Ukrainer aus Donbass-Region sollen nach Russland übersiedeln

Straßenszene in Lugansk: Die Bewohner der "Volksrepubliken" sollen sich zur Ukraine bekennen oder das Land verlassen. Bild: Rosa-Luxemburg-Stiftung, CC-BY 2.0

Präsident Selenski fordert prorussische Bewohner zum Verlassen des Landes auf. Telepolis präsentiert zentrale Aussagen eines Interviews, über das im Westen nicht berichtet wird

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hat einen Teil der Bürger der östlichen Donbass-Region in seinem ersten Interview für den neuen ukrainischen Fernsehkanal "Dom" (Haus) zur Übersiedlung nach Russland aufgefordert. Der Fernsehkanal wurde geschaffen, um die Menschen in den angeblich von Russland "zeitweilig okkupierten Gebieten", enger an die Ukraine zu binden.

Das 45-minütigem russischsprachige Interview provozierte bei oppositionellen Ukrainern und Russen Empörung, denn der ukrainische Präsident bezeichnet in dem Interview die Bürger der Ukraine, "die Russland lieben", als "Gäste", die so bald wie möglich "nach Russland übersiedeln müssen".

Der russische Musik-Produzent Maxim Fadejew, der einer jüdischen Familie entstammt, fühlte sich bei den Worten von Selenski an den NS-Propagandaminister Joseph Goebbels erinnert.

Der Propaganda-Chef der Hitler-Diktatur habe in seinem Artikel Der Jude 1929 die Meinung vertreten, die Juden könnten "in deutschen Fragen nicht mitreden". Wer dem Judentum angehöre, sei "Ausländer, Volksfremder, der nur Gastrecht unter uns genießt".

Wenn man das Wort "Jude" mit "Russe" austausche, so Fadejew, erhalte man ein Zitat aus dem Interview mit Selenski.

Der ukrainische Präsident gab sein Interview in einem Studio des Fernsehkanals "Dom" in der Stadt Kramatorsk, direkt an der Grenze zur "Volksrepublik Donezk". Der im März 2020 gegründete Fernsehkanal sendet nach eigenen Angaben rund um die Uhr in russischer Sprache.

Seine Aufgabe sieht der Sender "Dom" darin, "die Bürger der zeitweilig okkupierten Gebiete zur Kultur, dem politischen und gesellschaftlichen Leben der Ukraine zurückzuführen".

2020 hatte der Kanal ein staatlich finanziertes Budget von umgerechnet acht Millionen Euro. Direktorin des Fernsehkanals ist Julia Ostrowskaja, die zuvor die Produktion des Komiker-Kollektivs "Kwartal 95" leitete, in dem Selenski Karriere machte.

Der Fernsehkanal "Dom" hat Ähnlichkeiten mit dem 1946 im amerikanischen Sektor von Berlin gegründeten Radiosender Rias Berlin und dem Deutschlandfunk, die im Kalten Krieg die Aufgabe hatten, die "Brüder und Schwerstern" in der DDR auf den "richtigen" westdeutschen Weg zu bringen.

Dieser Vergleich scheint weit hergeholt? Selenski selbst hat in dem Interview erklärt, die "Okkupation" des Donbass werden enden, wie der Fall der Berliner Mauer:

Der Donbass wird nie russischen Territorium. Wirklich niemals. Egal wie lange das Gebiet okkupiert wird. Das ist wie mit der Mauer in Deutschland. In jedem Fall werden die Menschen und die Geschichte einen Moment nutzen und die Mauer bricht.

Das Interview von Selenski mit den deutlichen Worten zu den Bürgern in der Ukraine, "die Russland lieben", kam nicht zufällig. Am 12. Juli hatte Wladimir Putin einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er Russen, Belarussen und Ukrainer zu "einem Volk" erklärte.

Selenski-Interview spielt in westlichen Medien keine Rolle

Putin legte damit erneut deutlich seinen Standpunkt zum Verhältnis von Russen und Ukrainern dar, offenbar nicht nur, um die Führer der westlichen Staaten von einer weiteren Ost-Ausdehnung der Nato abzuhalten, sondern auch, um die Menschen in der Ukraine, die ein gutes Verhältnis mit Russland befürworten, moralisch zu unterstützen.

Doch schauen wir uns genau an, was Selenski gesagt hat. Um Missverständnisse zu vermeiden habe ich die besonders umstrittenen Aussagen in dem Interview ins Deutsche übersetzt. Das ist notwendig, weil deutsche Medien über das Selenski-Interview bislang nicht berichtet haben.

Noch nicht einmal die ukrainische Präsidialverwaltung hat bisher eine Transkription des Interviews auf Englisch veröffentlicht.

Offenbar will man den scharfen Ton, den Selenski in dem Interview gegenüber prorussischen Bürgern angeschlagen hat, vor einer breiteren Öffentlichkeit in Westeuropa verbergen.

Das Interview beginnt harmlos. Die besonders brisanten Aussagen kommen erst ab Minute 41:10. Zu Beginn erinnert sich Selenski an seinen letzten Besuch in Donezk am 15. April 2014.

Damals trat er mit seinem Komiker-Kollektiv "Kwartal 95" im Zentrum von Donezk in dem neuen, zur Fußballeuropameisterschaft 2012 erbauten Fußballstadion, der "Donbass Arena", auf. Der Saal sei voll und die Stimmung gut gewesen.

Aber der ukrainische Präsident, der im März 2019 von den Ukrainern wegen seines Friedensversprechens gewählt wurde, erzählt weiter, dass er sich im April 2014 in Donezk "nicht wohl" gefühlt habe.

Er scheint sich an die politischen Rahmenbedingungen damals nur noch nebulös zu erinnern. Er habe nur gespürt, dass in Donezk "irgendetwas passiert". Aktivisten in Donezk hätten "Geld für Demonstrationen und Streiks bekommen", behauptet Selenski. "Sie wussten wohl nicht, dass es mit einer Okkupation endet".

Der ukrainische Präsident verschweigt in dem Interview, dass der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow bereits am 14. April Truppen zur Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegungen in Donezk und Lugansk auf den Weg geschickt hatte.

Mit dem Wort "Okkupation" ist gemeint, dass Russland 2014 angeblich einen Teil des Industriegebiets Donbass besetzt hat. Ich will nicht bestreiten, dass russische Freiwillige in den Truppen der "Volksrepubliken" kämpfen

Tatsache ist auch, dass Russland seit 2015 viel Geld für die Renten, Sozialleistungen und für die humanitäre Hilfe in den Volksrepubliken zahlt.

Doch Belege für die Behauptung, russische Truppen hätten den Donbass okkupiert, hat die Ukraine bis heute nicht vorgelegt. Es wurden keinen Namen russischer Kommandeure veröffentlicht, die angeblich im Donezk und Lugansk die Befehle geben. Und es gibt auch keine Fotos oder Videos von russischen Truppen oder Militärgerät in Donbass

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