"Leute verhört, weil sie meinen Status auf Facebook geteilt haben"

Anatoli Schari. Bild: privat

Der ukrainische Video-Blogger Anatoli Schari über ein Verfahren wegen Landesverrats, eine drohenden Auslieferung und Morddrohungen ukrainischer Rechtsradikaler

Anatoli Schari ist einer der populärsten Video-Blogger unter russischsprachigen Ukrainern. Er lebt seit 2012 als anerkannter politischer Flüchtling in der EU, in den vergangenen Jahren im spanischen Katalonien. Im Jahr zuvor war er nach einer Anklage wegen Recherchen zum Drogenhandel in der Ukraine nach Litauen geflohen.

In seinem Video-Kanal behandelt Schari brisante Themen. Der Blogger kritisierte den Ex-Präsidenten Petro Poroschenko (2014-2019) und den amtierenden Staatschef Wolodimir Selenski nicht nur scharf, er macht sich über Politiker auch offen lustig. Damit trifft er offenbar einen Nerv: Der Youtube-Kanal des Bloggers hat 2,4 Millionen Abonnenten.

Doch wie lange Schari noch als Blogger tätig sein kann, ist unklar. Die regierungsnahe Tageszeitung Ukrainskaja Prawda berichtete am 31. Mai, dass Litauen, dessen Behörden Schari 2012 den Flüchtlingsstatus zuerkannt haben, dieses Status jetzt zurückgezogen und Schari zur unerwünschten Person erklärt haben.

Die ukrainische Regierung setzt alle Hebel in Bewegung, um des Bloggers habhaft zu werden. Am 17. Februar hat der ukrainische Geheimdienst SBU Schari wegen Landesverrats angezeigt. Das Kiewer Petscherski-Gericht, das den Fall verhandelt, forderte den Blogger auf, zu einer Sitzung des Gerichts am 5. März aus Katalonien anzureisen. Schari kam dieser Aufforderung nicht nach. Die ukrainischen Justizbehörden schrieben ihn daraufhin zur Fahndung aus.

Schari ist seit 2019 auch Vorsitzender der von ihm initiierten gleichnamigen Partei.

Das ukrainische Justizministerium verlangte von Ihnen bereits im Februar und März, nach Kiew zu kommen, um an Gerichtsverhandlungen teilzunehmen, bei denen die Anklage des Landesverrats verhandelt wurde. Warum sind sie dieser Aufforderung nicht gefolgt?

Anatoli Schari: Tatsächlich waren das Justizministerium, der Sicherheitsdienst der Ukraine und alle ukrainischen Behörden erpicht darauf, mich in der Ukraine zu sehen. Ich musste mich vor Gericht aufgrund einer Anklage wegen Hochverrates verantworten. Und das, obwohl ich nie ein Beamter war, nie Zugang zu Staatsgeheimnissen hatte, nie feindliche Truppen mit Waffen in die Ukraine geführt oder ähnliches begangen habe.

Ich werde des Hochverrates beschuldigt insbesondere für das Propagieren der Mehrsprachigkeit. Meiner Meinung nach ist das im 21. Jahrhundert ein dringendes Thema.

Zudem habe ich die Mitarbeiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes als "dumme Schweine" bezeichnet, was ich keineswegs bereue. Diese Tat zählt bereits als Hochverrat.

Ich habe die Außenpolitik der Ukraine angezweifelt - auch das ist Hochverrat. Das wäre alles verständlich gewesen, würden wir uns zum Beispiel im Jahre 1937 in meiner Heimat befinden. Aber heute …

Ich konnte also nicht in Kiew erscheinen. Als ob sie nicht wüssten, dass ich wegen der Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahre 1951 kein Recht habe, aufgrund meines Flüchtlingsstatus die ukrainische Grenze zu überschreiten.

Wie viele Gerichtsverhandlungen hat es bisher gegeben?

Anatoli Schari: Tatsache ist, dass es keine einzige Gerichtsverhandlung wegen Hochverrates gegeben hat. Weshalb? Weil sie keine gerichtsfesten Beweise haben. Ich habe zwar zu Beginn gesagt, dass sie mich zum Prozess geladen haben, aber dabei ging es um meine "Partei Schari".

Sie haben beschlossen, meine Partei zu verbieten. Da ich des Hochverrates beschuldigt werde, ist das ein ausreichender Grund für sie, meine Partei zu schließen.

In diesem Kontext möchte ich auf den Fall von Julia Timoschenko zu sprechen kommen. Sie wurde verurteilt und saß ihre Haftstrafe ab. (Der ehemalige Präsident Wiktor) Janukowitsch (2010-2014) hat ihre Partei nicht verboten. Es ist noch nie jemandem in den Sinn gekommen, eine Partei zu schließen, weil eine Person etwas Umstrittenes gesagt hat.

Man kann einen Menschen nicht zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilen, nur weil er Beamte des ukrainischen Sicherheitsdienstes "dumme Schweine" genannt hat.

Man kann auch niemanden zu 15 Jahren Haft verurteilen, weil er dafür eintritt, dass man Ukrainisch und Russisch sprechen darf. Deshalb gehen sie mit diesen Vorwürfen auch nicht vor Gericht. Sie wissen, dass diese Argumente von einem Gericht nicht anerkannt würden, selbst von einem ukrainischen Gericht nicht.

Welche Möglichkeiten haben die ukrainischen Behörden, Sie nach Kiew zu holen, wenn nicht über Interpol? Offenbar steht Ihr Status als politischer Flüchtling, den sie 2012 von Litauen erhielten, zur Disposition. Ist das eine ernste Bedrohung?

Anatoli Schari: Das geht auf ein Treffen von (dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir) Selenski mit dem litauischen Präsidenten (Gitanas Nausėda) zurück. Dabei hat niemand das Recht, über den Flüchtlingsstatus einer Person zu sprechen.

Einige Personen in Litauen danach haben Informationen an die ukrainischen Medien weitergegeben. Das ist eine strafbare Handlung. Denn Informationen über Flüchtlinge sind schützenswert.

Dennoch haben der Präsident von Litauen und Selenski wegen ihrer Freundschaft entschieden, bestimmte Information zu teilen. Nein, mir wurde der Flüchtlingsstatus nicht aberkannt, denn nach dem Gesetz kann darüber nur ein Gericht entscheiden.

Aber solche Versuche finden des Öfteren statt. In meinem Fall wurde aus Freundschaft heraus beschlossen, die Genfer Konvention und alle Gesetze dieser Welt zu ignorieren. Man hat versucht, mir die Aufenthaltsgenehmigung für Litauen zu entziehen, weil ich angeblich sechs Jahre nicht dort gelebt habe.

Erzwungene "Ukrainisierung"

In Ihrem Kanal sprechen Sie unter anderem das neue Sprachengesetz in der Ukraine an, das den Gebrauch von Ukrainisch im öffentlichen Raum vorschreibt. Sie haben Kritiker des Sprachengesetzes aus Odessa und Mariupol zu Wort kommen lassen. Was genau kritisieren die Menschen und wie ist das Meinungsbild im Land?

Anatoli Schari: Mein Kanal ist in der Ukraine der bekannteste für russischsprachige Ukrainer. Das ist ein wichtiger Punkt. Die russischsprachigen Ukrainer sind keine Minderheit. Es wird immer gesagt, sie seien die Minderheit. Dabei sind sie Ukrainer wie alle anderen auch, sie reden eben nur Russisch.

Als ich geboren wurde, sprachen meine Eltern Russisch, auch meine Großmutter und meine Urgroßmutter, die noch beim Aufbau von Kiew geholfen haben. Heute habe ich Dokumente, alte Dokumente, über meinen Großvater. Er schrieb Briefe auf Russisch. Es ist also meine Muttersprache, aber ich bin trotzdem auch ein Ukrainer.

In der Tat ist die erzwungene "Ukrainisierung" für alle sehr ärgerlich. Eine lange Zeit lang haben wir, mit "wir" meine ich die russischsprachigen Ukrainer, versucht, uns anzupassen.

In der Sowjetunion habe ich nicht erlebt, dass in Kiew die ukrainische Sprache unterdrückt wurde. Alle Bezeichnungen der Geschäfte waren in der ukrainischen Sprache geschrieben. Friseur, Bäcker, alles war auf Ukrainisch. Das war in meiner Kindheit während der Sowjetunion. Es gibt Fotos, die zeigen mich als kleinen Jungen im Kindergarten in einer ukrainischen Nationaltracht.

Dann fing der Zwang an. Und sobald mir jemand sagt, dass ich etwas machen muss, wehre ich mich sofort dagegen. Viele Menschen - und das sind hochintellektuelle Menschen - fordern mich auf einmal auf, Ukrainisch zu sprechen.

Ich habe viele ukrainischsprachige Freunde, die mit mir arbeiten. Es gibt aber auch Menschen in meiner Partei, die nicht ukrainischsprachig sind. Diese unterschiedlichen Menschen reden mit mir auf Ukrainisch, Russisch oder einer anderen Sprache.

Ich kann mit Fug und Recht sagen, dass die russischsprachigen Ukrainer mit der erzwungenen Ukrainisierung unzufrieden sind. Wenn eine Zeitung mit einer Auflage in russischer und einer Auflage in ukrainischer Sprache erscheint, so findet die russische Version gemeinhin stärkeren Absatz.

Ich sehe die russische Sprache nicht als Bedrohung für die nationale Sicherheit der Ukraine wie der Leiter des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates. Er fordert, dass wir Ukrainisch und Englisch sprechen sollen. Ich weiß, dass er zu Hause mit seiner Familie Russisch spricht.

Jeden Tag verfolge ich die Nachrichten: Ein Mann wurde entlassen, weil er seine Meinung über die ukrainische Sprache gesagt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man in Italien einen Italiener entlassen würde, nur weil er sagt "Ich mag die italienische Sprache nicht". Oder ein Deutscher sagt "Ich mag die deutsche Sprache nicht". Wird er daraufhin gefeuert? Vergiftet? Auf der Straße zusammengeschlagen? In der Ukraine ist das die Realität.

Im Jahr 2015 haben Sie auf Ihrem Kanal ein Interview mit einem Freiwilligen aus Moskau veröffentlicht, der in Donezk und Lugansk auf der Seite der Separatisten kämpfte. Dieser Mann sagte, er habe bemerkt, dass die ukrainischen Soldaten überhaupt nicht wissen, wofür sie kämpfen. Diese Aussage wird im Gerichtsverfahren gegen Sie verwendet, weil sie angeblich die Moral der ukrainischen Armee untergräbt.

Anatoli Schari: Es ist von einem Anfangsverdacht die Rede. Tatsächlich hat mir der Sicherheitsdienst der Ukraine die Worte dieses Freiwilligen zur Last gelegt. Ich konnte diese Aussage zulassen oder sie verhindern, da ich der Interviewer war. Was hätte ich machen sollen?

Ich habe mir damals die Interview-Richtlinien der BBC angesehen. In denen steht ausdrücklich, dass man nicht versuchen sollte seinem Publikum zu gefallen, sondern man soll versuchen, der gegenübersitzenden Person zu ermöglichen, ihre Meinung frei zu äußern. Der Freiwillige aus Moskau hatte die Möglichkeit bekommen, seine Meinung zu äußern.

Jetzt wirft mir der Sicherheitsdienst der Ukraine vor, dass ich diese Meinung nicht bearbeitet, sondern ungeschnitten veröffentlicht habe.

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