Maryam H.: Femizid oder Ehrenmord?

Wo es normal ist, Frauen unsichtbar zu machen, werden Männer falsch sozialisiert. (Frauen in der Qalat / Afghanistan, 2011) Foto: U.S. Air Force photo/Staff Sgt. Brian Ferguson / CC0 1.0

Seit dem gewaltsamen Tod der afghanisch-stämmigen Berlinerin – mutmaßlich durch ihre Brüder – wird diese Frage kontrovers diskutiert. Dabei ist die Antwort ganz einfach: beides

Natürlich ist es nicht ehrenvoll, die eigene Schwester umzubringen. Wenn diese allerdings getötet wird, weil sie gegen den in der Ideenwelt ihrer Brüder gültigen "Ehren"-Kodex, sprich deren verquaste Sexualmoral, verstoßen hat, dann ist es aus deren Sicht "ehrenwert" und somit unerlässlich, um die "Ehre" der Familie wieder herzustellen. Also wurde Maryam H. Opfer eines Ehrenmordes. Da sie eine Frau war und keiner ihrer Brüder wegen Scheidung und einer neuen Beziehung ermordet worden wäre, wurde sie Opfer eines Femizids.

Der Unterschied ist im Grunde schnell erklärt: Ehrenmorde sind nicht nur in der betroffenen Familie akzeptiert, sondern in der gesamten Gesellschaft, oder zumindest in der Gesellschaft, in der die Täter sozialisiert wurden, sofern die Taten in westlichen Ländern stattfinden. Sie sind nicht nur akzeptiert, sondern es wird erwartet, dass die "Ehre" der Familie wieder hergestellt wird - auch durch Mord.

Opfer werden Frauen wie Maryam H., Hatun Sürücü oder Morsal Obeidi, die in Deutschland ein selbstbestimmtes Leben gegen den Willen ihrer Familien führten, aber auch Homosexuelle, Apostaten, männliche Familienangehörige, die zur Vollstreckung der Tat auserkoren wurden, dies verweigerten, oder sich beispielsweise durch Flucht zu entziehen versuchten, oder die neuen Partner der betreffenden Frauen. Laut einer Studie des Bundeskriminalamtes von 2011 war ein Drittel der Opfer von Ehrenmorden in Deutschland männlich. Aktuellere Erhebungen gibt es nicht.

Systemische Morde

Insofern sind Ehrenmorde systemische Morde im Gegensatz zu Morden in westlichen Rechtssystemen, die sich größtenteils im Mikrokosmos der Beteiligten abspielen. Mord ist in der westlichen Welt gesellschaftlich geächtet, Mörder handeln aus eigenem Antrieb, nicht weil der Stammes- oder Ältestenrat sich zusammensetzt und den Tod einer/eines Familienangehörigen beschließt. Mörder werden strafrechtlich verfolgt, juristisch belangt und verurteilt. Zumindest in aller Regel.

Femizide finden weitestgehend in diesem Mikrokosmos statt: Eine Frau wird ermordet, weil ein Mann Anspruch auf sie erhebt und darauf, sie kontrollieren und über sie bestimmen zu dürfen, und sie sich dem widersetzt, beispielsweise durch Trennung.

Bei dem Ausmaß an Femiziden in unserer Gesellschaft, der nicht existenten Empörung darüber und der häufig recht moderaten Bestrafung der Täter, drängt sich allerdings die Frage auf, ob wir uns als Gesellschaft nicht auch in Richtung "Ehrenmord" bewegen. Wenn auch nicht als gesellschaftlich positiv sanktioniertes Mittel zur Räson renitenter (Ehe-)Frauen, so doch als gesellschaftlich akzeptiertes Ereignis. Nach dem Motto: Ein bisschen Schwund gibt es immer - auch bei (Ehe-)Frauen. Allerdings haben Femizide, die zunehmend in aller Öffentlichkeit stattfinden und wahllos Frauen treffen, wie beispielsweise in Würzburg Ende Juni 2021, auch einen "erzieherischen" Charakter und führen dazu, dass Frauen die Öffentlichkeit meiden oder sich zumindest nicht den Teil des öffentlichen Raums nehmen, der ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht.

Auch in Europa sind klassische Ehrenmorde bekannt: Vendetta, die Blutrache der italienischen Mafia, nach dem Motto Auge um Auge, Zahn um Zahn, die auf gegnerische Clans oder Abtrünnige abzielt. Das ist allerdings eine sehr spezielle Form des Mords und lässt sich klar eingrenzen.

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