der Nacht auf die Straßen strömten, um zu feiern. Dass so viele zu Beginn des Tages der brütenden Hitze (über 40 Grad Celsius) trotzten, sich gewalttätigen (und manchmal tödlichen) Polizeikräften entgegenstellten und sich den Transport- und Reisebeschränkungen der Regierung widersetzten, waren alles Zeichen eines Volkes, das schon lange die Geduld mit den Regierenden verloren hat.

MEI

Eine Erklärung für die, die nun die autoritären Maßnahmen des Präsidenten feiern, wäre die weitverbreitete Korruption, die schon lange ein Problem im Land ist. Die Folgen der Misswirtschaft werden nun durch die Pandemie bloß gelegt. Das Gesundheitssystem ist überlastet, die Krankenhäuser überfüllt, es fehlt an Sauerstoff - man bräuchte 240.000 Liter, produziert aber nur 100.000, wie Le Monde am Sonntag berichtete. Dort heißt es, dass die Delta-Variante in Tunesien besonders üble Wirkungen zeigt.

"Das Durchschnittsalter auf der Intensivstation liegt zwischen 40 und 50 Jahren, insbesondere bei der Delta-Variante. Sobald ein Platz frei wird, kommt ein neuer Patient", wird eine Anästhesistin zitiert. Im letzten Jahr habe Tunesien noch wenige Fälle von Covid-19 aufgewiesen. Jetzt habe das Land nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation "die höchste Todesrate in Afrika und der arabischen Welt", so die französische Zeitung: "Diese neue Welle - die vierte seit Ausbruch des Virus - verursacht täglich 150 bis 200 Todesfälle."

Die Regierung kam in die Kritik. Der Wirtschaft geht es schon lange schlecht, darunter leiden besonders die Jüngeren, deren Perspektive sich in den Jahren seit den Aufständen, bei der die Jugend eine maßgebliche Rolle spielte, nicht wirklich verbessert haben (Tunesien: Ein Großteil der Jugend "hat die Nase voll" und will raus, und im Jahr 2018 erneut: Proteste und Unruhen in Tunesien).

Die Corona-Krise hatte den Tourismus, eine der Haupteinnahmequellen des Landes, im letzten Jahr schwer getroffen. Dieses Jahr wollte man es besser machen. Doch agierte die Regierung in der Darstellung des Internetmagazins nawaat.org unglücklich oder ungeschickt, weil sie den Aufforderungen der Tourismusfachleute zur "Rettung der Saison" zu sehr nachgegeben habe. Damit sei die "Seuchensituation ist außer Kontrolle geraten", was dann dazu führte, dass Tunesien aus "den Sommerreisezielen verbannt" wurde.

Nach außen gilt Tunesien als einziges Land, das aus den Aufständen von 2011, oft "arabischer Frühling" genannt, als demokratisches Beispiel hervorging, wie dauernd zu lesen war. Zwar gab es wirklich sehr große Schwierigkeiten (dass aus Tunesien Tausende nach Syrien gingen, um beim Dschihad mitzumachen, signalisiert ein Teil dieser Schwierigkeiten) und es gab große Probleme mit Islamisten, aber eine Entwicklung Richtung autoritärer Staat wie etwa in Ägypten schlug bisher nicht durch.

Demokraten, Progressive, Islamisten und autoritäre, polizeistaatliche Reaktionäre

Dass demokratische Grundrechte intakt und lebendig blieben, verdankt das Land zu großen Teilen einer starken Zivilgesellschaft. Tunesien galt früher als Exempel der arabischen Moderne, das Bildungsniveau ist vergleichsweise hoch, es gibt zahlreiche Intellektuelle, die sich einen Namen machten. Daneben gibt es aber eine starke ultrakonservative Basis im Land. So zeigt der genauere Blick auch, warum es nur zu Platz 54 im Demokratie-Index reicht: "Demokraten und Progressive sehen sich Islamisten gegenüber sowie autoritären, polizeistaatlichen Reaktionären, die vordergründig laizistisch sind", so das Fazit von Bernard Schmid im September 2020: Tunesien: Das politische Kräftespiel und der Auswanderungsdruck.

Und nun dies: Auflösung der Regierung und des Parlaments durch den Präsidenten. Die Regierungen in Deutschland und die USA äußerten besorgt.

Der Mann mit dem Spitznamen Robocop, der im Oktober 2019 zum Präsidenten Tunesiens gewählt wurde, ist ein parteiloser Politiker, ultrakonservativ (siehe das Porträt des widersprüchlichen, schwer einzuordnenden Überraschungssiegers der Präsidentschaftswahlen hier: Politisches Erdbeben in Tunesien). Bei manchen politischen Fragen, zum Beispiel, wenn es um Homosexualität geht, ist er nahe an islamischen Konservativen, in anderen Punkten geht er wieder auf Abstand - weshalb die islamistische Partei Ennahda nicht zufällig so schnell mit dem Vorwurf kam, dass es sich bei seiner Aktion um einen Staatsstreich handele.

Es fällt aber auch auf, dass der Jurist ein Experte auf dem Gebiet des Verfassungsrechts ist und es von ihm heißt, dass er ein streng-treuer Vertreter der kodifizierten Vorgaben ist. So reklamiert Kaïs Saïed denn auch, dass er rechtens, verfassungsgemäß handele, wobei er sich auf den Artikel 80 der Verfassung beruft. Seine Positionen sind jedoch umstritten, auch unter Juristen-Vereinigungen.

Er demonstriere nun Dialogbereitschaft, berichtet Le Monde. Kaïs Saïed habe Sozialpartner und Menschenrechtsorganisationen empfangen und er habe die mächtigen Gewerkschaftsbund UGTT auf seiner Seite. Geht es nach der Einschätzung der Libération, so sei noch nicht sicher, ob Tunesien durch die Entscheidung des Präsidenten einen vorübergehenden Rückschlag erhalten habe oder ob es sich um einen echten Schiffbruch handele.