"China hat hunderte Millionen aus Hunger, Elend und Armut geführt"

Parade zum 60. Jahrestag der Volksrepublik 2009. Bild: alxhe, CC BY-NC-SA 2.0

Der Jurist Jörg Lang über Chinas globale Rolle, Kritik an der Berichterstattung über die asiatische Großmacht und eine notwendige Neupositionierung gegenüber Beijing (Teil 2 und Schluss)

Nach einem Gespräch mit dem Sinologen Andreas Seifert setzt Telepolis das Doppelinterview zu China mit Jörg Lang fort.

Lang war lange Jahre Rechtsanwalt in politischen Strafsachen, im Ausländer- und Flüchtlingsrecht, vor allem für Mandant:innen aus dem Nahen und Mittleren Osten, sowie im Sozialleistungsrecht.

Zudem arbeitete er siebeneinhalb Jahre in der Auswärtigen Informationsabteilung der PLO in Beirut.

Herr Lang, wie nehmen Sie die Volksrepublik China wahr, also ihre Rolle in der Weltpolitik, bei der Frage von Menschenrechten, Teilhabe, Demokratie, Umwelt und Ökonomie?

Jörg Lang: Meine Bewertung der Rolle der Volksrepublik China bei der Neuordnung der Weltpolitik ist geprägt von meinen Erkenntnissen und auch persönlichen Erfahrungen, insbesondere im Nahen Osten.

Demnach befinden wir uns tatsächlich in einer für die Existenz und Zukunft der Menschheit entscheidenden Auseinandersetzung um die sogenannte Neuordnung der Welt: nämlich der zwischen dem Imperialismus, jetzt angeführt von den USA, und andererseits den weltweit wachsenden antiimperialistischen Kräften bzw. den Kräften für Frieden und das Überleben der Welt.

Dies wird in der Studie der Tübinger Informationsstelle Militarisierung von Andreas Seifert nicht hinreichend berücksichtigt.

"Imperialismus" ist nicht einfach das Machtstreben eines Staates oder Reiches. Ich verstehe unter Imperialismus vielmehr die systemimmanente aggressive ökonomische, politische und militärische Ausprägung des derzeitigen "westlichen" privat-kapitalistischen Systems.

Andreas Seifert merkte dazu im ersten Teil dieses Doppelinterviews an, China sei eingebettet in die kapitalistische Globalisierung - es sei "kein Zuschauer am Rande, der alles richtig macht".

Jörg Lang: Kennzeichnend für diesen Imperialismus ist für mich nach wie vor: die Aneignung aller Profite aus Produktion und Dienstleistungen letztlich im Interesse der heute höchstorganisierten privaten Produktions-, IT- und Finanzmonopole; dementsprechend eine grundsätzlich ebenso primär an deren privaten Interessen orientierte Steuerung aller privaten und gesellschaftlichen Investitionen, einschließlich der medialen Steuerung des Bewusstseins der Menschen.

Systemimmanent gehört auf globaler Ebene zu diesem Imperialismus auch die Tendenz, andere Länder und Regionen zu besetzen beziehungsweise politisch, ökonomisch und militärisch im Interesse der privatkapitalistischen Monopole zu dominieren und auszubeuten.

Die Folgen dieser weltweiten aggressiven Politik sind immer noch: Ausbeutung anderer Länder; Zerstörung oder Unterentwicklung der lokalen Produktivkräfte; Sanktionierung und Korrumpierung von nationalen Befreiungsbewegungen; alltägliche Ermordung zahlreicher Einzelpersonen bspw. auch durch Drohnenangriffe; brutale Regimewechsel; nachhaltige Zerstörung und Destabilisierung der betroffenen Staaten und ganzer Regionen, einschließlich ihrer Infrastruktur; wachsende Rüstungsexporte und Aufrüstung.

Die geschätzten Militärausgaben der Volksrepublik China sind von 2004 bis 2020 von 66,8 Milliarden US-Dollar auf 252,3 Milliarden US-Dollar angewachsen.

Jörg Lang: Aber meiner Auffassung nach wird die gegenwärtige Außen- und Sicherheitspolitik der VR China nicht von vergleichbar aggressiven politisch-ökonomischen imperialistischen Zwängen geprägt. Ich zähle sie zu einer wichtigen antiimperialistischen Kraft.

Wie bewerten Sie die allgemeine und innere Entwicklung des Landes?

Jörg Lang: Insgesamt hat die Volksrepublik in den vergangenen 70 Jahren eine fast unglaubliche umfassende Entwicklung der Produktivkräfte geschafft und hunderte Millionen Menschen aus Hunger, Elend und Armut geführt.

Glaubt man den chinesischen Vorgaben des 14. Fünfjahresplanes, so steht nunmehr der Entwicklung eines bescheidenen Wohlstands und einer qualitativ höherwertigen umweltfreundlichen Lebensweise des Menschen im Einklang mit der Natur und einem verstärkten Klimaschutz auf der Tagesordnung.

Jedenfalls in der Vergangenheit hat die KP China ihre Pläne, allen ständigen Unkenrufen zum Trotz, auch weitgehend umgesetzt

Die ökonomische Basis ist eine von der KP Chinas Partei selbst so definierte "Sozialistische Marktwirtschaft" bzw. ein von der Kommunistischen Partei gesteuerter Kapitalismus.

Grund und Boden sowie Bodenschätze in öffentlicher Hand

Inwieweit unterscheidet dieser Kapitalismus sich von unserem Wirtschaftssystem?

Jörg Lang: Charakteristisch dafür sind die Entwicklung unterschiedlichster Eigentums- und Unternehmensformen, teilweise auch in privater Hand. Die Schlüsselindustrien, der Kern des Bankenwesens, Grund und Boden sowie Bodenschätze liegen allerdings nach wie vor in öffentlicher Hand.

Die Verteilung von Konsumgütern und Dienstleistungen erfolgt im Wesentlichen über Markt- und Konkurrenzmechanismen, wobei Daseinsfürsorge, das Gesundheitswesen und die Alterssicherung in öffentlicher Hand liegen.

Insgesamt erfolgen die Aneignung der Profite und vor allem die Steuerung von gesellschaftswichtigen Investitionen immer noch unter der Kontrolle der öffentlichen Hand, also der Kommunistischen Partei.

Die Gesamtentwicklung erfolgt in einem rational nachvollziehbaren Gemeininteresses und dient trotz allen derzeit auftretenden starken Einkommens- und Vermögensunterschieden nicht nur den Privilegien einzelner oder privater Monopolinteressen, sondern den arbeitenden Menschen, der Gesamtbevölkerung und der Gesamtentwicklung des Landes.

Laut Andreas Seifert begreift die VR-Regierung konformes Verhalten als Voraussetzung seines Wohlwollens und Engagement.

Jörg Lang: Es gibt kein vergleichbares vom westlichen Kolonialismus ausgebeutetes und durch imperialistische Kriege verheertes Land, das in den vergangenen Jahrzehnten eine vergleichbare Entwicklung der Produktivkräfte und der gesamten Gesellschaft im Gemeininteresse geschafft hat, einschließlich der Existenzsicherung für alle, der Ordnungssicherung, der Stabilität und des Friedens.

Und das alles gerade nicht auf der Grundlage der Ausbeutung dritter Länder und direkter und indirekter Kriege gegen sie.

Mit welchem Begriff charakterisieren Sie das chinesische System?

Jörg Lang: Andreas Seifert beschreibt die Volksrepublik China als "Autokratie" im Gegensatz offenbar zu einer Demokratie, wobei er freilich nicht definiert, was die wesentlichen Elemente für eine lebendige Demokratie sind und auch nicht darauf eingeht, ob diese denn "bei uns" bzw. im auch von ihm so bezeichneten "Westen" noch vorhanden sind bzw. zunehmend abgebaut werden.

Die VR China definiert sich in ihrer Verfassung selbst janusköpfig als eine "Diktatur des Volkes". Ihr Demokratieverständnis richtet sich dabei eher danach, ob eine Herrschaft dem Volk dient, und weniger danach, welche formalen Rechte ein "Volk" bzw. bestimmte Angehörige eines Volkes haben.

Menschenrechte werden existenziell und kollektiv verstanden

Die Frage ist dann aber doch, welche Einflussmöglichkeiten die Menschen haben.

Jörg Lang: Nach meinen persönlichen Informationen aus China scheinen die sozialen und persönlichen Teilhabemöglichkeiten der Menschen, jedenfalls in ihren unmittelbaren Lebensbereichen und insbesondere auch bei der Arbeit und in den Betrieben, realer und stärker ausgeprägt als "bei uns", wo sie eher rückläufig sind.

Das Rechtsstaatswesen und die Rolle der Gerichte sind offenbar in den vergangenen Jahren ausgebaut worden. Es gibt eine aktive und passive Identifikation der Menschen mit der Kommunistischen Partei und deren inzwischen über 90 Millionen Mitgliedern, vor allem auf der örtlichen Ebene und über die Nachbarschaftskomitees. Dies hat sich insbesondere auch während der Pandemie gezeigt.

Richtig ist, dass - was "Systemfragen" anlangt bzw. die Herrschaft der KP China an sich - es keine Medienfreiheit gibt. Aber auch "bei uns" agieren die führenden privaten und öffentlichen Medien inzwischen zunehmend uniform, wenn es um die angebliche alternativlose Herrschaft des privatkapitalistischen Systems als solche und die Vorherrschaft dieses System in der Welt geht.

Und die Menschenrechte?

Jörg Lang: Im "Westen" wird bei Menschenrechten heute der Schwerpunkt auf individuelle Selbstverwirklichungsrechte gelegt. In der Praxis beschränken sie sich für die Mehrheit aber zunehmend auf Freiheiten beim Konsum, bei Events und Unterhaltung und in der privaten Lebensführung.

Nach dem Verständnis der Volksrepublik China - und ebenso der Menschen in den nach wie vor ausgeplünderten und verheerten Ländern der Welt - sind Menschenrechte dagegen mehr existenziell und kollektiv zu beziehen, also auf die Verwirklichung des Rechts auf Leben, Essen, Wasser, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Frieden.

Hier braucht sich die VR China nicht zu verstecken. Schon gar nicht im Vergleich etwa zu Ländern wie Indien, Indonesien Brasilien, Nigeria, Irak usw., die nach wie vor unter westlich-privatkapitalistischer Dominanz stehen.

Ihnen ist klar, dass Ihr Urteil dem hierzulande dominierenden China-Bild diametral entgegensteht?

Jörg Lang: Die seit Jahrzehnten ganz überwiegend negative Berichterstattung in den westlichen Medien erweist sich bei sorgfältigem Hinsehen als Teil einer zunehmend orchestrierten psychologischen Kriegsführung gegenüber der Volksrepublik China.

Dies gilt auch für die Dauerkampagne zu den angeblichen schweren Verletzungen von individuellen Menschenrechten in China. Das Ziel ist dabei aber, wie die Erfahrung lehrt, nicht die Verteidigung der Menschenrechte, sondern die versuchte Destabilisierung eines sogenannten Systemgegners und, wenn möglich, der Sturz der Herrschaft der KP China.

Auch an Sie die Frage: Wie bewerten Sie die Sicherheitspolitik? Oder, anders gefragt: Wer bedroht wen?

Jörg Lang: Andreas Seifert ist offenbar der Auffassung, dass auch die VR China mit ihrer "massiven Aufrüstung" in den vergangenen Jahren auf der weltpolitischen Ebene inzwischen eine den westlichen Militärbündnissen unter Führung der USA vergleichbare militaristische Macht darstelle.

Man kann aber Chinas Aufrüstung bzw. seinen "Militarismus" nicht bewerten ohne Bezug zu der eingangs geschilderten imperialistischen Weltpolitik des Westens seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Und vor allem kann man die historischen, quantitativen, qualitativen, strategischen und auch ökonomisch-politischen Unterschiede nicht einfach ausblenden.

Historisch hat nicht China als Kolonialmacht Europa oder Japan besetzt. Umgekehrt haben diese, darunter auch Deutschland, China über mehr als ein Jahrhundert hinweg ausgeplündert und mit Krieg überzogen.

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