Versuch über Velophobie

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Mehr als ein gewöhnlicher Interessenkonflikt: Der Klassenkampf ganz neuer Art zwischen der "Psychoklasse" der "gepanzerten Krustentiere" und den "Weichtieren"

Unter all diesen Fahrzeugen erlaubt nur das Fahrrad dem Menschen wirklich, von Tür zu Tür zu fahren, wann immer, und über den Weg, den er wählt. Der Radfahrer kann neue Ziele seiner Wahl erreichen, ohne dass sein Gefährt einen Raum zerstört, der besser dem Leben dienen könnte.

Ivan Illich

Neulich hörte ich Geschrei von der Straße her. Als ich auf den Balkon hinaustrat, sah ich einen jungen Mann mit langen Haaren auf seinem Rad, der einen Autofahrer beschimpfte, der mitten auf der Straße angehalten hatte, weil die Ampel rot war. "Lassen Sie Platz für Radfahrer, das ist eine Fahrradstraße, verdammte Scheiße", brüllte der junge Mann.

Meiner Meinung nach hatte er ausreichend Platz und das Auto behinderte ihn nicht sonderlich, jedenfalls nicht über Gebühr - wie eben alle Autos Fußgänger und Radfahrer behindern. Aber das ist ein anderes Thema. Es geht bei solchen Auseinandersetzungen um Revierkämpfe, um Abgrenzung, letztlich um Identität.

Zur Bekräftigung seines Protestes schlug der junge Mann mit der flachen Hand auf das Dach des Autos. Hätte der Falsche in diesem Auto gesessen, hätte die Szene durchaus das Potenzial für eine handfeste Auseinandersetzung gehabt. So aber ging es glimpflich aus. Das Schimpfen des erregten jungen Mannes war aber noch eine ganze Weile zu hören.

Im Verhältnis Autofahrer-Radfahrer ist ein erhebliches Ungleichgewicht vorhanden. Radfahrer sind eindeutig die Schwächeren und Schutzloseren. Einem Artikel von Edo Reents in der FAZ vom 14. Oktober 2020 entnehme ich: Während in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Verkehrstoten um 16 Prozent zurückging, stieg die Zahl der getöteten Radfahrer um die nämliche Quote. Fast 500 sind es jedes Jahr, hinzu kommen etwa 100.000 Verletzte.

Radfahrer, ob mit Helm oder ohne, sind im Verkehr eindeutig das schwächste Glied. Ihr Körper ist weder so geschützt wie im Auto, noch können sie so leicht die Richtung ändern oder anhalten wie Fußgänger. Wer in schlechter liberaler Manier beiden Seiten die Schuld gibt und auf die Gefährdung durch Radfahrer und deren Fehlverhalten verweist, dem sei mit den Worten von Edo Reents gesagt:

"Es kann nämlich einen Unterschied von Leben und Tod bedeuten, ob ein Auto- oder ob ein Radfahrer einen Fehler macht. Es ist … nicht bekannt, dass ein Fahrradfahrer schon einmal einen Autofahrer getötet hätte. Dabei bleibt es hoffentlich auch."

Fanatiker haben keinen Humor

Mir scheint, dass sich die Konfliktzone zwischen Rad- und Autofahrern erweitert und zuspitzt. Erbittert wird allerorten über Radwege, Radspuren und Fahrradstraßen gestritten. Fanatiker gibt es auf beiden Seiten, und Fanatiker haben keinen Humor und kennen keine Kompromisse. Die gereizte Stimmungslage hat natürlich etwas mit den anstehenden und dringend notwendigen Veränderungen im Straßenverkehr zu tun, die man unter dem Begriff "Verkehrswende" zusammenfasst.

Nicht jeder und jede ist davon begeistert. Manche verteidigen das Gewohnte und fürchten sich vor den fälligen Veränderungen. Die von den Rechten gestreute Behauptung: "Die Grünen wollen euch eure Autos wegnehmen!" hat hierzulande ungefähr die Wirkung wie sie in den USA die Trump'sche Behauptung hatte: "Die Demokraten werden euch eure Waffen wegnehmen!"

Wobei ja auch das Automobil durchaus eine Waffe sein kann. Was für einer Ideologie man anhängt, welche Philosophie man hat, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Damit sind nicht zufällige Merkmale des empirischen Charakters gemeint, sondern die Reflexions- und Erfahrungsfähigkeit der Subjekte, die auch ein Produkt ihrer Sozialisationsgeschichte ist. Demokratische Einstellungen und Haltungen wird man eher bei Menschen finden, die unter hinreichend guten Bedingungen aufgewachsen und mit sich befreundet sind.

Wer das Verschiedene in sich selbst akzeptiert, wird es auch draußen akzeptieren können. In Termini von Lloyd deMause könnte man bei der Auseinandersetzung zwischen Autofahrern und Radfahrern von einem Klassenkampf ganz neuer Art sprechen, dem Kampf zwischen der "Psychoklasse" der "gepanzerten Krustentiere", deren Vertreter von der Höhe ihrer SUVs auf die anderen herabblicken, und den "Weichtieren", die weitgehend ungeschützt auf ihren Rädern unterwegs sind.

Ein Kampf zwischen den autophilen, beharrenden Kräften und den auto-kritischen, manchmal auch auto-phoben, Kräften, die aus dem Zeitalter des motorisierten Individualverkehrs aussteigen wollen. Es geht dabei, wie der Begriff Psychoklasse bereits andeutet, um weit mehr als einen gewöhnlichen Interessenkonflikt.

Diametral entgegengesetzte Lebens- und Gesellschaftsentwürfe

Es sind diametral entgegengesetzte Lebens- und Gesellschaftsentwürfe, die hier aufeinanderprallen. Ich habe mehrfach erlebt, wie sich auf Seiten der Verteidiger des Autoverkehrs blanker Hass Bahn brach. Als würde durch die Radfahrerinnen und Radfahrer ihre Welt komplett in Frage gestellt. Das Fahrrad steht symbolisch für ein anderes, weicheres Leben.

Vor Jahren hatte ich mein altes Hollandrad an einer Brücke abgestellt und war zum Joggen aufgebrochen. Als ich zurückkam, war mein Rad verschwunden. Ich schaute mich in der näheren Umgebung um und fand es tatsächlich wieder. Jemand hatte es gepackt und eine Böschung hinunter in einen Bach geworfen. Damals fragte ich mich zum ersten Mal, was an einem Rad so viel Hass entbinden kann.

Meine damalige Deutung ging in die Richtung, dass dieses Rad für gewisse Jugendliche etwas Alternatives und Sanftes repräsentiert, was sie rigoros ablehnen. Es war ja kein aggressives Mountainbike, was sie vielleicht noch hätten durchgehen lassen, sondern ein sanftes Hollandrad mit einem geschwungenen Lenker und einem weichen Sattel. Seine bloße Anwesenheit und sein So-Sein kitzelte etwas hervor, das sie motivierte, so viel motorische Energie aufzuwenden, das Rad in den Bach zu schleudern.

Vielleicht ist diese Deutung etwas überspannt, aber das ging mir damals so durch den Kopf. Man muss sich ja einen Reim auf solche eigenartigen Attacken machen. Ein andermal schob ich mein Rad durch die Fußgängerzone. Am Lenker hingen meine Einkäufe. Da stieß ein Jeep zurück, der in der Fußgängerzone geparkt hatte. Das machen sie gern, die Jeep- und SUV-Fahrer. Der Fahrer hatte mich offenbar nicht gesehen und kam bedrohlich auf mich zugerollt.

Bevor er mich erfasste, schlug ich mit der flachen Hand gegen die Karosserie. Das war aus meiner Perspektive ein Akt der Notwehr, aus der Sicht des Autofahrers ein Angriff auf sein bestes Stück. Er sprang aus dem Wagen und dann kam er bedrohlich auf mich zu. Er wäre auf mich losgegangen, wenn nicht sein Beifahrer mäßigend auf ihn eingewirkt und ihn zurückgehalten hätte. Sonst wäre ich wahrscheinlich mit einem Kieferbruch im Krankenhaus gelandet.

"Gestatten, ich bin Ihr Trieb!"

Im Zentrum solcher Überreaktionen stößt man in der Regel auf mächtige Energieverschiebungen und affektive Fehlschlüsse, die zu einer Erregung am falschen Ort und gegen versetzte Objekte führen. Ich stand also wahrscheinlich für etwas anderes. Spielerisch-provokant hat eine Berliner Punkerin den Mechanismus entlarvt, um den es hier geht und der hier wirksam wurde. In den Anfangsjahren der Punk-Bewegung stieg sie mit ihrem schrillen Outfit und ihren bunten Haaren in ein Taxi ein. Der Fahrer, der noch nie etwas Ähnliches gesehen hatte, fragte verblüfft: "Wat bist‘n du für eene?" Sie antwortete: "Gestatten, ich bin Ihr Trieb!"

Eine befriedete und versöhnte Gesellschaft, die den sozialdarwinistischen Konkurrenzkampf überwunden und Freundlichkeit zum vorherrschenden Kommunikationsstil erhoben hätte, fände im Fahrrad das ihr gemäße "konviviale" Fortbewegungsmittel. Konvivial nannte Ivan Illich technische Hilfsmittel, die vernünftigen Wachstumsbeschränkungen unterliegen. Das Fahrrad ermöglicht eine aus eigener Kraft betriebene Mobilität, die darin zugleich ihre Begrenzung findet. Solange wir nicht in einer solchen Gesellschaft leben, sondern in einem nur notdürftig übertünchten Kriegszustand, werden wir mit Palliativen leben müssen, die den Wahnsinn hier und da ein wenig eindämmen.

Fahrradstraßen und Radwege erinnern an die staatlich geförderte Praxis von Landwirten, ihre mit Glyphosat besprühten Felder mit einem schmalen Streifen von Ringel- und Sonnenblumen zu umgeben.

Zur sozialpsychologischen Funktion des Automobils hat sich Götz Eisenberg unter dem Titel Lackierte Kampfhunde im Wiener Magazin Streifzüge ausführlich geäußert.

Im Onlinemagazin der GEW Ansbach erscheint regelmäßig seine Durchhalteprosa.